# taz.de -- Willkommenskultur in Deutschland: Schafft man sowas noch mal?
       
       > Millionen Menschen unterstützten 2015 Geflüchtete – trotz Widerstand.
       > Viele der damals geschaffenen Strukturen bestehen bis heute.
       
 (IMG) Bild: Uwe Rosenberg und Hermann Vinke: damals wie heute im Bremer Ortsteil Borgfeld in der Flüchtlingshilfe aktiv
       
       Bremen taz | Sie haben fast alle der 80 Jugendlichen noch einmal ausfindig
       gemacht, sagt Uwe Rosenberg. Eine Wiedersehensfeier wird es geben, im
       Oktober, im Freizeitheim des Roten Kreuzes. „Das wird eine große Sache“,
       sagt er. [1][Die Geflüchteten von damals], die Freiwilligen und sogar
       Bremens Bürgermeister werden kommen. „Das ist ja auch nicht
       selbstverständlich, dass der das macht.“
       
       An einem Freitag im September sitzt Rosenberg vor der Gelateria Italiana in
       Borgfeld, einem bürgerlichen Stadtteil im Norden Bremens. Auch in der
       Abendsonne ist der nahe Herbst zu spüren, am Nachmittag hat es geregnet.
       Rosenberg hat einen Mitstreiter dabei, Hermann Vinke, ein ehemaliger
       ARD-Journalist im Ruhestand.
       
       Aus 20 Turnhallen machte das Land Bremen im Herbst 2015 Notunterkünfte.
       Eine davon war jene am Borgfelder Saatland. Die Bundeswehr stellte Betten
       auf, am 2. Oktober 2015 kamen Busse mit 80 damals minderjährigen,
       unbegleiteten Geflüchteten an. Sie stammten aus Afghanistan, Syrien, dem
       Irak, Somalia, Sudan, Guinea, Albanien und Marokko. Vier Träger wurden
       dafür bezahlt, sich um die Versorgung zu kümmern. Doch damit wäre es nicht
       getan gewesen, so viel war klar. Uwe Rosenberg, damals frisch aus dem
       Postdienst in den Ruhestand getreten, und Hermann Vinke, der Publizist,
       gehörten zu den so vielen Menschen, die sich damals zur Aufgabe gemacht
       hatten, den Ankommenden zur Seite zu stehen.
       
       Was ist von dieser Stimmung geblieben, jetzt, da die AfD einigen Umfragen
       zufolge mehr Stimmen im Land bekommt als alle anderen Parteien? Da die
       Union ihre totalen Abschottungspläne als „Migrationswende“ verkauft? Die 80
       Jugendlichen, die damals nach Borgfeld kamen, lebten 123 Tage in der
       Turnhalle. Im Februar 2016 bekamen der TSV und der SC Borgfeld sie zurück.
       Die Jugendlichen wurden in andere Unterkünfte verlegt. „Da haben sie
       geweint. Sie waren wie eine Familie geworden“, sagt Rosenberg.
       
       Er hat eine Mappe mitgebracht, mit Artikeln aus den lokalen Zeitungen.
       Straßenbahnfahrer, Mercedes-Autobauer, Konstruktionsmechaniker,
       Rettungssanitäter, Altenpfleger – das ist aus den Ankommenden von damals
       geworden, davon handeln die Berichte. Er zahle Steuern und „hält sich an
       die Regeln“, mit diesem Satz wird einer der porträtierten Afghanen zitiert.
       „Ihre Geschichten sind Beispiele für gelungene Integration“, schreibt der
       Weser-Kurier, der seit Jahren den Biografien der damals Angekommenen
       nachgeht.
       
       ## Millionen Menschen beteiligten sich bei Hilfen
       
       Rosenberg breitet einen ausgerissenen Zeitungsartikel nach dem anderen vor
       sich aus. Er erzählt von der „Weltschule“ für den Deutschunterricht, die
       sie damals improvisiert haben, dem Büro, das sie sich im Geräteraum der
       Turnhalle eingerichtet hatten, den Patenschaften für die Behördengänge.
       „Mit Flüchtlingen hatte ich vorher nie zu tun“, sagt Rosenberg. „Nie hätte
       ich mir vorgestellt, mal eine solche Aufgabe zu übernehmen.“ Sie teilten
       die Jugendlichen nach Sprach- und Schriftkenntnissen in Gruppen, sprachen
       mit der Presse, als es zur ersten Schlägerei kam, und halfen, als
       Trockenbauwände ein wenig Privatsphäre schaffen sollten.
       
