# taz.de -- Künstlerin über Spuren des Kolonialismus: „Deutschland hat einen sehr hohen Moralanspruch“
       
       > Um den deutschen Kolonialismus aufzuarbeiten, greift die
       > Politikwissenschaftlerin Natascha Nassir-Shahnian auf die Kunst zurück.
       
 (IMG) Bild: „Hof Elisabethbay“ über einer Tür im Sönke-Nissen-Koog. Sieben Höfe sind nach kolonialen Bahnstationen im heutigen Namibia benannt
       
       taz: Frau Nassir-Shahnian, in Ihrer Kunst gehen Sie „Kolonialismus in
       deutschen Landschaften“ nach. Wie kann man sich das vorstellen? 
       
       Natascha Nassir-Shahnian: Ich arbeite mit Familienbiografien, Erzählungen
       und Überlieferungen. Daraus wird ein künstlerisch-essayistischer Film. Ich
       habe drei Jahre lang recherchiert, das ist jetzt der Zwischenstand.
       Langfristig soll es ein großes Serienprojekt werden.
       
       taz: Um welche Landschaften geht es? 
       
       Nassir-Shahnian: Ich bin in Nordfriesland aufgewachsen, in der Nähe der
       Gemeinde Reußenköge. Deshalb sind Wasser und Algen in meiner Arbeit
       wichtige Portale, die Informationen und Beziehungen herstellen. Dort, wo
       ich herkomme, gibt es den Sönke-Nissen-Koog. Die ganze Landschaft ist mit
       der Kolonialgeschichte und dem Genozid verbunden.
       
       taz: Inwiefern? 
       
       Nassir-Shahnian: [1][Sönke Nissen] war Bauingenieur, er hat in Namibia den
       Ausbau der Bahn vorangetrieben. Dieser Ausbau wurde genutzt, um den
       Widerstand der Nama gegen den Genozid niederzuschlagen. Nissen ist in
       Namibia innerhalb kürzester Zeit zum Millionär geworden, weil einer seiner
       Arbeiter auf Diamanten gestoßen ist und er sich gemeinsam mit Partnern die
       Schürfrechte gesichert hat. Als er später zurück nach Norddeutschland kam,
       wurde er um Investition in den Deichbau gebeten. Das Land, das vom Meer
       geschützt wird, ist also in krasse Gewaltgeschichten verwoben.
       Aufgearbeitet worden sind sie nicht.
       
       taz: Eigentlich sind Sie Politikwissenschaftlerin, warum der Weg in die
       Kunst? 
       
       Nassir-Shahnian: Die Kunst ermöglicht eine andere Emotionalität. Über den
       Film können viele Menschen mit mir und dem, was ich zu erzählen habe, in
       eine tiefere Ebene tauchen. Ich möchte Kunst machen, die experimentell,
       aber zugänglich ist.
       
       taz: Sie wollen auch einen „offenen Dialog“ anstoßen. 
       
       Nassir-Shahnian: Angst und Vermeidung spielen in der Auseinandersetzung mit
       den [2][kolonialen Schuldbeziehungen] eine große Rolle. Bevor es überhaupt
       zu einem Prozess von „Reparationen“ kommen kann, braucht es eine deutsche
       Auseinandersetzung mit der Schuld, ohne das die Frage der Verantwortung
       ausgelagert wird.
       
       taz: Wie kann diese Auseinandersetzung gelingen? 
       
       Nassir-Shahnian: Eine meiner Leitfragen ist: Wie können wir uns mit dem
       Kolonialismus beschäftigen, ohne ständig so zu tun, als wären wir
       überrascht?
       
       taz: Wie meinen Sie das? 
       
       Nassir-Shahnian: Es gibt eine ganze Menge, über das man sich wundern kann.
       Deutschland ist ein Land mit sehr hohem Moralanspruch an sich selbst. Man
       will hier unbedingt gut sein. Ich glaube, das ist ein Trugschluss. Man
       sollte sich fragen, welche Ethik hier praktiziert wird, nicht welche Moral.
       
       taz: Worin liegt der Unterschied? 
       
       Nassir-Shahnian: Moral hat sehr viel mit dem Wunsch zu tun, rein zu sein.
       So ist der Kolonialismus ja auch durch die Gegend gezogen. Ethik ist ein
       viel dynamischeres Konzept. Da geht es darum, bestimmte Grundbedürfnisse –
       zum Beispiel Sicherheit, Würde, Zugehörigkeit – immer wieder zu verhandeln
       und herzustellen. Wie können sich Beziehungen an Ethik ausrichten? Das ist
       ein permanenter Prozess.
       
       7 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Deutsch-Suedwest-an-der-Nordsee/!5700799/
 (DIR) [2] /Glueckstadt-im-17-Jahrhundert/!6002838
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Charlina Strelow
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Nordfriesland
 (DIR) Deutscher Kolonialismus
 (DIR) zeitgenössische Kunst
 (DIR) Kolonialismus
 (DIR) Kunst
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Schwerpunkt Nationalsozialismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Namibia gedenkt des Völkermords: Die unerfüllte Hoffnung auf Reparationen aus Deutschland
       
       Vor 117 Jahren endete der deutsche Völkermord an den Herero und Nama. Jetzt
       gibt es erstmals einen staatlichen Gedenktag dazu in Namibia.
       
 (DIR) Wilhelmshavens Last der Vergangenheit: Kolonialer Alptraum
       
       Die Marinestadt Wilhelmshaven ist ein Freilichtmuseum des deutschen
       Imperialismus. Ein Runder Tisch versucht nun die Dekolonialisierung.
       
 (DIR) Adolf-Hitler-Koog zu besichtigen: Deutsche Provinz vom Feinsten
       
       Die Nazis wollten auf dem heutigen Dieksanderkoog eine Volksgemeinschaft im
       Kleinen schaffen. Nun ist auf dem Gelände ein Lernort entstanden.