# taz.de -- Vor und nach dem 7. Oktober: Soll sein Schulem
       
       > Unser Autor wuchs als Kind jüdischer Eltern in München auf, das
       > Olympia-Attentat prägte ihn stark. Heute lebt er als Journalist in London
       > und fragt sich, wo sein Platz ist.
       
 (IMG) Bild: „Soll sein Schulem“ ist Jiddisch für „Möge Friede sein“. Vater und Tante unseres Autors benutzten den Ausdruck früher oft
       
       Mit blutiger Lippe liege ich auf dem Kieselsteinboden, mitten in London.
       Mein Gesicht schmerzt, mein neues Jackett ist verdreckt. Ich frage mich, ob
       ich in der Lage bin, aufzustehen und ins Gemeindehaus zu gehen. Und was
       jetzt aus der Feier wird.
       
       Es ist ein Samstag im Oktober 2022, wir wollen die Bat-Mizwa meiner Tochter
       begehen. Wegen der Pandemie anderthalb Jahre verspätet. Lange hatten wir
       auf den Tag, der ihr religiöses Erwachsenwerden markiert, gewartet. Familie
       aus aller Welt war für die erste öffentliche Thora-Lesung meiner Tochter
       angereist, auch meine Mutter aus München.
       
       Das Auto ist voll beladen mit Häppchen für den späteren Empfang, vor dem
       Gemeindehaus suche ich nach einem Parkplatz. Ich steige aus und frage einen
       Mann mit Kleinlaster, wie lange er noch dort stehen würde. „Den ganzen
       Tag!“, antwortet er schroff, er habe gesehen, was für Leute in dem
       Gemeindehaus seien. „Für die fahre ich bestimmt nicht weg.“ Ich frage ihn
       ruhig, was er meint. „Das sind alles Mörder palästinensischer Kinder!“,
       sagt er.
       
       Ich will mit ihm reden, doch er wird zornig. „Hitler hatte recht!“, schreit
       er. Ich erkläre ihm, mein Vater habe die Schoah überlebt, ansonsten sei
       fast die ganze Familie von den Nazis ermordet worden. „Sie haben bestimmt
       etwas getan und hatten es verdient, ermordet zu werden“, entgegnet er.
       
       Der schlanke junge Mann mit Vollbart und Mütze läuft aufgebracht vor mir
       hin und her und hört nicht auf, Hitler zu beschwören. Ich schubse ihn von
       mir, will ihn fernhalten. Dann schlägt er mehrere Male zu. Ich versuche
       mich zu wehren, treffe ihn mit der Faust. Wie weit soll ich gehen, um mich
       zu verteidigen? Als ich das denke, schlägt er wieder zu. Da liege ich nun.
       
       Nachdem ich mich aufgerafft habe, laufe ich panisch ins Gemeindehaus. Ich
       will die anderen warnen. „Hier ist ein Antisemit, der mich angegriffen
       hat.“ Dann breche ich zusammen. Nur langsam begreifen die Anwesenden, die
       den Raum vorbereiten, was geschehen ist. Meine Tochter verständigt die
       Polizei und den Rettungsdienst, der Mann wird festgenommen. Als die Beamten
       ihre Gutachten fertig haben, wasche ich mir das Blut aus dem Gesicht und
       setze mich neben meine Tochter. Diese Bat-Mizwa lassen wir uns nicht
       nehmen. Trotz der Schmerzen, trotz des Aufruhrs.
       
       All das hat sich ein Jahr vor dem [1][7. Oktober 2023] zugetragen. Die
       propalästinensischen Proteste, die auf das schreckliche Massaker folgten
       und in meiner Wahlheimat Großbritannien besonders stark waren, kamen für
       mich nicht überraschend. Juden und Jüdinnen waren auch vorher schon ein
       Feindbild vieler Menschen in Großbritannien.
       
       Ich beschäftige mich bereits mein Leben lang mit Rassismus, Antisemitismus
       und Israelhass. Aus guten Gründen. Mein Vater, Jahrgang 1919, war ein
       jüdischer Schoah-Überlebender aus Polen. Er hat im Nationalsozialismus drei
       deutsche Arbeitslager und das Konzentrationslager Buchenwald durchleben
       müssen, wurde von der SS versklavt und geschunden. Seine Angehörigen wurden
       getötet, sein 12-jähriger Bruder und seine über 90 Jahre alte Großtante
       kamen nach Treblinka. Bei der Familie meiner Mutter sah es nicht besser
       aus. Mein Großvater, in München als Kind eines jüdisch-deutschen Vaters und
       einer deutschen Christin geboren, wurde bereits Anfang 1933 von der
       Politischen Polizei, den Vorgängern der Gestapo, fast zu Tode geprügelt.
       
