# taz.de -- Geschichte Haitis in einem Brennglas: Die letzte Oase des Friedens
       
       > Brandstiftung zerstörte das Hotel Oloffson in Haitis Hauptstadt
       > Port-au-Prince. Es stand für die kulturelle Identität des Landes und für
       > Demokratie.
       
 (IMG) Bild: Das Oloffson Hotel in Port Au Prince Haiti vor der Brandkatastrophe
       
       „Ein mystischer Ort im Herzen eines mystischen Landes“, mit diesen Worten
       hat der haitianische Hotelbesitzer und Bandleader Richard Auguste Morse
       sein Haus, das altehrwürdige Hotel Oloffson über den Hügeln von
       Port-au-Prince [1][in einem Film des haitianischen Regisseurs Richard
       Sénécal] beschrieben. Auf Außenstehende wirkte dieses 138 Jahre alte
       Architekturdenkmal eher wie ein lebender Organismus und weniger wie ein
       gewöhnliches Hotel.
       
       Am 6. Juli ging das Oloffson infolge von Brandstiftung in Flammen auf. In
       kurzer Zeit wurde aus dem mehrstöckigen Gebäudekomplex ein Aschehaufen.
       Jetzt ist nur noch Brachland zu sehen. „Wir wissen noch nichts über die
       genauen Tatumstände“, textete der Regisseur Sénécal aus Port-au-Prince.
       „Nachdem wir eine Kameradrohne über das Grundstück haben fliegen lassen,
       blieb lediglich die traurige Gewissheit, dass das Hotel abgebrannt ist.
       Meine rechte Gehirnhälfte wusste immer, dass es passieren könnte, die linke
       hat sich geweigert, daran zu glauben, bis es sich bewahrheitet hat.“
       
       Das Oloffson war geistreicher als jeder andere Ort, an dem ich je
       genächtigt habe. Als Hotel mit Restaurantbetrieb sorgte es für Umsatz, aber
       es war immer mehr als nur Herberge. Allwöchentlich am Donnerstag stiegen
       Konzerte im Ballsaal, sorgten für Glamour und [2][feierten die prächtige
       haitianische Kultur in all ihrer Vielfalt]. Meistens trat RAM, die Band von
       Richard Morse dafür in Aktion: Der Sound von RAM steht für rasin, ein
       genuin haitianischer Musikhybrid, getragen von rockigen Gitarrenklängen,
       upbeat Vodou drumming und spirituellen Texten mit politischen Botschaften.
       Nicht nur die Musik, auch das Publikum, ja, die ganze Atmosphäre im
       Ballsaal war elektrisierend.
       
       In einem Land, dessen Bewohner in ständigem Austausch mit den Toten stehen,
       konnte man die Geister im Saal fast mit Händen greifen. Jedenfalls haben da
       nie nur die Lebenden getanzt, ich schwöre!
       
       ## Interessante Gesprächspartner
       
       Das Hotel war keineswegs zu komfortabel. Nachmittags wurde stundenweise der
       Strom abgestellt, die Luft schwirrte vor Stechmücken. Aber die weitläufige
       Veranda, die man durch die üppige karibische Vegetation schon von Weitem
       sah, war ein perfekter Ort, um aufzutanken. Man traf dort stets
       interessante Gesprächspartner.
       
       Das Oloffson bestach auch als Ort, an dem Vodou-Zeremonien abgehalten
       wurden. Es diente als Safespace für LGBTQ und als Tanzschule, deren
       Performances im Gartenpavillon abgehalten wurden. Es war Galerie für
       avantgardistische haitianische Kunstausstellungen und ein Knotenpunkt, an
       dem die Einheimischen auf Besucher:Innen aus aller Welt stießen.
       
       Seine Lage am Rand des vornehmen Viertels Pacot, inmitten von Häusern in
       sogenannter Gingerbread-Bauweise, war günstig. Gingerbread, so wird jene
       charakteristische haitianische Prunkarchitektur des späten 19. Jahrhunderts
       genannt. Entwickelt von lokalen Handwerkern, bestehen die Häuser aus zwei
       bis drei Stockwerken in Holzbauweise. Sie sind hurrikan- und
       erdbebensicher.
       
       [3][Dem verheerenden Erdbeben von 2010] fielen zahlreiche jüngere Bauwerke
       zum Opfer, wie etwa das Hotel Montana, das zusammenfiel wie ein Kartenhaus
       und seine Gäste unter sich begrub. Das Oloffson und seine handgezimmerte
       Holzkonstruktion hielt der Naturkatastrophe stand. Jetzt ist es Geschichte:
       Durch [4][den immer brutaleren Gangkrieg], der das schon geschundene Haiti
       restlos zerstört, wurde auch diese Legende getilgt.
       
