# taz.de -- CSDs und die Mehrheitsgesellschaft: Queere Menschen machen es vor
       
       > Die Menschen auf den CSDs demonstrieren nicht nur für Minderheiten. Ihr
       > Protest ist Ausdruck eines Universalismus von unten.
       
 (IMG) Bild: Mutig gegen Rechts: Mittlerweile finden in unzähligen kleineren Städten Pride-Paraden statt, wie hier in Ebersalde, am 21.6.2025
       
       Es ist kein Gefallen der Mehrheitsgesellschaft queeren Minderheiten
       gegenüber, wenn sie deren Paraden zum Christopher Street Day (CSD) im
       Zeichen der Toleranz durch die Städte ziehen lässt. Im Gegenteil, mit ihrem
       Protest tun die Queers der Gesamtgesellschaft einen gewaltigen Gefallen.
       
       In der Bundesrepublik finden in diesem Sommer so viele CSDs wie nie statt.
       Nicht nur in Berlin, München, Hamburg und Köln gehen die Leute auf die
       Straße, auch in unzähligen kleineren Städten.
       
       Zunehmend müssen sich diese Demos jedoch gewaltbereiten Nazigruppen
       entgegenstellen, die zu Überfällen mobilisieren – so wie im Juni [1][im
       brandenburgischen Bad Freienwalde]. Umso beachtlicher ist der mutige, bunte
       Antifaschismus der Prides.
       
       ## Strategisch verzerrtes Neutralitätsverständnis
       
       Während CSDs attackiert werden und die Alltagsgewalt gegen queere und trans
       Menschen rasant ansteigt, verbot CDU-Bundestagspräsidentin Julia Klöckner,
       dass an diesem Wochenende, anders als in den Vorjahren, die Regenbogenfahne
       auf dem Reichstagsgebäude weht.
       
       Das Netzwerk der queeren Mitarbeitenden der Bundestagsverwaltung darf am
       Samstag nicht gemeinsam auf den CSD, Abgeordnete [2][mussten die
       Regenbogenfahnen an ihren Bürofenstern abhängen]. Zur Begründung bediente
       Klöckner sich eines strategisch verzerrten Neutralitätsverständnisses, wie
       es die AfD ins Feld führt. Erneut nimmt die Union damit eine Strategie der
       AfD auf. Wie schon im Februar, als die CDU/CSU-Bundestagsfraktion eine
       Kleine Anfrage gegen die Omas gegen Rechts und andere
       zivilgesellschaftliche Vereine richtete.
       
       Gegenüber den Menschenrechten darf die Politik nicht neutral sein, das
       bezeugt schon das Grundgesetz. Trotzdem bekräftigte CDU-Bundeskanzler
       Friedrich Merz die Fahnen-Entscheidung Klöckners mit dem Argument, der
       Bundestag [3][sei kein „Zirkuszelt“]. Seine Äußerung ist keine unbedachte
       Entgleisung. Sie kommt bei uns in den queeren Communitys als eine klare
       Ansage an, dass wir von dieser Regierung weder den notwendigen Schutz noch
       Solidarität erwarten können.
       
       In den Medien werden diese Manöver als Verweigerung des
       Minderheitenschutzes gewertet. Doch so wahr das ist, geht es vielmehr um
       Demokratieschutz: Die CDU unter Merz stellt sich offen gegen diejenigen,
       die für eine demokratische Gesellschaft eintreten. Denn die Protestierenden
       verteidigen Grundrechte, die das Leben jeder und jedes Einzelnen bedingen,
       etwa Freiheit und Selbstbestimmung. Sich möglichst frei entfalten zu
       können, ist ein Bedürfnis, das alle Menschen teilen, bei allen
       Unterschieden. Queere Menschen aber mussten hart um selbstbestimmte
       Freiheit kämpfen.
       
       ## Emanzipationsbewegungen schieben die Demokratie an
       
       Die Emanzipationsbewegungen von Schwulen, Lesben und trans Menschen haben
       in der Geschichte des 20. Jahrhunderts Liberalisierungs- und
       Demokratisierungsschübe gebracht, die das Leben aller freier gemacht haben.
       Das zeigen Historikerinnen wie Dagmar Herzog und Andrea Rottmann mit ihrer
       Forschung.
       
       Dass Heterosexuelle Beziehungen nach ihrem Belieben gestalten können,
       verdanken sie in großen Teilen den Queers, die ihr Überleben, ihre Lebens-
       und Liebesweisen verteidigen mussten. Das gilt für das frühe 20.
       Jahrhundert, bevor der Nationalsozialismus die mühsam errungenen Freiräume
       mit Verfolgung überzog. Noch mehr gilt dies für die Zeit nach dem
       Stonewall-Aufstand im New York des Jahres 1969.
       
