# taz.de -- 10 Jahre Fluchtsommer: Was haben wir geschafft?
       
       > Seit 2015 ist das Thema Migration allgegenwärtig. Ein Zeitstrahl zu den
       > prägenden gesellschaftlichen und politischen Ereignissen.
       
 (IMG) Bild: In den ersten Monaten des Jahres 2015 steigt die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, rasant
       
       Zehn Jahre ist es her, dass Angela Merkel erklärt hat: „Wir schaffen das“.
       Wie vor zehn Jahren beschäftigen uns die Ankunft und Integration von
       Kriegsflüchtlingen, die brutale Abschottung im Mittelmeer, der Aufstieg der
       AfD und rechter Terror. Ein Zeitstrahl zu den prägenden Ereignissen um den
       „Sommer der Migration“ 2015.
       
       Januar 2015 
       
       Schon im Vorjahr ist die Zahl der Geflüchteten, die nach Europa kommen,
       deutlich gestiegen. Jetzt werden es noch mehr. Viele flohen vor dem
       Bürgerkrieg in Syrien oder der Gewalt der Taliban in Afghanistan, aber auch
       aus afrikanischen Ländern kommen manche. Oft sind sie bereits seit Jahren
       unterwegs, fanden zwischenzeitlich prekären Schutz in Ländern wie der
       Türkei.
       
       April 2015 
       
       In der Nacht vom 18. April kentert bei einer Rettungsaktion ein
       Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste. Nur 28 der rund 800 Menschen an
       Bord überleben. Es ist eine der schlimmsten Katastrophen auf dem Mittelmeer
       bis dahin.
       
       Mai 2015 
       
       Am 19. Mai gründen Aktivist*innen den Verein Sea-Watch. Sie beschreiben
       sich als Menschen „die dem politisch kalkulierten Sterbenlassen im
       Mittelmeer nicht länger tatenlos zusehen konnten“.
       
       August 2015 
       
       Immer mehr Geflüchtete kommen über den Balkan und Österreich nach
       Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nennt die Aufnahme der
       Geflüchteten eine „große nationale Aufgabe“ und versichert: „Wir schaffen
       das“.
       
       August 2015 
       
       Deutschland setzt am 25. August das Dublin-Verfahren für Syrer*innen
       aus, weil die Abschiebungen ohnehin kaum funktionieren. Syrer*innen
       werden nicht mehr in das Land zurückgeschickt, in dem sie zuerst EU-Boden
       betreten haben. Stattdessen übernimmt Deutschland ihre Asylverfahren. Damit
       wird das Land zunehmend zum Hauptziel für flüchtende Syrer*innen.
       
       September 2015 
       
       Am 2. September wird der Leichnam des [1][zweijährigen Alan Kurdi an die
       türkische Mittelmeerküste] nahe Bodrum geschwemmt. Das Bild von ihm geht um
       die Welt und wird zum traurigen Symbol für die tödliche Abschottungspolitik
       der Europäischen Union. Auch seine Mutter und sein Bruder sterben bei dem
       Versuch, auf dem Seeweg in die EU zu kommen.
       
       September 2015 
       
       Auf der Balkanroute stranden immer mehr Geflüchtete in Ungarn. Am 4.
       September entscheiden Deutschland und Österreich, zehntausende von ihnen
       aufzunehmen. Fotos von langen Kolonnen Geflüchteter gehen um die Welt.
       Aktivist*innen bringen Schutzsuchende über die Grenze. An den Bahnhöfen
       wird geklatscht. Der Begriff „Willkommenskultur“ etabliert sich für die
       anhaltende Atmosphäre der Hilfsbereitschaft. Aber die Behörden sind
       zunehmend überfordert.
       
       September 2015 
       
       Bundesinnenminister Thomas de Maizière führt am 13. September
       Grenzkontrollen an der Grenze zu Österreich ein. Eine Anordnung,
       Geflüchtete entgegen dem Europarecht zurückzuweisen gibt er aber nicht.
       Konservative und Rechte beklagen dies als angebliche Grenzöffnung. Faktisch
       ist es aber nur die Entscheidung gegen eine illegale Grenzschließung.
       