       Hermann Vinke, der pensionierte Radiojournalist, war mit dem 2016
       gestorbenen Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck befreundet. „Mein Vorbild“,
       sagt er. Und so sah auch Vinke es als seine Aufgabe an, zu helfen, als
       Flüchtlinge nach Borgfeld kamen. Zum Zahnarzt mit „unseren Jungs“; zu
       Vorstellungsgesprächen; vermitteln, wenn ein Handy wegkam; „fördern und
       fordern“, „Respekt“ – davon ist in Vinkes und Rosenbergs Newslettern aus
       dem Herbst 2015 die Rede. „Einmal lauf ich über die Straße und dann
       klingelt die Straßenbahn und dann winkt mir Alfa aus Guinea vom Steuer zu“,
       erinnert sich Rosenberg. Zahlen kann er keine nennen, sicher ist für ihn
       aber: Ein großer Teil der Jugendlichen von damals hat in Deutschland Fuß
       gefasst.
       
       Starthilfe durch persönliche Beziehungen, soziale Kontakte und
       Sprachvermittlung – seit vielen Jahren zeigt sich an vielen Orten, dass
       dies der wirksamste Weg ist, Ressentiments abzubauen und Ankommenden eine
       Perspektive zu geben.
       
       Im Tagesspiegel wird heute darüber nachgedacht, wohin sich auswandern
       ließe, wenn 2029 die AfD an die Macht kommt. Ist die [2][Willkommenskultur]
       also pulverisiert, passé, nur noch präsent auf vergilbenden
       Zeitungsausschnitten? Wie viele Menschen sind heute bereit, zu helfen,
       Ankommenden offen zu begegnen? War „2015“ eine historische Einmaligkeit?
       Oder gibt es Bedingungen, die praktische Solidarität damals möglich
       machten, an die sich womöglich anknüpfen lässt?
       
       [3][Rund fünf Millionen Menschen sollen sich 2015] in Deutschland an der
       Unterstützung der Flüchtlinge beteiligt haben, schätzte 2016 der
       sozialwissenschaftliche Dienst der Evangelischen Kirche. Der
       Migrationsforscher Werner Schiffauer identifizierte über 15.000 „neu
       geschaffene oder schon existierende Projekte“, die ab August 2015
       Flüchtlinge unterstützten. An sich war das nichts Neues, seit Jahrzehnten
       hatten sich Gruppen, Träger, Kirchen in dem Bereich engagiert. Plötzlich
       aber geschah dies allerorten – und hieß „Willkommenskultur“.
       
       ## Willkommenskultur zum ersten Mal 2011 aufgetaucht
       
       Der eigentümliche, so technische Begriff war 2011 zum ersten Mal in den
       Migrationsberichten der Bundesregierung aufgetaucht. Gemeint waren da
       Bedingungen, die administrativ hergestellt werden sollten, um Deutschland
       für IT-Fachkräfte und Akademiker:innen attraktiv zu machen. Doch als
       die Flüchtlinge kamen, wurde das Wort zur Chiffre für eine bemerkenswerte
       Woge organisierter Solidarität.
       
       Eine Bonner Initiative beantragte gar, die deutsche „Willkommenskultur“ in
       die Liste über das immaterielle Kulturerbe der Unesco aufzunehmen. Es war
       eine maßlose Überschätzung angesichts der Entbehrungen, die die Aufnahme
       großer Zahlen Vertriebener für viele Länder des Globalen Südens bedeutet.
       Doch die Größenordnung des zivilgesellschaftlichen Engagements ab August
       2015 war zweifellos ein Novum für Deutschland.
       
       Die einen versuchen jene Zeit als „Kontrollverlust“, als „Herrschaft des
       Unrechts“, wie der Ex-CSU-Innenminister Horst Seehofer, oder gar als
       „Migrationsputsch“, wie jüngst der rechtsextreme Deutschland-Kurier, zu
       diskreditieren.
       
       Andere halten dagegen, dass Menschen sich damals ermächtigten, ihr
       Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, sich nicht im Krieg einfach töten
       zu lassen, Schutz und eine Perspektive zu suchen. Und dass sie dabei auf
       Menschen trafen, die sie am Bahnhof begrüßten, sich als freiwillige
       Helfer:innen in Listen eintrugen, Spenden brachten, bis die Lager
       übervoll waren – und sich von einer zeitweise euphorischen Stimmung
       ergreifen ließen. Dabei war damals wie heute die Stimmung ambivalent. Das
       zeigte sich auch in Borgfeld.
       
