# taz.de -- 6. Jahrestag des Halle-Anschlags: „Deutschland hat uns im Stich gelassen“
> Unsere Autorin überlebte vor sechs Jahren den rechten Terroranschlag in
> Halle. Die deutschen Behörden nähmen sie und andere Betroffene nicht
> ernst.
(IMG) Bild: Christina Feist bei einer Mahnwache vor dem OLG Naumburg vor der Urteilsverkündung für den Halle-Attentäter im Dezember 2020
Wer Heilung sucht, braucht Stabilität. Wer erfolgreich Therapie machen
will, braucht finanzielle Sicherheit. Die staatlichen Stellen und Behörden
gaben mir nichts davon. Ich bin eine der Überlebenden des antisemitischen
und rassistischen Anschlags in Halle und Wiedersdorf am 9. Oktober 2019.
Die Jahre danach waren für mich (re)traumatisierend, erniedrigend und
entwürdigend. [1][Und damit bin ich nicht allein.]
Einige Wochen nach dem Attentat, als das öffentliche Interesse für die
Überlebenden bereits abgeebbt war, erhielt ich einen Standardbrief der
Polizei Halle (Saale). Beigelegt war eine Broschüre der Opferhilfestelle
Weißer Ring. Frisch traumatisiert fehlte mir jedoch die Kraft, mich selbst
an die Opferhilfe zu wenden und Anträge auszufüllen.
Kurz nach Jom Kippur 5780 (nach dem jüdischen Kalender, d. Red.) kehrte ich
zudem nach Paris zurück, wo ich an meiner Doktorarbeit arbeitete. Dort
suchte ich mir eine Therapeutin, um nicht an den Symptomen der akuten
posttraumatischen Belastungsstörung zu zerbrechen. Ich wollte ins Leben
zurückfinden, nicht im Trauma versinken. Erst einmal auf eigene Kosten.
Für die Rückerstattung der sogenannten Heil- und Behandlungskosten nach
einem Anschlag ist das jeweilige Landesamt für Gesundheit und Soziales
(LaGeSo) zuständig, bei mir das LaGeSo Berlin. Meinen Antrag stellte ich
ein Jahr nach dem Attentat, kurz vor dem 9. Oktober 2020, mitten im Prozess
gegen den Täter. Die Mobile Opferberatung Halle (Saale) (MOB) half mir
dabei. Allein hätte ich die Flut an Formularen und Dokumenten nicht
bewältigt.
Nach der Antragstellung hörte ich ein Jahr lang nichts vom LaGeSo Berlin.
In dieser Zeit musste ich die Kosten meiner Traumatherapie selbst tragen –
eine erhebliche finanzielle Belastung. Doch ohne Therapie ging es nicht
weiter. Ich war – und bin – auf die Unterstützung meiner Therapeutin
angewiesen.
## Der Arzt sagte: Ich solle einfach mal nach draußen gehen
Ende 2021 kam ein Brief vom LaGeSo: eine Vorladung zur Begutachtung beim
Amtsarzt in Berlin. Trotz Pandemie, trotz der Unbestreitbarkeit meines
Traumas und trotz eines Gutachtens meiner Therapeutin. Die Reisekosten für
den Termin im Mai 2022 musste ich selbst tragen.
Die Begutachtung dauerte fünf Stunden – ohne Pause, ohne Wasser, ohne
Essen. Der Amtsarzt begann damit, mir ungefragt seine Einschätzung der
Psyche des Täters mitzuteilen, den er nie getroffen hatte. Danach stellte
er mir einige Fragen zu meinen Symptomen, kritisierte die
Behandlungsmethoden meiner Therapeutin, empfahl mir Psychopharmaka –
inklusive Namen des Präparats und Dosierung – und belehrte mich, Sport sei
die beste Medizin gegen Depressionen. Ich solle einfach mal nach draußen
gehen.