       ## Gebaut für einen zukünftigen Präsidenten
       
       Das Haus hat eine bewegte Geschichte. Erbaut 1887 von Demosthenes Simon Sam
       als Villa für seinen Vater Tiresias, der später zum Präsidenten Haitis
       gewählt wurde. Ein weiteres Familienmitglied, Jean Vilbrun Guillaume Sam,
       amtierte ebenfalls als haitianischer Präsident, bis er 1915 von einem
       aufgebrachten Mob in Stücke gehackt wurde, als unrühmliches Vorspiel zu
       einer 19-jährigen Besatzung Haitis durch US-Militär. Währenddessen wurde
       die Villa von der US-Militärverwaltung als Krankenhaus zweckentfremdet.
       
       Nach Ende der Besatzung, 1935, kam die Umwandlung zum Hotel unter dem Namen
       des ersten schwedischen Pächters Oloffson. Sein Name blieb erhalten, obwohl
       das Hotel danach von unterschiedlichen Pächtern betrieben wurde. Schon in
       den späten 1930ern war es berühmt. Noël Coward und Charles Addams ließen
       sich von der Atmosphäre des Hauses zu Theaterstücken inspirieren.
       
       De rigeur wurde das Oloffson Ende der 1940er, als Massentourismus in Haiti
       einsetzte. Dies blieb nicht lange so. Nachdem der gefürchtete [5][Diktator
       Jean-Claude „Baby Doc“ Duvalier] 1971 ins Präsidentenamt kam, ging es mit
       Haiti bergab. Baby Doc, der seinem gleichfalls brutalen, ab 1957
       regierenden Vater folgte, konnte sich 15 Jahre an der Staatsspitze halten.
       Er bereicherte sich an den Schätzen seines Landes, bis er 1986 vor dem Zorn
       der Haitianer von der Insel flüchten musste.
       
       ## Auch eine Familiengeschichte
       
       Im gleichen Jahr übernahm Richard Morse das damals marode Hotel, zunächst
       als Pächter. Er glaubte an eine rosigere Zukunft Haitis und kaufte das
       Gebäude alsbald. Der zweisprachig aufgewachsene Morse verbindet mit dem
       Oloffson sehr persönliche Erinnerungen. Die Familiengeschichte ist
       verzweigt, Vater Richard McGee Morse ist ein bekannter US-Hispanist, Mutter
       Emerante de Pradines ist eine haitianische Volkssängerin mit
       durchdringender Stimme. Richards Opa Auguste, Spitzname Candio, durfte als
       erster Mensch öffentlich die haitianische Nationalhymne intonieren.
       
       „Mir war das Hotel kein Begriff, bis mich meine Mutter 1982 dorthin
       mitnahm,“ erzählt Morse der taz. Das Haus sei bereits in Familienbesitz,
       erfuhr er von ihr, konnte die Aussage nicht einordnen, bis ein Geheimnis
       ans Licht kam. Einige Jahre vor ihrer Heirat mit Richard McGee Morse wurde
       Emerante de Pradines Mutter eines Sohnes – Max, Halbbruder von Richard
       Morse. Vater ist Jean Sam, Sohn von Architekt Demosthenes. Er war
       rechtmäßiger Besitzer des Oloffson.
       
       Richard Morse dachte 1986 ganz uneigennützig, in Zeiten von gestiegenem
       Interesse für Global Pop, wäre es sinnvoll, haitianische Rhythmen zu
       erlernen. Vor Ort in Port-au-Prince musste er bald lernen, dass
       traditionelle haitianische Musik bedeutungslos ist ohne Kenntnis der
       dazugehörigen Riten. Also arbeitete er sich in die Musikkultur ein, bis er
       schließlich zum houngan asogwe ernannt wurde, zum mächtigsten
       Ritualexperten, den es auf Haiti gibt. „Ich transferierte von der
       akademischen Welt meines Vaters, hinüber in die spirituelle Welt meiner
       Mutter.“
       
       ## Labor eines fortschrittlichen Haiti
       
       Das wiederbelebte Oloffson entwickelte sich ab Ende der 1980er zur
       kulturellen Keimzelle. Wobei sich traditionelles Musikschaffen hier immer
       mit Experimentierfreude tummelte und mit der übersinnlichen Praxis des
       Vodou eine kunstvolle Liaison einging. So wurde das Hotel zum Labor eines
       fortschrittlichen Haiti, was nach Duvaliers Flucht von Demokratie und
       Selbstbestimmung, Freiheit und Schönheit träumte.
       
