# taz.de -- Buch über Leben am Rand der Gesellschaft: Armut als System und Schicksal
       
       > So viel über Arme gesprochen wird, so wenig sprechen sie selbst. In
       > seinem Buch „Leben ganz unten“ lässt Christopher Wimmer jedoch
       > marginalisierte Menschen selbst zu Wort kommen.
       
 (IMG) Bild: Frühstückstisch in einer Suppenküche
       
       Friedrich Merz sagte im März 2025: „Die Zeiten des Paradieses sind vorbei“,
       und meinte damit, dass er den Sozialstaat weiter entkernen wolle. Dies geht
       einher mit einer massiven Preissteigerung, Kinderarmut und Obdachlosigkeit
       nehmen stark zu. Inzwischen ist jede*r fünfte Deutsche von Armut
       betroffen.
       
       So viel über Arme gesprochen wird, so wenig sprechen sie selbst.
       Christopher Wimmer hat sich der verdienstvollen Aufgabe gewidmet, das zu
       ergründen: In „Leben ganz unten“ versucht er, Perspektiven vom Rand der
       Gesellschaft einzuholen.
       
       Wimmer spricht nicht von „Armen“, sondern von Marginalisierten. Damit will
       er verdeutlichen, dass Armut ein System ist, das Menschen von
       [1][gesellschaftlicher Teilhabe] ausschließt. Marginalisierung umfasst
       nicht nur einen faktischen Mangel an Geld, sondern auch das dazugehörige
       Stigma, das sich in diversen Lebensbereichen zeigt. Das Buch folgt dabei
       dem Konzept Martin Kronauers, das in Armut nicht nur den Ausschluss vom
       Arbeitsmarkt erkennt, sondern auch Aspekte mit in Betracht zieht, die sich
       auf den Körper und auf soziale Räume beziehen. Wimmer umkreist diese
       Bereiche und kontextualisiert sie durch Interviews, die er mit gut zwei
       Dutzend Betroffenen geführt hat. Es geht um Geld, Wohnen und
       Erwerbslosigkeit, aber auch um Biografisches, um psychische und physische
       Gesundheit und Einsamkeit.
       
       Wimmers Protagonist*innen sind aus sehr unterschiedlichen Gründen in
       eine ähnliche Lage gekommen. Es liegt ihm fern, konkrete Lebenswege
       nachzuzeichnen, wie es üblicherweise in Geschichten über [2][Armut]
       geschieht; es geht ihm darum, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und ihnen
       einen soziologischen Rahmen zu geben. Eine der großen Stärken des Buches
       ist, dass es Wimmer gelingt, trotz der wissenschaftlichen Grundierung des
       Textes die Lebenswirklichkeiten seiner Gesprächspartner*innen sehr
       anschaulich zu machen.
       
       Interessant sind auch die kurzen Einschübe, etwa zum Thema [3][Resilienz].
       Das Wort hat in jüngster Zeit große Verbreitung gefunden und wird oft mit
       Empowerment gleichgesetzt. Wimmer aber macht klar, dass bei seinen
       Gesprächspartner*innen Resilienz nicht durch gute soziale Bedingungen
       entsteht, sondern aus Verhärtungen. „Somit ist Resilienz“, schreibt er,
       „die Inkorporierung des Unausweichlichen, das mit der Klassenposition
       einhergeht. Diese Fähigkeit, aus der Not eine Tugend zu machen, kann zu
       positiven Ergebnissen führen, hat aber ihre Grenzen darin, auf die soziale
       Lage lediglich reagieren zu können.“
       
       Einer der vielen Eindrücke, die dieses Buch hinterlässt, ist die umfassende
       Einsamkeit, die mit Armut einhergeht. Armut, könnte man sagen, ist sehr
       wohl ein Schicksal, da sie die Menschen auf unterschiedlichsten Wegen
       zurichtet: Es ist ein Schicksal, das die Gesellschaft dem Einzelnen
       auferlegt. Der ganze Zynismus der Merz’schen Tiraden tritt im Kontrast
       ungeschminkt hervor.
       
       27 Sep 2025
       
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