# taz.de -- Debatte um Mindestlohn: Wer beißt in den sauren Apfel?
       
       > Der Mindestlohn für Saisonkräfte gefährde den Anbau von Obst und Gemüse
       > in Deutschland, sagen Agrarunternehmer. Stimmt das?
       
 (IMG) Bild: Wollen bei der Lohnuntergrenze eine Ausnahme für die Landwirtschaft: Obstbäuer:innen Anke Wollanik und Simon Noflatscher
       
       Muhammad Shoaib ist ein typischer deutscher Verbraucher: Die Lebensmittel
       seien ihm zu teuer, schimpft der Taxifahrer aus dem brandenburgischen
       Strausberg. In seiner alten Heimat Pakistan würden Obst und Gemüse weit
       weniger kosten. „Dabei muss ich doch so viel Steuern zahlen“, klagt Shoaib,
       als er mit seinem Mercedes den taz-Reporter vom S-Bahnhof zum Obstgut
       Müller im Dorf Wesendahl fährt. Typisch ist diese Haltung, weil der
       durchschnittliche Haushalt hierzulande gemessen am Einkommen so wenig für
       Lebensmittel ausgibt wie in kaum einem anderen Land der Europäischen Union:
       Laut EU-Statistikamt waren es 2023 [1][knapp 10 Prozent].
       
       Auf dem Obstgut Müller sitzen in einem schmucklosen Büro mit Neonröhren an
       der Decke zwei Agrarunternehmer, denen die Sparsamkeit der Konsumenten
       Kopfzerbrechen bereitet: Anke Wollanik und Simon Noflatscher. Wollanik ist
       Co-Chefin des kleinen Obsthofs, der vor allem Bio-Äpfel anbaut. Noflatscher
       ist ein Geschäftsführer der viel größeren Brandenburger Obst GmbH, die
       gleich nebenan auch vor allem Äpfel erzeugt, aber konventionelle.
       
       Beide leiden unter den ihrer Meinung nach zu niedrigen Preisen, die oft
       nicht die Kosten deckten. Die Margen könnten weiter sinken, weil sie ihren
       Saisonarbeitskräften nach dem Willen der Mindestlohnkommission aus
       Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern [2][ab kommenden Jahr 13,90 Euro
       und ab 2027 14,60 Euro] die Stunde zahlen müssen – statt derzeit 12,82
       Euro. Dann werde es noch schwieriger, Obst und Gemüse in Deutschland
       anzubauen. Für Äpfel, Beeren oder Spargel ist viel Handarbeit nötig. „Wir
       können preislich nicht mehr mithalten mit ausländischer Ware“, warnt
       Wollanik.
       
       Deshalb wünschen sich die beiden eine Ausnahme von der Lohnuntergrenze für
       die Landwirtschaft. [3][Bauernverbandschef Joachim Rukwied hat gefordert,
       dass die Branche ihren saisonal Beschäftigten nur 80 Prozent des
       Mindestlohns zahlen müsse.] „Das ist aufgrund der geringeren
       Lebenshaltungskosten in den Herkunftsländern gerechtfertigt“, argumentierte
       er im Fachblatt [4][top agrar]. Die meisten Saisonarbeitskräfte kommen aus
       Staaten wie Rumänien.
       
       ## Keine Erntehelfer aus Deutschland
       
       Noflatscher wirkt nicht wie der typische Brandenburger Bauer. Er spricht
       mit leichtem Südtiroler Akzent und trägt einen Vollbart, über den die Enden
       seines Schnurrbarts ragen. Er ist nicht Agraringenieur, sondern
       Betriebswirt. Noflatscher weiß: „Das kommt erst mal in der Gesellschaft
       komisch an, wenn man davon spricht, dass 14 oder 15 Euro für Person X aus
       dem Land zu viel ist, weil dort das Leben günstiger ist.“ Es stehe ihm
       nicht zu, zu bestimmen, was für wen „zu viel“ ist. Das regele grundsätzlich
       der Markt. Der Mindestlohn sei für den deutschen Arbeitsmarkt festgelegt,
       aber hier gehe es um „einen internationalen Arbeitsmarkt, der in
       Deutschland stattfindet“, sagt der Geschäftsführer. Fast alle, die in ihren
       Betrieben die Äpfel ernten, kämen aus Osteuropa, sagen die beiden.
       
       Wollanik zählt zu den wenigen Frauen, die einen Agrarbetrieb leiten. Die
       Gartenbauingenieurin hat täglich mit Verbrauchern zu tun, einen großen Teil
       ihrer Ernte verkauft sie direkt an die Konsumenten im eigenen Hofladen, nur
       wenige Kilometer von Berlin entfernt.
       
