# taz.de -- Theaterstück „Die Abweichlerin“: Die Depression ist eine anstrengende Tante
       
       > Im Stück „Die Abweichlerin“ nach Tove Ditlevsen am Hamburger
       > Schauspielhaus verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn
       > weich und mühelos.
       
 (IMG) Bild: Ob die Protagonistin reale Figuren trifft oder eingebildete, bleibt unklar: Szene aus „Die Abweichlerin“
       
       Hamburg taz | „Es gibt mehr Grund zur Trauer über mein Leben als über
       meinen Tod.“ Das ist der letzte Satz in Karin Henkels Inszenierung „Die
       Abweichlerin“ am Hamburger Schauspielhaus. Und das ist einer der letzten
       Sätze von Tove Ditlevsen. Er stammt aus ihrem Abschiedsbrief.
       
       Anfang März 1976 hatte die dänische Schriftstellerin (1917–1976) eine
       Überdosis Schlaftabletten genommen. Gelassen und ruhig spricht Lina
       Beckmann diese Worte, bevor sie die Bühne ins hintere Dunkel verlässt. Da
       ist kein Selbstmitleid in ihrer Stimme, keine Spur von Vorwurf oder
       Anklage.
       
       Mehr als zwei Stunden lang hat die Schauspielerin bis dahin aus Ditlevsens
       Leben erzählt. Eindringlich und einsam, abgründig und heiter, tieftraurig
       und aufgeputscht schrill. Hat Einblicke gegeben in [1][Ditlevsens
       Biografie] und in ihrem letzten, 1975 erschienenen autofiktionalen Roman
       „Vilhelms Zimmer“, der dieser Aufführung zugrunde liegt.
       
       Immer wieder sind dabei die Grenzen verschwommen zwischen Autorin,
       Erzählerinnen-Ich und einer gewissen Lise Mundus, der Protagonistin jenes
       Romans. Auch sie ist Schriftstellerin, psychisch krank und wurde gerade von
       ihrem Mann verlassen.
       
       Nach und nach treten die Romanfiguren auf: Ex-Mann, Geliebte, Sohn,
       Nachbarin, Hausdame und Untermieter. Ob es sich dabei um reale Figuren
       handelt oder um Begegnungen während der psychotischen Zustände der
       Erzählerin, bleibt offen.
       
       Beckmann bringt sie wie eine Puppenspielerin in Bewegung. Zwischen losen
       Manuskriptseiten, einem Rednerpult und den Schauspielkolleg*innen geht
       sie vermeintlich ordnend hin und her. Sie verschiebt Kulissen, bedient in
       die Seitenwände eingelassene Tonbänder, zieht Requisiten aus seitlichen
       Wandklappen und auch mal einen Darsteller (Mirko Kreibich als herrlich
       verlorener Untermieter).
       
       Sie verschmiert Lippenstift im Gesicht des Kollegen Matti Krause, malt ihm
       Augenringe, damit er die Rolle der misstrauischen Nachbarin und der
       strengen Hausdame übernehmen kann.
       
       Dann reicht sie ihrem selbstgefälligen Ex-Mann Vilhelm (Daniel Hoevels)
       einen Schmerbauch, zuppelt am Kleid von dessen neuer Geliebter (großartig
       dauermunter: Linn Reusse) und trägt die Tänzerin Liina Magnea in ein
       Eisengitterbett, wo diese furchtsam reglos Lise Mundus’ schier endlose Zeit
       in der Psychiatrie veranschaulicht.
       
       „Ich bin alle zugleich“, sagt Lina Beckmann mit stolzer Sachlichkeit, als
       sie ihre Anordnung betrachtet. Dann öffnet sie eine Dose 7up, schluckt eine
       Handvoll Tabletten und spricht über ihre psychische Krankheit, so, als wäre
       sie eine anstrengende Tante, der man immer wieder bei Familienfesten
       begegnet.
       
       ## Ein Leben voller Amplituden
       
       In fein gebauten, atmosphärisch dichten Mini-Szenen – mal als comic-relief
       mit wenigen papiernen Requisiten, mal im fehlgelben Krankenhauslicht, mal
       als überzeichnete Karikatur, mal als inniges Mutter-Kind-Gespräch, mal als
       tragikomische Situation, mal als surreale Traumsequenz – gibt Henkel
       Einblicke in das Leben und Innenleben ihrer Hauptfigur.
       
       Mit großer Tiefe und doch mit einer unfassbaren Leichtigkeit spielt
       Beckmann diese, ist nicht nur Ex-Frau, Mutter, Schriftstellerin, sondern
       auch Tove Ditlevsen, Ich-Erzählerin und Lise Mundus.
       
       Mit jedem einzelnen Satz lotet sie, mal fragend, mal schmunzelnd, mal
       rettungslos einsam, ein Leben voller Amplituden aus. Mühelos, weich, fast
       unmerklich gleitet sie zwischen Alltag und Krankheit, zwischen
       Entschlossenheit und Verletzlichkeit und zwischen jenen drei
       Persönlichkeiten hin und her, lässt sie zu einer einzigen verschmelzen, um
       gleich darauf mit zwei, drei schnellen Schritten Abstand zu nehmen.
       
       „Ich weiß nicht, wohin mich meine Fantasie treibt“ und „Jetzt habe ich
       völlig die Orientierung verloren“, sagt sie ein ums andere Mal. Hell, fast
       kindlich verwundert klingt ihre Stimme dann, eine Handvoll Tabletten und
       einen Schluck 7up später hat sie sich wieder gefasst.
       
       ## Herausragende Lina Beckmann
       
       Drei karg ausgestattete Schaukästen hat Barbara Ehnes nebeneinander auf die
       Bühne gestellt, ein klug gedachtes Triptychon, auf dessen Mini-Bühnen das
       Erzählte re-enactet wird, und das sich nach Bedarf weg- und zuschieben
       lässt. Dann flirren schwarzweiße, naive Scribbles über die Wände.
       
       Sie erinnern an [2][William Kentridges Arbeiten] und an Roger Ballens
       verstörende Fotoserie „Asylum of the Birds“. Später sieht man
       kontrastreiche Stills von Baumkronen, die alles andere als wohliges
       Waldbaden meinen (Video: Chris Kondek); die dräuende Soundkulisse von
       Arvild J. Baud tut ihr Übriges.
       
       Prägnant und konzentriert gelingt Henkel hier ein so melancholischer wie
       nachdenklicher Abend, der in einem großen, ruhigen Atem von jener
       „Abweichlerin“ erzählt, die so gar nicht in ihre Zeit passte, von deren
       Verzweiflung und [3][Depression], aber auch von deren Wortwitz und scharfen
       Verstand. Ein Abend, der lange nachhallt, dank einer herausragenden Lina
       Beckmann und eines präzise agierenden Ensembles, aber auch dank seiner
       entwaffnenden Empathie.
       
       13 Apr 2025
       
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