       „Das ist hier ein konservativer Stadtteil“, sagt Vinke. Rosenberg zeigt auf
       seinem Handy einen Beitrag des Radio-Bremen-Lokalmagazins buten un binnen.
       Es sind Aufnahmen einer Bürgerversammlung aus Borgfeld von Ende 2014.
       Damals hatte das Land angekündigt, eine Handvoll Container für Geflüchtete
       in dem Stadtteil aufzustellen. Auf einer Bürgerversammlung kamen die
       besorgten Bürger zu Wort: „Ich fühle mich und meine Familie bedroht“, sagte
       einer. Ein „Kriminalitätsproblem“ durch „testosterongesteuerte Jugendliche“
       fürchtete ein andere. Der Wert der Häuser werde sinken, und es werde „Chaos
       und Katastrophen“ geben, glaubten weitere.
       
       Vinke berief eine zweite Bürgerversammlung ein – und rief auf, sich konkret
       zu engagieren. Rosenberg legt lange, ausgedruckte Excel-Tabellen auf den
       Tisch: „Alles Leute, die sich als Freiwillige gemeldet hatten.“ Aus ihr
       ging der Runde Tisch als Bürgerinitiative hervor. Die Widerstände jedoch
       blieben bis heute. Der CDU-dominiere Ortsbeirat habe „eigentlich immer
       alles abgelehnt, was wir wollten“, sagt Vinke. Rosenberg nickt.
       
       Im September 2015 waren 33 Prozent der Deutschen der Auffassung,
       Deutschland solle weniger Flüchtlinge aufnehmen, im Januar 2025 waren es 68
       Prozent. Manchen gilt dies als Beleg dafür, das „2015“ gescheitert sei:
       „Wir“ haben „es doch nicht geschafft“, es gebe keine Akzeptanz mehr für
       eine offene Asylpolitik. Doch diese Zahlen sind nicht statisch, sondern das
       fluide Produkt der Art, wie über Migration gesprochen wird – und wie
       Menschen sich vor Ort engagieren.Tatsächlich sind viele der 2015
       gegründeten Initiativen bis heute aktiv – Borgfeld ist da keine Ausnahme.
       Praktische Solidarität bleibt ein starkes, widerstandsfähiges Ökosystem,
       selbst wenn professionalisierte Initiativen besonders von Kürzungen
       betroffen sind.
       
       Im Newsletter des Runden Tisches schreibt Vinke, es sei „von Anfang an klar
       und zum Teil auch verständlich“ gewesen, dass die Aufnahme der
       unbegleiteten Minderjährigen mit Schwierigkeiten und Problemen verbunden
       sein würde. Doch mit konkreten Angeboten, zu helfen, sich einzubringen, sei
       es gelungen, die Ablehnung der Borgfelder zu überwinden und „Einwohner zu
       gewinnen, die bereit waren, den Jugendlichen offen, freundlich und
       hilfsbereit zu begegnen.“ Rosenberg berichtet von Nachbarn, die
       vierstellige Beträge spendeten. „Die sagten dann: Wenn ihr noch was
       braucht, sagt Bescheid.“
       
       ## Patzelts Appell war für viele eine maximale Provokation
       
       Eine ähnliche Geschichte erzählt Martin Patzelt. Der CDU-Politiker war
       lange Oberbürgermeister von Frankfurt an der Oder, später saß er im
       Bundestag. 2014, zu Hochzeiten von Pegida, rief er dazu auf, „über eine
       zeitnahe Aufnahme von Flüchtlingen, insbesondere von Müttern mit
       Kleinkindern, in ihren eigenen Häusern oder Wohnungen nachzudenken“. Er
       selbst hatte das so getan, mehrfach. 2015 zogen zwei Eritreer in sein Haus
       im brandenburgischen Briesen. „Wir haben da genug Platz“, sagt Patzelt.
       Auch damals, Willkommenskultur hin oder her, war Patzelts Appell für viele
       eine maximale Provokation. „Ich hab sogar Morddrohungen bekommen“, sagt
       Patzelt der taz heute.
       
       Zwei Bedingungen hatte Patzelt den Eritreern in seinem Haus gestellte er:
       Sie müssten arbeiten und Deutsch lernen. Das müsse die Politik auch
       insgesamt von den Asylsuchenden verlangen. „Das ist nur recht und billig“,
       sagt er, es sei der sicherste Weg, die Ressentiments vor den
       Schutzsuchenden abzubauen und Integration zu gewährleisten.
       
       Patzelt wollte 2017 aus dem Bundestag ausscheiden. Aber als der damalige
       AfD-Vorsitzende Alexander Gauland sich Patzelts Wahlkreis zur Kandidatur
       aussuchte, überlegte er es sich anders. „Die Stimmung war damals ja schon
       so blau hier“, sagt er. Doch Gauland wollte er das Mandat auf keinen Fall
       überlassen. „Da habe ich noch einmal richtig gekämpft – und mit 70 noch
       einmal eine Ehrenrunde im Bundestag gedreht.“ Patzelt gewann gegen den
       AfDler, so wie er überhaupt viele Wahlen in der Region gewann, obwohl er
       klar liberale Positionen bezieht. Wofür er steht, das wurde schon damals
       als „Gutmenschentum“ verächtlich gemacht. Doch Patzelts politische Erfolge,
       seine lokale Popularität beweisen, dass diese Niederträchtigkeit nicht
       verfangen muss. Möglich sei dies nach wie vor und vor allem, indem man vor
       Ort präsent sei, kommuniziere, auf die Menschen zugehe, sagt er.
       