       Wollanik sagt, ohne Saisonkräfte könne sie ihre Ernte nicht einholen. „Wir
       finden einfach keine Erntehelfer aus Deutschland mehr.“ Ihre Saisonkräfte
       würden von Ernte zu Ernte fahren. Vom Verdienst könne „dann zum Beispiel in
       Rumänien die ganze Familie leben“.
       
       Das wohl wichtigste Argument der beiden ist, dass der Obstanbau ohne
       Mindestlohnausnahmen „langsam aus Deutschland verschwindet“, wie
       Noflatscher sagt. Er legt ein A4-Blatt mit Balkendiagramm auf den Tisch. Es
       zeigt, wie sich Deutschlands Selbstversorgungsgrad entwickelt hat.
       Deutschland produziere immer weniger seines Bedarfs selbst, folgert der
       Betriebswirt aus den Zahlen. „Wollen wir wenig übriggebliebene große
       Landwirtschaftsbetriebe haben, die es noch schaffen, aber auch die nur
       knapp – oder wollen wir eine gewisse Kulturlandschaft haben, wo es
       grundsätzlich mit Obst auch ein Auskommen gibt?“
       
       ## Ist der Selbstversorgungsgrad gesunken?
       
       [5][Gerade sind keine Saisonarbeitskräfte auf dem Hof, die Auskunft geben
       könnten.] Sie würden erst zur Apfelernte im September und Oktober kommen,
       sagt Wollanik. Aber man kann sich die Plantage anschauen, auf der sie
       arbeiten. In langen Reihen stehen Apfelbäume dort an einem Gerüst aus
       Metallstangen, zwischen denen zwei Drähte gespannt sind. Am unteren hängt
       ein schwarzer Kunststoffschlauch, aus dem Wasser für die Pflanzen auf den
       Boden tropft. Äpfel hängen etwa ein bis zweieinhalb Meter hoch. Zum Ernten
       müssen die Arbeiter jede Frucht berühren. Es gibt bisher keine serienreife
       Maschine, die Äpfel für den Verzehr als Tafelobst ernten könnte. Deshalb
       ist die Produktion so teuer.
       
       Benjamin Luig ist trotz allem dagegen, die Landwirtschaft vom Mindestlohn
       auszunehmen. Er ist als Fachreferent bei der Industriegewerkschaft
       Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) für die Branche zuständig. „Der
       Selbstversorgungsgrad bei Obst und Gemüse ist seit Einführung des
       Mindestlohns in der Landwirtschaft 2018 nicht gesunken, sondern stabil
       geblieben“, sagt er. Tatsächlich produzierte Deutschland nach Zahlen der
       [6][Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung] in den fünf Jahren von
       2014 bis 2019 im Schnitt rund 20 Prozent des hier verbrauchten Obstes und
       etwa 36 Prozent des Gemüses – genauso viel wie in den fünf Jahren danach.
       
       Manche Bauern behaupten, der Selbstversorgungsgrad sei stark gesunken. Aber
       dafür haben sie nur zwei Jahre miteinander verglichen. Aussagekräftig sind
       jedoch langjährige Mittelwerte, weil sich die Produktionsmenge wegen des
       Wetters jedes Jahr erheblich ändert.
       
       Bei Obst sei der Selbstversorgungsgrad nicht wegen der hohen Arbeitskosten
       so niedrig, sagt Hildegard Garming, Obst- und Gemüse-Expertin des
       bundeseigenen Thünen-Agrarforschungsinstituts. Sondern vor allem, weil drei
       Viertel des Verbrauchs Arten betrifft, die hierzulande aus klimatischen
       Gründen gar nicht angebaut werden: zum Beispiel Bananen und Zitrusfrüchte.
       Bei Tafeläpfeln dagegen, dem [7][am meisten in Deutschland produzierten
       Obst], lag der Selbstversorgungsgrad im Mittel der Jahre 2012 bis 2023 bei
       60 Prozent, also eher hoch.
       
       ## Kleine Höfe steigen aus dem Anbau aus
       
       Auch die Produktion von Obst und Gemüse insgesamt sei nach Einführung der
       Lohnuntergrenze nicht gesunken. „Ich vermute, dass das auch so bleibt, wenn
       der Mindestlohn erhöht wird“, sagt Garming. Es stimme aber, dass die
       Preise, die die Bauern für Äpfel bekommen, nicht so stark gestiegen seien
       wie die Lohnkosten. „Die Rentabilität hat sich verschlechtert“, sagt die
       Wissenschaftlerin.
       