       Oktober 2015 
       
       Der Bundestag beschließt am 15. Oktober ein „Maßnahmenpaket zur Bewältigung
       des Flüchtlingsandrangs“. Darin sind unter anderem enthalten: Einstufung
       der Länder Albanien, Kosovo und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten und
       der Wechsel von Bargeld zu Sachleistungen sowie Leistungskürzungen für
       Geflüchtete.
       
       November 2015 
       
       Hunderttausende Geflüchtete sind über den Sommer und Herbst nach
       Deutschland gekommen, bald sind es knapp eine Million. In der Union rumort
       es zunehmend, viele wollen Merkels Politik der Flüchtlingsaufnahme nicht
       mehr mittragen. Auf dem CSU-Parteitag in München am 20. November liefern
       sich Merkel und Bayerns CSU-Ministerpräsident Horst Seehofer einen
       Schlagabtausch. Merkel lehnt die CSU-Forderung nach einer Obergrenze für
       Zuwanderung strikt ab.
       
       Dezember 2015 
       
       In der Silvesternacht gibt es in Köln hunderte sexuelle Übergriffe. Danach
       wird debattiert – meist über die Herkunft der Täter. Die AfD hetzt Tag um
       Tag gegen Geflüchtete. Medienwissenschaftler bezeichnen die Silvesternacht
       als einen Wendepunkt für die Berichterstattung zu Migration. Auch in der
       Politik ist plötzlich vieles anders: Auf dem Neujahrsempfang der CDU am 22.
       Januar 2016 sagt Merkel: „Eines ist klar, wir müssen die Zahl der
       Flüchtlinge spürbar reduzieren. Daran arbeiten wir mit Nachdruck.“
       
       März 2016 
       
       Die AFD erzielt bei drei Landtagswahlen Rekordergebnisse. In Sachsen-Anhalt
       werden die Rechtspopulisten mit 24,3 Prozent zweitstärkste Kraft. Auch in
       Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg zieht die AfD mit zweistelligen
       Ergebnissen in die Landtage ein.
       
       März 2016 
       
       Die Europäische Union und die Türkei unterzeichnen [2][am 18. März den
       sogenannten Flüchtlingsdeal]. Die Türkei soll möglichst viele Geflüchtete
       an der Weiterfahrt nach Europa hindern. Personen, die es übers Meer
       schaffen, sollen zurückgebracht werden. Im Gegenzug verpflichtet sich die
       EU, sechs Milliarden Euro für die Aufnahme von Geflüchteten in der Türkei
       zu zahlen und in einem geordneten Prozess Schutzsuchende von dort
       aufzunehmen. In der Praxis funktioniert nichts davon. Stattdessen entsteht
       ein brutales Abschottungsregime. Die Ankunftszahlen in Deutschland sinken
       deutlich.
       
       Februar 2017 
       
       Die italienische Regierung und die EU unterzeichnen ein Migrationsabkommen
       mit Libyen. Ein EU-Gipfel beschließt kurz darauf die „Malta-Deklaration“.
       In beiden Abkommen geht es um Unterstützung für die sogenannte libysche
       Küstenwache, die nicht viel mehr ist als eine Miliz. Bald gibt es Berichte
       über Folter, Sklaverei und Hinrichtungen in den Flüchtlingslagern in
       Libyen. Zwischen 2017 und 2024 überweisen die EU und Italien mindestens 59
       Millionen Euro dorthin.
       
       Juni 2018 
       
       Ende Juni gründet sich in Deutschland die Protestbewegung „Seebrücke.
       Schafft sichere Häfen“. Sie fordert Seenotrettung auf dem Mittelmeer und
       Zugang zum Flüchtlingsschutz in Deutschland. In zahlreichen Städten gehen
       seit Anfang Juli mehr als 150.000 Menschen für ihre Forderungen auf die
       Straße.
       
