# taz.de -- Retrospektive William Kentridge: Abenteuer eines anderen Ichs
       
       > Die Wiener Albertina zeigt den südafrikanischen Künstler William
       > Kentridge. In seinem Werk geht es um Fragen von Apartheid, Kolonialismus
       > und Aufklärungskritik.
       
 (IMG) Bild: William Kentridge neben einem Standbild aus seinem Film "Learning the Flute".
       
       Ein Mann tritt vor eine mit dunklen Farbspuren befleckte Wand. Wir sehen
       ihm dabei zu, wie er durch die Luft fliegende Papierfetzen fängt. Mit Verve
       setzt er die gezeichneten Fragmente an der Wand zu einem Selbstporträt
       zusammen und radiert das abstrakte Liniengeflecht, das den gezeichneten
       Kopf zunächst noch überdeckt, sorgfältig aus. Nachdem der Mann wie mit
       Zauberhand den Schatten des Kopfes verdunkelt und schließlich sein Werk
       bewundert hat, geht er nach links ab; anschließend erwacht die Figur auf
       dem Foto zum Leben und verlässt ihrerseits den Raum nach rechts.
       
       "Invisible Mending" (unsichtbares Flicken) ist der erste Abschnitt von "7
       Fragmente für Georges Méliès", in dem William Kentridge in wenigen Minuten
       ein charmantes, intelligentes, chaplinesk-skurriles Porträt von sich selbst
       entwirft. Zusammen mit zwei weiteren Filmen, "Reise zum Mond" (Journey to
       the Moon) und "Day-for-Night" (beide von 2003), präsentiert der
       südafrikanische Künstler sieben Fragmente als Auftakt zu seiner
       Ausstellung, die nach Stationen in New York und Paris in der Albertina in
       Wien zu sehen ist.
       
       "5 Themen" heißt die Schau, die keine Retrospektive sein möchte, sondern
       sich in fünf zentrale Themenkomplexe gliedert, die Kentridge die letzten
       drei Jahrzehnte hindurch beschäftigt haben. Die gemeinsam mit dem San
       Francisco Museum of Modern Art und dem Norton Museum of Art in Florida
       veranstaltete Ausstellung präsentiert mehr als sechzig Arbeiten des
       Künstlers, in denen unterschiedlichste Medien wie Zeichnung, Skulptur,
       Grafik, Film und Theater eine sich gegenseitig bereichernde Verbindung
       eingehen.
       
       William Kentridge, der 1955 als Sohn jüdischer Einwanderer in Johannesburg
       geboren wurde, ist neben Marlene Dumas der im Ausland bekannteste lebende
       südafrikanische Künstler. Vor acht Jahren war er die große Entdeckung auf
       der documenta 11 in Kassel. In seinem eindringlichen Oeuvre befasst er sich
       mit Unterdrückung und gesellschaftlichen Konflikten, mit Fragen von Verlust
       und Versöhnung sowie dem flüchtigen Charakter des persönlichen und
       kulturellen Gedächtnisses. Seine Themen sind eng mit seinem Leben verknüpft
       und kreisen zugleich um politische Fragestellungen: Über das Private
       spiegeln sich die Bedingungen seines Umfelds Johannesburg, Afrika, die
       Folgen des Kolonialismus und von Apartheid wider.
       
       Dem fulminanten Entrée mit "7 Fragmente", einer Art Selbstgespräch über das
       Sehen und über Gelingen und Misslingen, folgen Adaptionen zu Nikolai Gogols
       Erzählung "Die Nase" und Schostakowitschs gleichnamiger Oper. Dieser
       jüngste Werkkomplex von William Kentridge steht in Zusammenhang mit seiner
       Operninszenierung, die im März an der Metropolitan Opera in New York
       Premiere hatte. In Grafiken, Zeichnungen und Collagen erscheint die Nase
       hoch zu Ross, als feierlich-komisches Denkmal für das Riechorgan, oft in
       Kombination mit Prozessionen.
       
       Kernstück des Zyklus ist die aus acht Filmfragmenten bestehende
       Installation "Ich bin es nicht, das ist nicht mein Pferd" (2008). Wieder
       verwendet Kentridge Stop-Motion-Material mit ausgeschnittenen Papierfiguren
       und verbindet es mit Archivmaterial und Realfilm, um den Betrachter in eine
       multimedial entgrenzte Erfahrung zu verstricken. Konsequent bevorzugt er
       Mehrschichtigkeit und Überlappungen gegenüber der früher favorisierten
       sequenziellen Vorgehensweise.
       
       Spiel mit Identitäten 
       
       Ein weiterer Glanzpunkt der Ausstellung sind Kentridges Arbeiten im
       Anschluss an die Produktion der Mozart-Oper "Die Zauberflöte", mit der er
       2005 im Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie befasst war. Im
       Ausstellungsraum zeigen drei skulpturale Objekte, zwei Miniaturtheater und
       eine Filminstallation abwechselnd Projektionen. Kentridge spielt mit
       Motiven der Oper, thematisiert Zwiespältigkeiten der Aufklärungsgedanken
       und verbindet sie mit vertrauten Elementen aus seiner Requisitenkammer.
       Sich selbst präsentiert er als schattenhaften Zauberer, einen Vorboten
       Papagenos, der Vögel fängt.
       
       Das Abenteuer eines anderen Ichs erprobt Kentridge in vielen Werken. Er ist
       in der Physis von Ubu zu erkennen, wenn er in einer gleichnamigen Serie von
       Radierungen seine eigene Gestalt jeweils mit einem neuen Umriss versieht,
       oder in den neuen Papierbüsten, in denen er nach dem Vorbild von Picassos
       Absinthtrinker ein plastisches Abbild mit mehreren Persönlichkeiten von
       sich schuf.
       
       Am klarsten gelang Kentridge die Variation eines Alter Ego jedoch mit
       seinen bekanntesten fiktionalen Figuren, dem despotischen Bauunternehmer
       Soho Eckstein und dem poetischen Felix Teitelbaum, die er in seinem 1989
       begonnenen Filmzyklus "Johannesburg, zweitgrößte Stadt nach Paris"
       einführte. Ihnen ist der letzte Abschnitt der Ausstellung gewidmet: Neun
       kurze Animationsfilme begleiten Soho und Felix dabei, wie sie sich im
       letzten Jahrzehnt des südafrikanischen Apartheidregimes im politischen und
       sozialen Klima Johannesburgs durchzukämpfen haben.
       
       Am Ende der Ausstellung möchte man noch einmal von vorne beginnen - mit der
       Gewissheit, dass jedes größere Werk von Kentridge eine Synthese und eine
       Summe vorausgegangener Werke ist. Dem offenen Blick stellt er die innere
       Vision gegenüber - den Traumzustand und die damit verbundenen Möglichkeiten
       zu Metamorphose und Halluzination. In jenem Bereich der unbestimmten
       Mehrdeutigkeit ist es empfehlenswert, die Augen weit offen zu haben, um auf
       unkonventionelle Weise sehen zu lernen.
       
       ## Bis 30. Januar 2011, Albertina Wien, Katalog (Hatje Cantz), 39,80 Euro
       
       13 Dec 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jacqueline Rugo
       
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