       Genauso traten Feministinnen gemeinsam mit der Lesben- und Schwulenbewegung
       für Gleichheit und Gleichberechtigung ein. So manch eine, die damals dabei
       war, geht heute als Oma gegen Rechts wieder auf die Straße.
       
       Die Geschichte der Lesben- und Schwulenbewegung führt vor Augen, dass
       gleiche Rechte nicht von oben gewährt werden. Sie werden von unten
       erstritten. Gleichheit, die keine abstrakte Gesetzesformel ist, bildet sich
       im praktisch Gesellschaftlichen: als Gleichheit, die in Vielheit gründet;
       als egalitäre Praxis, die darin liegt, in aller Verschiedenheit als Gleiche
       angesehen und behandelt zu werden.
       
       ## Universalismus von unten
       
       In den CSD-Paraden blitzt ein Universalismus von unten auf, der daran
       erinnert, was uns trotz aller Verschiedenheit eint: dass wir als soziale
       Wesen der Sorge und Solidarität bedürfen, dass wir in selbst gewählten
       Beziehungen leben und uns entfalten wollen.
       
       Seit einiger Zeit wird in liberalen Feuilletons und [4][bisweilen sogar in
       linken Zeitungen] der Universalismus hochgehalten und in einen
       unüberwindbaren Gegensatz zur „woken“ Identitätspolitik gerückt. Häufig
       wird den verschiedenen Identitätspolitiken dabei pauschalisierend
       unterstellt, sich auf besondere Interessen und bloße Befindlichkeiten von
       Minderheiten zu kaprizieren, etwa der Queers. Es werde Cancel-Culture
       betrieben, statt das große Ganze in den Blick zu nehmen.
       
       Oft geht dies mit einem Plädoyer einher, man müsse zu traditionellen Themen
       des Klassenkampfs zurückkehren und den Gedanken des Allgemeinen
       wiederbeleben. In dieser starren, irreführenden Gegenüberstellung erscheint
       die Idee des Universellen unvereinbar mit Identitätspolitiken.
       
       ## Gleichheit braucht Vielfalt
       
       Es ist wichtig und richtig, in Zeiten, in denen autoritäre Akteure die
       Menschenrechte abräumen wollen, am Gedanken des Universalismus
       festzuhalten. Doch wir können Universalismus nicht ohne Differenz denken,
       denn gelebte Gleichheit braucht demokratische Vielfalt. Queere Bewegungen
       haben sich stets für mehr Gleichheit eingesetzt. Deshalb sind sie egalitär
       und universalistisch. Sie kämpfen für die eigenen Rechte ebenso wie für die
       Gleichheit, Freiheit und Selbstbestimmung aller.
       
       Wenn Linke Universalismus als Gegenprogramm zu Wokeness bestimmen, um so
       gegen autoritäre Kräfte anzutreten, dann werden CSDs als
       identitätspolitischer Nebenschauplatz abgetan.
       
       Das verkennt vollends die Manöver von AfD, Orbán, Trump und anderen
       Antidemokraten. Sie machen sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung
       zum Kampfplatz, um von dort aus die demokratische Gesellschaft als Ganzes
       anzugreifen.
       
       Sie streben nicht bloß danach, die Selbstbestimmung einiger weniger
       auszuhebeln, sie wollen das Prinzip an sich abschaffen – für Frauen,
       Jüd*innen, armutsbetroffene Menschen, Menschen mit Behinderung, Menschen
       mit Migrationsgeschichte, kurzum für die Mehrheit. Um diesen Großangriff
       auf freies Lebens zu verschleiern, ja, perfider noch, um ihn als
       Mehrheitsmeinung gegen angeblich übermächtige Minderheiten zu framen,
       setzen sie auf Sündenbockrhetorik, auf eine Art negative
       Intersektionalität.
       
       ## Transfeindlichkeit dient als Schleusenöffner
       
       Davon zeugt die Verschwörungsideologie des „großen Austauschs“, die
       antisemitische Erzählmuster von herbeifabulierten Eliten mit
       antimuslimischem Rassismus und antifeministischen Ressentiments verflicht.
       Ebenjene Elite, so der wirre, aber wirkmächtige Spin, trachte danach, weiße
       christliche Familien durch migrantische zu ersetzen, in Komplizenschaft mit
       Queers und Feministinnen.
       