Dann schilderte er mir die traumatischen Erlebnisse anderer Menschen, die
er begutachtet hatte, und ließ dabei keine Details aus. Blutige
Mordversuche, Vergewaltigungen – seine Erzählungen lösten in mir neue
Schreckensbilder aus, die sich mit den Erinnerungen an den Anschlag
vermischten. In mir schrie alles. Aber es gab keinen Ausweg. Finanziell
konnte ich es mir einfach nicht leisten, diesen Arzt in die Schranken zu
weisen und damit die Rückerstattung meiner Therapiekosten zu riskieren.
Also schwieg ich und blieb sitzen.
Die Begutachtung am LaGeSo hinterließ deutliche Spuren. Zurück in meiner
Pariser Wohnung wachte ich am nächsten Tag mit starken Rückenschmerzen auf.
Mein Ischiasnerv war eingeklemmt, der Schmerz strahlte über meine gesamte
linke Körperhälfte von der Zehe bis in den Nacken. Es dauerte Monate, bis
ich mich dank Akupunktur und Physiotherapie wieder halbwegs schmerzfrei
bewegen konnte. Die Mehrkosten für diese Behandlung musste ich selbst
tragen.
## Rückerstattung nach 26 Monaten Bearbeitungszeit
Als das Gutachten des Amtsarztes einige Monate später da war, wies es
deutliche inhaltliche Fehler auf. Doch ich konnte mir keine weiteren
Verzögerungen leisten. Nach zwei Jahren, in denen ich die Therapiekosten
selbst getragen hatte, war ich auf eine schnelle Rückerstattung angewiesen.
Also ließ ich das Gutachten unangefochten. Die tatsächliche Rückerstattung
der beantragten Behandlungskosten erfolgte im Dezember 2022, nach einer
Bearbeitungszeit von insgesamt 26 Monaten.
Im Februar 2023 musste ich einen neuen Antrag auf Rückerstattung der
weiteren Behandlungskosten stellen, obwohl sich weder am Behandlungsgrund
(Attentat) noch am Therapiebedarf (fortlaufend) etwas geändert hatte.
Diesmal lag die Bearbeitungszeit bei insgesamt 9 Monaten und erforderte
erneut monatelanges Hinterhertelefonieren seitens der Mobilen Beratung.
Nach sieben Monaten hatte der ärztliche Dienst meinen Antrag noch nicht
einmal gesichtet. Der Referatsleiter argumentierte, ich hätte meine
Therapie ohne die neue Bewilligung nicht fortsetzen dürfen. Tatsächlich
hätte ich, ginge es nach dem LaGeSo, meine Therapie überhaupt erst nach der
ersten Bewilligung beginnen dürfen – also drei Jahre nach dem Attentat.
Das LaGeSo teilte mir dann schließlich mit, dass meine Therapiekosten nur
noch bis Ende 2023 erstattet würden – und auch nur ein Bruchteil der
tatsächlichen Kosten. Der ärztliche Dienst hatte eine Therapie über dieses
Maß hinaus „hinsichtlich der Behandlung der Schädigungsfolgen“ für „nicht
sinnvoll“ befunden.
Nach dieser finalen Ablehnung stellte ich Anfang November 2024 einen Antrag
auf Entschädigung beim Opferhilfefonds Sachsen-Anhalt, der einen Monat
zuvor endlich eingerichtet worden war und eine rückwirkende Antragstellung
bis zum 1. Oktober 2019 ermöglichen sollte.
Fünf Jahre nach dem Anschlag schien das Land bereit, zumindest ein
Mindestmaß an Verantwortung zu übernehmen. Im März 2025 wurde mir ein
Drittel der bei „schweren Körper- und Gesundheitsschäden mit langfristigen
oder dauerhaften Folgen“ vorgesehenen Pauschalzahlung zugesprochen. Das
sind 1.000 Euro.
