# taz.de -- Psychologe über Hamburger Messerangriff: „Der Vorfall war nicht vorhersagbar“
       
       > Die Verdächtige der Messerattacke wurde kurz zuvor aus der Klinik
       > entlassen – in die Obdachlosigkeit. Kein Einzelfall, meint Psychologe
       > Thomas Bock.
       
 (IMG) Bild: Bei dem Messerangriff im Hamburger Hauptbahnhof wurden 18 Menschen verletzt, Mai 2025
       
       taz: Herr Bock, am vergangenen Freitag gab es am Hamburger Bahnhof einen
       Messerangriff. Die mutmaßliche Täterin, eine 39-jährige Frau, soll wahllos
       auf Wartende eingestochen haben. 18 Menschen wurden verletzt, manche
       lebensgefährlich. Hätte die Tat verhindert werden können? 
       
       Thomas Bock: Das kann niemand sicher beantworten. Was passiert ist, war ein
       in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Vorgang. Als Täterin passt die Frau nicht
       in bekannte Muster und Stereotype. Es gab kein politisches Motiv, keinen
       Migrationshintergrund, keine Horde alkoholisierter junger Männer und keinen
       Drogenkonsum. Sicher ist, für den mir vertrauten Bereich psychischer
       Erkrankungen: Wer so unvermittelt gefährlich wird, muss sich enorm bedroht
       fühlen.
       
       taz: Was ist über die mutmaßliche Täterin bekannt? 
       
       Bock: In den Medien heißt es, sie sei „im psychischen Ausnahmezustand“
       gewesen, mehrfach in psychiatrischer Behandlung, zuletzt in einer
       niedersächsischen Klinik. Es wird die Diagnose einer schizophrenen Psychose
       genannt. Erst einen Tag vor der Tat war sie entlassen worden, in die
       Obdachlosigkeit. Eine menschliche Tragödie, die viele Fragen aufwirft,
       zunächst diese: Warum wird eine offenbar Psychose-erfahrene Frau so „ins
       Nichts“ entlassen?
       
       taz: Ja, warum? 
       
       Bock: Laut Klinik habe es keine medizinischen Gründe gegeben, sie zu
       behalten. Aber was ist mit sozialen Gründen? Was ist mit der
       Fürsorgepflicht? Wir sollten uns fragen, ob Obdachlosigkeit im psychischen
       Ausnahmezustand wirklich freie Wahl sein kann.
       
       taz: Wer wäre denn verantwortlich? 
       
       Bock: Das Problem ist jedenfalls nicht allein den Kliniken anzulasten. Die
       dramatische Zunahme obdachloser, psychisch erkrankter Menschen spiegelt ein
       gesellschaftliches Problem und ein politisches Versagen. In manchen
       Berliner Kliniken werden bis zu 50 Prozent der Patient*innen in die
       Obdachlosigkeit entlassen. Oft fehlt die verbindliche Übernahme gemeinsamer
       Verantwortung. Betreute Wohneinrichtungen veranlassen Einweisungen in die
       Psychiatrie, nehmen ihre Bewohner*innen aber nicht zuverlässig zurück.
       Psychiatrische Akutstationen quellen über, finden keinen Ort, wohin die
       Entlassenen gehen können. Vor allem aber fehlt Wohnraum.
       
       taz: Was bedeutet die Diagnose „Psychose“ überhaupt? 
       
       Bock: Das heißt, sozusagen durchlässig zu werden, zumindest vorübergehend.
       Das ist, als würde die eigene Haut nicht mehr schützen. Innen und außen
       lassen sich nicht mehr richtig trennen, innere Dialoge können zu fremden
       Stimmen werden, äußere Ereignisse filterlos eindringen.
       
       taz: Was heißt das, in so einem Zustand wohnungslos zu sein? 
       
       Bock: Die eigene Wohnung, das eigene Zimmer, unser Zuhause, das ist unsere
       zweite Haut, unser Schutzraum. Obdachlos zu sein, heißt, all das nicht mehr
       zu haben. Den Blicken aller ausgesetzt zu sein, sich nicht mehr abgrenzen
       zu können. Die Angst wird zum ständigen Begleiter, die Paranoia zu
       Realität.
       
       taz: Sind psychisch erkrankte Wohnungslose eine Gefahr? 
       
       Bock: Obdachlosigkeit stellt immer eine Gefährdung dar, allerdings zunächst
       einmal für die Betroffenen selbst. Menschen mit psychischer Erkrankung und
       erst recht obdachlose Frauen werden sehr viel häufiger Opfer als Täter –
       was nicht relativiert, dass diese Frau in ihrer Not schrecklich handelte.
       Das seltene, aber statistisch etwas erhöhte Risiko, [1][im psychotischen
       Zustand gewalttätig zu werden], betrifft weniger Fremde und eher das
       persönliche Umfeld. Denn ohne das Gefühl eigener Grenzen kann Nähe wie
       Eindringen wirken.
       
       taz: Was würde helfen? 
       
       Bock: Wir brauchen Kliniken, die auch nachgehend und aufsuchend tätig
       werden, Wohneinrichtungen mit regionaler Verpflichtung. Dazu eine enge
       Kooperation mit der Wohnungslosenhilfe mit einem großzügigen
       Housing-First-Programm, also schützender Wohnraum als erste Priorität.
       
       taz: Ist das mit den vorhandenen Ressourcen überhaupt möglich? 
       
       Bock: Wir leisten uns in Deutschland ein Hilfesystem, das auf der einen
       Seite zu niedrigschwellig ist. Wenn jede seelische Not gleich zur
       Erkrankung erklärt wird, um überhaupt Hilfe zu bekommen, gerät es unter
       Druck. Gleichzeitig ist es für diejenigen, die am dringendsten Hilfe
       benötigen, zu hochschwellig: Wir schaffen es nicht, mit einer
       kontinuierlichen Beziehungskultur Menschen in größter Not Halt zu geben –
       und schon gar nicht, Grundrechte wie Wohnen zu sichern.
       
       taz: Im Januar, nachdem ein psychisch Kranker in Aschaffenburg ein
       Kleinkind und einen Erwachsenen getötet hatte, forderte die
       Innenministerkonferenz, [2][den Schutz von Patient*innendaten bei
       psychischer Erkrankung aufzuweichen]. Die Sicherheitsbehörden sollten
       leichter Zugang zu solchen Informationen bekommen. Hätte das hier geholfen? 
       
       Bock: Der [3][Vorfall in Hamburg] war so ungewöhnlich, dass ihn keine
       Statistik hätte vorhersagen können. Würden wir alle psychisch Erkrankten
       registrieren, wäre fast ein Drittel aller Einwohner in Deutschland
       betroffen und stigmatisiert. Diejenigen, die Hilfe am dringendsten
       brauchen, könnte das noch mehr abschrecken, sie aufzusuchen.
       Informationsaustausch muss aber möglich sein – im Notfall auch mit den
       Sicherheitskräften. Aber nicht mit dem Ziel der Ausgrenzung und der
       Verschiebung von Verantwortung, sondern dem der gemeinsamen Zuständigkeit.
       
       30 May 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Sexualisierte-Gewalt-in-der-Psychiatrie/!6085227
 (DIR) [2] https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/2025_01_27/Beschluss.pdf?__blob=publicationFile&v=4
 (DIR) [3] /Debatte-nach-Angriffen/!6088981
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Luisa Faust
       
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