       August 2018 
       
       Die Stadt Freiburg im Breisgau wird am 1. August die erste Stadt, die sich
       als „Sicherer Hafen“ erklärt. Gemeint sind Kommunen, die geflüchtete
       Menschen willkommen heißen und bereit sind, mehr Menschen aufzunehmen.
       Heute gibt es 320 Sichere Häfen.
       
       April 2019 
       
       Die Institutionen der Europäischen Union beschließen die Grenzschutzagentur
       Frontex weiter auszubauen. Bis 2027 soll eine ständige Reserve von 10.000
       Grenzschutzbeamt*innen entstehen. Die räumliche Begrenzung der
       Frontex-Einsätze auf unmittelbar angrenzende Staaten soll aufgehoben
       werden.
       
       Juni 2019 
       
       In der Nacht zum 29. Juni nehmen italienische [3][Polizeibeamte Carola
       Rackete, Kapitänin der Sea Watch 3, fest]. Das Seenotrettungsschiff wurde
       über mehrere Wochen in keinen Hafen gelassen. Da sich die gesundheitliche
       Lage der Geflüchteten an Bord zunehmend verschlimmert, entscheidet sich
       Rackete ohne die Erlaubnis in einem italienischen Hafen anzulegen. Schnell
       kommen mehr als 200.000 Euro an Spendengelder für die Gerichtskosten
       zusammen.
       
       März 2020 
       
       Das EU-Türkei-Abkommen bricht zusammen. Um Druck auf die EU-Staaten zu
       machen, schickt die Türkei gezielt Geflüchtete über die Grenze nach
       Griechenland. Griechische Grenzschützer drängen sie mit brutaler Gewalt
       zurück. Kritik an diesen illegalen Pushbacks gibt es von den Regierungen
       der anderen EU-Staaten nicht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der
       Leyen versichert Griechenland gar die „volle Solidarität“ und Unterstützung
       beim Grenzschutz.
       
       September 2020 
       
       Das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos brennt ab. Zeitweise
       lebten hier 20.000 Menschen unter elendigen Bedingungen. Der Brand wird zum
       Symbol einer gescheiterten, inhumanen Abschottungspolitik an den
       EU-Außengrenzen. Europaweit gibt es Demonstrationen. In Deutschland fordert
       ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis die sofortige Evakuierung der
       Menschen aus Moria und anderen griechischen Lagern. Die Aktion heißt „Es
       reicht! Wir haben Platz“.
       
       November 2021 
       
       Am 24. November 2021 einigt sich die neue Regierung aus SPD, Grünen und FDP
       auf einen Koalitionsvertrag. Er weckt Hoffnung auf eine humanere
       Fluchtpolitik. „Wir wollen einen Neuanfang in der Migrations- und
       Integrationspolitik gestalten, der einem modernen Einwanderungsland gerecht
       wird.“ heißt es in dem Dokument etwa.
       
       Februar 2022 
       
       Russland überfällt die Ukraine, millionen Menschen müssen fliehen. Wie im
       Sommer 2015 ist die Hilfsbereitschaft in der deutschen Bevölkerung zunächst
       groß. Zum ersten Mal setzt die EU die Massenzustromrichtlinie in Kraft.
       Ukrainer*innen erhalten durch sie Schutz in EU-Staaten, ohne einen
       Asylantrag stellen zu müssen. Auch bei Sozialleistungen und Unterbringung
       gelten für die Ukrainer*innen andere Regeln als für reguläre
       Asylbewerber*innen.
       
       Dezember 2022 
       
       Das Gesetz zur Einführung des Chancen-Aufenthaltsrecht tritt am 31.
       Dezember in Kraft. Langjährig Geduldeten bekommen so Zugang zu einem
       legalen Aufenthaltstitel. Expert*innen loben den Schritt.
       
       Juni 2023 
       
       Am 14. Juni kentert ein Schiff mit mehr als 750 Geflüchteten an Bord vor
       der griechischen Küste. Mindestens 600 Menschen sterben. Die griechische
       Küstenwache hatte das Schiff über 15 Stunden beobachtet, ohne einzugreifen,
       obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Erst 2025 wird ein
       Strafverfahren eingeleitet.
       