## Koschere Verpflegung war erst nicht erlaubt
Um uns, die Überlebenden, müsse man sich nicht kümmern – dieses Gefühl
wurde mir immer wieder vermittelt, auch während des Prozesses gegen den
Täter. Dass wir Nebenkläger*innen beim Gerichtsprozess unsere eigene,
koschere Verpflegung mitbringen durften, mussten wir erst durchsetzen.
Das zuständige Ministerium hielt [2][İsmet Tekin und seinen Bruder, die
Besitzer des ehemaligen Kiez-Döners], monatelang mit Versprechen auf
finanzielle Unterstützung hin. Die beiden hatten nicht nur mit dem Trauma
des Attentats zu kämpfen, sondern auch ihren Arbeitsplatz verloren. Am Ende
initiierte ich zusammen mit der Jüdischen Studierendenunion einen
Fundraiser, es kamen über 20.000 Euro zusammen.
All das ist symptomatisch. Immer wieder wurden wir unterstützt, aber nicht
vom System, sondern von unseren Anwält*innen, der Mobilen Opferberatung
Halle (Saale) und Freiwilligen – und zwar bis weit über den Prozess hinaus.
Dass es kurz nach Prozessbeginn eine eigens berufene Opferbeauftragte des
Landes Sachsen-Anhalt gab, die laut Website für „Betroffene und deren
Angehörige in Fällen von Terrorismus“ zuständig ist, habe ich erst nach
Prozessende erfahren.
Im vergangenen Winter, nach über fünf Jahren Anstrengung, Erniedrigung,
Entwürdigung und finanzieller Existenznot infolge des Attentats und des
Umgangs deutscher Behörden mit mir als Überlebender, wurde es um mich herum
schließlich so dunkel, dass ich über Monate hinweg mit Suizidgedanken
kämpfte. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt noch weiter machen kann.
Ich bin nicht allein mit der Erfahrung, von den Behörden allein gelassen zu
werden. In Gesprächen mit Überlebenden anderer rechtsterroristischer
Attentate, wie dem Oktoberfestattentat 1980, dem Attentat auf das
[3][Olympia-Einkaufszentrum (OEZ) in München 2016] oder des Anschlags in
Hanau 2020, erfuhr ich, dass Betroffene rechter Gewalt bereits seit
Jahrzehnten Ähnliches durchmachen. Und das nicht nur in Berlin, sondern in
ganz Deutschland.
Immer wieder werden Betroffene (re)traumatisiert, zu Bittsteller*innen
degradiert und hingehalten. Damit stellen sich die Behörden einer
effizienten, effektiven und erfolgreichen Behandlung nicht nur aktiv
entgegen, sondern machen den Behandlungs- und Therapiebedarf von
Überlebenden rechten Terrors durch diese Zusatzbelastungen sogar noch
größer – ohne die dabei anfallenden Mehrkosten zu übernehmen.
Auch der Amtsarzt des LaGeSo fügt sich in dieses Muster. Er arbeitet dort
wohl nicht mehr, Beschwerden gab es offenbar mehrere. Eine formelle
Entschuldigung oder gar Entschädigung für den Schaden, den er verursacht
hat, fehlt allerdings bis heute.
Dieser Unwille staatlicher Stellen, Verantwortung für das eigene Versagen
zu übernehmen, sich auf Betroffene einzulassen, uns die Deutungshoheit über
unser Trauma zu überlassen und uns das Recht auf Heilung zuzugestehen, sind
Kontinuitäten, die Jahrzehnte zurück reichen. Wir sind Betroffene,
Überlebende und Hinterbliebene rechten Terrors. Und Deutschland hat uns im
Stich gelassen.
9 Oct 2025
## LINKS
(DIR) [1] /5-Jahre-nach-Attentat/!6038461
(DIR) [2] /Fuenf-Jahre-nach-dem-Anschlag-in-Halle/!6038335
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## AUTOREN
(DIR) Christina Feist
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