       Morse war weniger daran gelegen, ein Hotelimperium aufzubauen. Seine
       Leidenschaft lag auf dem Feld der Musik. Es gab eine Tanzgruppe, Shango,
       die regelmäßig im Oloffson gastierte. Deren 19-jährige Leiterin Lunise
       Exumé heiratete Richard 1989. Zur Rhythmussektion von Lunise kam nun die
       rockige Gitarre von Richard Morse. Bald zählten sie zur mizik rasin-Szene,
       deren rebellische Attitüde dem neuen Haiti eine musikalische Form gab,
       zusammen mit Bands wie Group Sa, Foula und Boukman Esperyans. Als Sängerin
       und Tänzerin von RAM ist Lunise inzwischen Ikone aller Haitianerinnen zu
       Hause und in der dyspwa (Diaspora). Die beiden haben 35 Jahre ihres Lebens
       in das Oloffson investiert.
       
       Nicht zu vergessen, das Oloffson sorgte für dringend benötigten Sauerstoff
       in Port-au-Prince. Oberhalb, am Berg, liegt das abgeschottete
       Reichenviertel Pétionville, unten auf Seehöhe ist das Armenviertel Cité
       Soleil. Genau dazwischen befand sich das Oloffson, mit einer
       atemberaubenden Blick auf die Stadt und das nahe Meer. Sein Gebäude war
       umgeben von Natur, eine Oase, die buchstäblich für frischen Wind sorgte. Da
       das Gebäude originalgetreu blieb, war auch die Natur nahezu unberührt
       geblieben, üppig wuchernd und [6][gespickt mit Vodou-Insignien].
       
       Zwischen all den Geistern, die auf dem Grundstück hausen, wuchsen viele
       Bäume. Während in Port-au-Prince immer drastischer gerodet wurde, um Platz
       zu schaffen für die improvisierte Zementarchitektur und die Luft erfüllt
       war von Kohlenstaub, Holzfeuern und Abgasen, blieb das großzügige
       Oloffson-Gelände eine dringende Erinnerung, [7][an ein Haiti, das nach Ende
       der Sklaverei 1801 einst blühende Nation gewesen war.]
       
       Bei der jährlich stattfindenden Fèt Gede im Oloffson, einem Musikfestival,
       das Morse dem Gott der Toten gewidmet hat, stand ich 2018 als Mitglied der
       New Orleans Preservation Hall Jazzband auf der Bühne. Die Hausband RAM
       spielte mit uns eine Kombination aus New-Orleans-Second-Line-Beat und
       traditionalistischer rara-Musik. Es sollte die letzte Festivalausgabe im
       Oloffson bleiben. Bis dahin galt das Hotel trotz aller politischen
       Umstürze, Aufstände und Generalstreiks als Zufluchtsort. Aus und vorbei.
       
       Schon damals brodelte Gewalt auf den Straßen. Man hörte nahe dem Hotel
       Gewehrsalven, schwarze Rauchsäulen stiegen in die Luft. Nach Ausbruch der
       Coronapandemie musste das Oloffson 2020 schließen, etwa gleichzeitig hörten
       die letzten Säulen der haitianischen Verwaltung zu funktionieren auf, das
       Land wurde zum gescheiterten Staat. Damit lag auch das Hotelbusiness am
       Boden. Die Bandmitglieder von RAM konnten nicht mehr in Sicherheit arbeiten
       und gingen nach New Orleans ins Exil.
       
       Ohne Security, ohne Instandhaltungspersonal – da zu gefährlich – blieben
       Grundstück und Gebäude seit Jahresbeginn 2025 sich selbst überlassen,
       erklärt Richard Sénécal. Gangs drangen ein, niemand hat sie daran
       gehindert. Ein haitianischer Nachrichtensender fragte Morse, ob er weiß,
       wer sein Hotel niedergebrannt habe. „Interessiert mich nicht. Schlimm
       genug, dass wir über Hotels reden müssen, anstatt darüber, was eigentlich
       im Land vor sich geht. Alle Haitianer leiden, viele kommen gewaltsam ums
       Leben. Frauen werden gezielt vergewaltigt und wir reden über ein
       Baudenkmal! Aber wenn ein Hotel die Menschen wenigstens dazu bringt, dass
       sie über das Schicksal von Haiti nachdenken, von mir aus.“
       
       Ich habe Morse selbst gefragt, ob er an eine Rückkehr nach Haiti glaubt.
       „Wie sollte ich nicht zurückgehen wollen? Ich kann der Wahrheit nicht
       entfliehen.“
       
       16 Jul 2025
       
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