       „Wenn der Schwarze mir die Wurst einpackt, kaufe ich hier nicht mehr ein“ –
       das habe eine Kundin dem Supermarktleiter damals gesagt, berichtet Patzelt.
       „So war hier die Stimmung“, sagt er. Doch das sei passé. Es seien die
       Begegnungen gewesen, die die Menschen in Briesen mit den Eritreern und
       anderen Geflüchteten gehabt hätten. „Heute werden die zum Grillen
       eingeladen, da sagt keiner, die sollen weg.“
       
       ## Der Rechtsruck ist zweifelsohne da
       
       Die gesellschaftliche Stimmung im ländlichen Brandenburg ist kaum mit jener
       im bürgerlichen, westdeutschen Borgfeld zu vergleichen. Und doch gibt es
       Parallelen. Vinke und Rosenberg sind überzeugt, dass „2015“ kein Mysterium
       war, das aus unerfindlichen Gründen über Deutschland kam und wieder
       verschwand. „Es ist meine Überzeugung, dass es heute genauso möglich ist,
       Menschen Angebote zum Engagement zu machen und die auch angenommen werden,“
       sagt Vinke. Die Willkommenskultur war nicht bloß Momentum, sondern auch
       Folge wiederholbaren, sozialen Handelns.
       
       Der Rechtsruck ist zweifellos da. Wendet man aber den Blick von
       Umfragewerten der AfD, der Hetze in den sozialen Medien, den lustvollen
       Tabubrüchen der Konservativen ab und schaut aufs Kleine, ins Lokale, auf
       den Einzelnen, dann ist das Bild oft ein anderes – und steht im starken
       Widerspruch zur vermeintlich allgegenwärtigen Stimmung.
       
       „Ich kann das aus meinen Erfahrungen nur bestätigen“, sagt der
       Brandenburger Martin Patzelt. Und es gebe dazu auch gar keine Alternative,
       im Kleinen für Offenheit einzustehen. „Angesichts der Ungerechtigkeit auf
       der Welt, der ökologischen Krisen, werden weiter Menschen kommen, das ist
       doch völlig klar, wie kann man den Menschen denn erzählen, dass man das
       verhindern kann?“, fragt er. Deutschland sei auf Zuwanderung angewiesen,
       die demografische Entwicklung sei vollkommen eindeutig. Wer
       verantwortungsvolle Politik mache, müsse das den Menschen sagen und Wege
       anbieten, die Ankommenden der Zukunft im Land zu integrieren.
       
       2015 war nicht das Ende, sondern der Anfang – in Borgfeld stellen sie sich
       längst auf die nächsten Ankünfte ein. Auf dem Grundstück des ehemaligen
       Gasthofs „Borgfelder Landhaus“, direkt an der Landesgrenze zu
       Niedersachsen, startte im August 2025 der Bau einer neuen
       Geflüchteten-Unterkunft. Drei Stockwerke, 35 Wohnungen, rund 100 Plätze für
       als asylberechtigt anerkannte Familien.
       
       „Es wird kein Erstaufnahmelager, keine Notfallunterkunft“, sagt der
       Bauherr. „Es kann nicht sein, dass wir die Geflüchteten nur in einem
       Stadtteil konzentrieren“, sagt der Bürgermeister zu dem Projekt. Die
       Verteilung müsse sich „gerecht“ über das gesamte Stadtgebiet ziehen.
       „Unsere ganzen Häuser werden entwertet, wenn sie hier so einen Klotz
       hinsetzen“, sagen Anwohner und haben Widerspruch angelegt.
       
       Es ist alles wie immer, so wie es auch 2015 war, und davor und danach. Es
       werden wieder Geflüchtete kommen, und es wird wieder so sein, dass es umso
       besser für alle läuft, je mehr Unterstützung ihnen geboten wird. Den Runden
       Tisch Borgfeld gibt es heute noch. Man werde versuchen, den Menschen in der
       neuen Unterkunft ähnlich zur Seite zu stehen wie damals den Jugendlichen in
       der Turnhalle, sagt Rosenberg. „Wenn die Menschen kommen, wollen wir
       vorbereitet sein.“
       
       18 Sep 2025
       
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