       Juli 2023 
       
       Die EU und Tunesien unterzeichnen am 16. Juli eine Absichtserklärung, dass
       Geflüchtete an der Überfahrt nach Europa gehindert werden sollen. In der
       Praxis bedeutet das brutale Gewalt. Mit dem Deal unterstützt die EU das
       menschenrechtswidrige Handeln der tunesischen Regierung mit knapp einer
       Milliarde Euro.
       
       Oktober 2023 
       
       In der Ausgabe vom 21. Oktober titelt das Wochenmagazin Der Spiegel „Wir
       müssen im großen Stil abschieben“. Der Satz stammt aus einem Interview mit
       Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Von den Versprechen der Ampel auf eine
       menschlichere Fluchtpolitik ist fast nichts mehr geblieben.
       
       Februar 2024 
       
       Ein Gesetz zur Verbesserung der Rückführung tritt in wesentlichen Teilen am
       27. Februar in Kraft. Unter anderem sollen Abschiebungen erleichtert,
       Anforderungen an einen Asylfolgeantrag verschärft und die Gründe für eine
       Ablehnung des Asylantrags als „offensichtlich unbegründet“ ausgeweitet
       werden.
       
       April 2024 
       
       Nach jahrelangen Verhandlungen beschließt das EU-Parlament die Reform des
       EU-Asylsystems GEAS. Vorgesehen sind unter anderem Schnellverfahren an den
       Außengrenzen unter Haftbedingungen. Auch illegale Pushbacks werden
       erleichtert. Den lange geforderten verpflichtenden Verteilmechanismus für
       Geflüchtete innerhalb der EU enthält die Reform nicht.
       
       August 2024 
       
       Am 30. August schiebt Deutschland zum ersten Mal seit der Machtübernahme
       der Taliban vor drei Jahren wieder Menschen nach Afghanistan ab.
       Menschenrechtler*innen sind entsetzt, denn den Abgeschobenen droht
       Folter und Todesstrafe.
       
       Oktober 2024 
       
       Italiens extrem rechte Regierung eröffnet am 11. Oktober in Albanien zwei
       Aufnahmezentren für ausgelagerte Asylverfahren. Wenige Tage später erreicht
       ein erstes italienisches Marineschiff mit 16 Asylsuchenden die Zentren.
       Nach einem Gerichtsurteil aus Rom werden drei Tage später aber alle nach
       Italien gebracht. [4][Bis heute verhindern Gerichte immer wieder], dass die
       Lager so genutzt werden, wie es die italienische Regierung plante.
       
       Oktober 2024 
       
       Am 31. Oktober tritt in Deutschland das sogenannte „Gesetz zur Verbesserung
       der inneren Sicherheit und des Asylsystems“ in Kraft. Die darin enthaltenen
       massiven Verschärfungen betreffen das Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie das
       Asylbewerberleistungsgesetz.
       
       Februar 2025 
       
       Im Wahlkampf für die Bundestagswahl ist Migrationspolitik das Hauptthema.
       Die „Asylwende“ wird zu Friedrich Merz' großem Versprechen. Nach einem
       Messerangriff durch einen Geflüchteten in Aschaffenburg sind CDU und CSU
       bereit, mit der AfD zu kooperieren. Sie verabschieden mit ihr einen Antrag
       im Bundestag.
       
       Mai 2025 
       
       Direkt nach Amtsantrifft ordnet Bundesinnenminister Alexander Dobrindt an,
       dass Asylsuchende an den deutschen [5][Grenzen zurückgewiesen werden
       sollen]. Expert*innen erkennen darin einen eindeutigen Verstoß gegen
       Europarecht. Auch das Berliner Verwaltungsgericht entscheidet in einem Fall
       so. Dennoch halten Dobrindt und Kanzler Friedrich Merz an den
       Zurückweisungen fest.
       
       17 Sep 2025
       
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