       Das trägt auch dazu bei, dass besonders kleine Höfe aus dem Obst- und
       Gemüseanbau aussteigen. Ihre Gewinnmargen sind oft geringer als die von
       Großbetrieben, die ihre Maschinen und Kühllager besser auslasten und
       deshalb das Kilo Frucht billiger anbieten können.
       
       Viele kleine Höfe haben auch nicht so viel Kapital, um die höheren
       Arbeitskosten auszugleichen: Immer mehr Erdbeeren werden in Gewächshäusern
       oder in Folientunneln angebaut. So lässt sich der Ertrag pro Hektar
       steigern, weil sie dort etwa vor Hagel geschützt sind, der im Freiland
       immer wieder ganze Ernten vernichtet. Die Pflanzen können dort auf
       Stellagen oder Dämmen wachsen, damit sich die Arbeiter nicht so tief bücken
       müssen und so schneller ernten können. Solche Anlagen sind auch besser
       geeignet für Roboter, die gerade entwickelt werden. Für viele kleine
       Betriebe ist all das zu teuer.
       
       Aus diesem Grund werden die immer häufiger von großen Höfen übernommen. Das
       heißt aber nicht, dass Deutschland kein Obst und Gemüse mehr erzeugt. Auf
       dem Land der kleinen Betriebe wird weiter angebaut – aber nicht mehr von
       ihnen selbst, sondern zum Beispiel vom größeren Nachbarn. Diese Entwicklung
       lässt sich kaum aufhalten. Denn egal wie die Lohn-, Agrar- oder
       Umweltpolitik war – seit 1950 zeigt die [8][Kurve zur Anzahl der Höfe in
       Deutschland] im weitgehend gleichen, steilen Winkel nach unten. Für einen
       minimalen Einfluss der Politik spricht auch, dass die Entwicklung fast
       überall auf der Welt ähnlich ist. In den USA, in Australien oder in Japan –
       überall schlucken große Höfe kleine und senken so die Stückkosten.
       
       ## Mehr Interesse an Maschinen
       
       Dass die Bundesregierung für die Landwirtschaft einen geringeren
       Mindestlohn festsetzt, ist unwahrscheinlich. Agrarminister Alois Rainer
       (CSU) musste nach einer Prüfung eingestehen, dass solche Ausnahmen gegen
       den Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes verstoßen würden.
       Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) hatte Sonderregelungen schon vorher
       abgelehnt.
       
       Wie würden die beiden Brandenburger Betriebe reagieren, wenn der
       Mindestlohn auch für sie steigt? „Wir würden versuchen, kostengünstiger zu
       produzieren“, sagt Noflatscher. Maschinen würden noch schneller
       interessant, um Arbeitskräfte zu ersetzen.
       
       Wollanik will bei den Verbrauchern weiter Verständnis dafür wecken, dass
       ein Apfel aus Deutschland mehr kostet als einer aus Italien, weil er besser
       für Umwelt und Menschen sei. „Deshalb machen wir Hoffeste,
       Betriebsführungen, Spaziergänge durch unsere Anlagen“, sagt sie.
       
       Vielleicht kann sie so ja auch Taxifahrer Shoaib überzeugen.
       
       20 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/nama_10_cp18__custom_17359354/bookmark/table?lang=en&bookmarkId=1e5ea31a-d442-40be-92d8-0000dce04d99
 (DIR) [2] https://www.mindestlohn-kommission.de/shareddocs/downloads/de/Bericht/beschluss2025.pdf?__blob=publicationFile&v=3
 (DIR) [3] /Mindestlohn-fuer-Erntehelfer/!6092881
 (DIR) [4] https://www.topagrar.com/management-und-politik/news/rukwied-minister-rainer-muss-liefern-20015523.html
 (DIR) [5] /Mindestlohn-fuer-Erntehelfer/!6092881
 (DIR) [6] https://www.bmel-statistik.de/ernaehrung/versorgungsbilanzen/obst-gemuese-zitrusfruechte-schalen-und-trockenobst#:~:text=Der%20Selbstversorgungsgrad%20mit%20Gem%C3%BCse%20lag%20im%20Wirtschaftsjahr,Karotten%20und%20Roten%20R%C3%BCben%20mit%2079%20Prozent.
 (DIR) [7] https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Obst-Gemuese-Gartenbau/Tabellen/flaechen-erntemengen-marktobstanbau.html
 (DIR) [8] https://x.com/peter_breunig/status/1744319180084584840
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jost Maurin
       
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