       Weil Rechtsextreme auf das gesamtgesellschaftliche Unwissen über die
       Lebenswirklichkeit von trans Menschen setzen können, dient
       Transfeindlichkeit als Schleusenöffner, um alte Muster der sexuellen
       Moralpanik in eine neue Fassung zu bringen. Etwa, wenn sie angesichts von
       queeren Lebens- und Liebesweisen Kindeswohlgefährdung unterstellen.
       
       In Neuruppin zum Beispiel wollten rechte Gruppen so CSD-Veranstaltungen
       verbieten lassen. Diese Instrumentalisierung des Kinderschutzes ist
       bis ins bürgerliche Spektrum hinein anschlussfähig. Unterdessen [5][kürzen
       viele Kommunen queerpolitischen Demokratieprojekten die Gelder].
       
       AfD und extrem rechte Akteure trachten danach, queere Menschen als das
       Andere der Gesellschaft und der Demokratie darzustellen, wenn sie von
       „woker Diktatur“ raunen, wenn Nachwuchsnazis wie einst ihre Väter in den
       Baseballschlägerjahren geifernd und gewaltbereit „Weiß, normal, hetero!“
       brüllen. Doch Queers sind nicht das Andere der Demokratie. Wir sind gelebte
       Demokratie.
       
       ## „Kanarienvögel der Demokratie“
       
       Der Linke-Politiker Klaus Lederer hat kürzlich auf einem Stadtfest in
       Berlin-Neukölln von queeren Menschen als „Kanarienvögeln der Demokratie“
       gesprochen. Damit spielte er auf die Bergarbeiter früherer Jahrzehnte an,
       die die kleinen Vögel mit in die Grube nahmen. Wurde der Sauerstoff knapp,
       hörten die Vögel auf zu zwitschern: ein Warnsignal, das das Überleben aller
       sicherte. Im Testflug für die Demokratie flattern wir voran. So klein und
       fragil Kanarienvögel wirken, so leuchtend bunt, lautstark, so schwirrend
       flink sind sie. Wie umherschwärmende Kanarienvögel lassen die Prides die
       Straßen bunter werden. Sie sind mehr als ein Warnzeichen. Sie sind
       antifaschistischer Widerstand.
       
       Der Rechten dient Antifeminismus als gemeinsamer Nenner mit evangelikalen
       Netzwerken, Libertären und völkischen Nationalisten. Was wäre nun, wenn die
       Demokrat:innen den Queerfeminismus als antifaschistisches Bindeelement
       begriffen? Wenn wir Selbstbestimmung, egalitäre Sorge und das gute Leben
       für alle als geteilte Grundlage antifaschistischer Kämpfe erachteten? Als
       Grundlage, die über die bloße Verteidigung des Bestehenden hinausweisen
       würde.
       
       Wir sehen schon neue, kraftvolle Formen solch eines Antifaschismus. Die
       Omas gegen Rechts machen es vor, genauso wie die queeren Initiativen in Bad
       Freienwalde, Falkensee, Wittenberg und andernorts. Sie spielen keine
       kampfbereiten Heldenfiguren nach vorne, sondern bauen auf
       antifaschistischer Sorge auf.
       
       Das zeigt sich in großen und kleinen Aufgaben von der Demoanmeldung über
       die Breitstellung von Wasser, Müsliriegeln, Sonnenmilch und
       Regenbogenschirmen bis hin zum Schutz, den Antifagruppen vor Ort bieten.
       Solche antifaschistischen Schutznetze gibt es vielerorts seit der Gewalt
       der Baseballschlägerjahre der 1990er. Nun werden sie gestärkt und
       weitergesponnen.
       
       ## Es sind nicht alle auf Verbotslinie
       
       Und auch in der Politik sind nicht alle auf Verbotslinie. Die
       Regenbogenfahne weht vielerorts wie vor dem bayerischen Landtag. Der Grüne
       Omid Nouripour und die Sozialdemokratin Josephine Ortleb gehören dem
       Bundestagspräsidium an und eröffnen den Berliner CSD. Götz Herrmann,
       Bürgermeister von Eberswalde, ging beim dortigen CSD auf die Bühne und
       dankte den Protestierenden dafür, dass sie die Stadt in ihrer Vielfalt
       bewahren.
       
       Vor lauter Ohnmachtsgefühl mag der Rückzug ins Private verlocken. Doch
       Faschismus macht nicht an der Haustür halt. Zwar bedroht er die einen mehr
       als die anderen, doch er will nicht weniger, als das demokratische Leben
       umzuwälzen. Er nährt sich von Angst und Vereinzelung. Dagegen hilft, das
       Miteinander zu stärken. Queere Menschen machen seit Langem vor, wie dies
       gelingen kann.
       
       26 Jul 2025
       
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