       Monatelang war er im Konzentrationslager Dachau interniert, ehe er in die
       Niederlande fliehen konnte. Manchen aus seiner Familie gelang es ebenfalls,
       zu entkommen, andere wurden in Auschwitz und Trawniki ermordet. Ihr
       Eigentum wurde konfisziert und „arisiert“.
       
       Nach dem Krieg ging mein Vater zunächst nach Polen. Doch die christlichen
       Bewohner:innen seiner Heimatstadt Szczekociny wollten die überlebenden
       jüdischen Nachbar:innen nicht bei sich haben. Viele Jüdinnen und Juden
       zogen in die USA oder nach Israel, er aber ging nach München. Dort, im
       US-amerikanisch-besetzten Sektor Deutschlands, hatten Tausende Überlebende
       ein vorübergehendes jüdisches Viertel im Stadtteil Bogenhausen aufgebaut.
       Mein Vater eröffnete ein Geschäft, 1962 heiratete er meine Mutter, die im
       selben Viertel lebte.
       
       ## Wohnen im Olympischen Dorf: „Wie könnt ihr da leben?“
       
       Sein Leben in Deutschland verstand mein Vater als eine Art Widerstand gegen
       die Mörder seiner Familie. Er ließ keine Gelegenheit aus, Deutsche an ihre
       Schandtaten zu erinnern. Anhänger:innen der bayerischen
       Republikaner:innen sagte er auf dem Marienplatz noch mit über 80
       Jahren tapfer, was er von ihnen hielt. Wäre er noch am Leben, würde er
       heute wohl AfD-Sympathisant:innen die Meinung geigen. Bis zu seinem Tod im
       Jahr 2011 bestand sein Freundeskreis einzig aus jüdischen Überlebenden, für
       ihn wie eine Insel inmitten feindlicher See. Für mich, 1969 in München
       geboren, war die Situation anders: Ich bewegte mich zwischen seiner Welt
       und den nichtjüdischen Deutschen Nachkriegsdeutschlands – bis ich viele
       Jahre später nach England ging.
       
       Anfang der Siebziger, ich war ein Kleinkind, zogen wir in München
       ausgerechnet ins Olympische Dorf. Meine Eltern hatten dort vor den
       Spielen 1972 eine Wohnung gekauft. Das Dorf sollte der Ort des
       Internationalen, des Progressiven, der Zukunft werden. Doch am [2][5.
       September 1972], dem Geburtstag meiner Mutter, veränderte die
       palästinensische Terrorgruppe Schwarzer September diese Vision und die der
       heiteren Spiele. Bei uns lief der Fernseher, daran erinnere ich mich noch.
       Terroristen drangen in das Haus des israelischen Olympiateams ein. Israel
       wollte daraufhin bestens ausgebildete Einheiten zur Befreiung nach München
       fliegen, doch die Bundesregierung und der bayerische Staat lehnten ab. Das
       Blutbad hätte womöglich verhindert werden können.
       
       „Wie könnt ihr da leben?“, fragen unsere israelischen Familienmitglieder
       bei Besuchen in den Wochen und Monaten danach immer wieder. Sie meinen
       sowohl das Olympiadorf als auch Deutschland. Dabei hat meine Kindheit im
       Olympiadorf viele positive Aspekte. Es ist autofrei, mit bunten
       Ziegelsteinen gebaut, voller junger Familien mit Kindern, so alt wie ich.
       
       Eine Gedenktafel zur Erinnerung an die Opfer wird noch im Jahr des
       Anschlags vor dem ehemaligen Haus der israelischen Olympiamannschaft
       errichtet. Die steinerne rechteckige Tafel mit dem Staatsemblem Israels und
       den fünf olympischen Ringen in der Mitte listet die Namen der Ermordeten
       auf Hebräisch und auf Deutsch auf. Mittlerweile liegt dort eine über
       Jahrzehnte gewachsene Sammlung kleiner Steine, die Besucher:innen zu
       Ehren der Toten daraufgelegt haben wie auf ein Grab.
       
       Die Gedenktafel und die Steine sind lange Zeit das Einzige, das an diesem
       Ort an den Terror erinnert. Als Teenager pinsele ich den Schriftzug
       „Vergesst nicht 5. 9. 72!“ an mehrere Wände im Olympiadorf. Beim letzten
       Mal erwischt mich ein Passant und kippt wütend den Eimer Farbe über mich.
       Erst Mitte der Neunziger wird der sogenannte Klagebalken eingeweiht. Als
       einige Jahre später eine Gedenkstätte entstehen soll, protestieren
       Anwohner:innen dagegen. Ich setze mich in der Jüdischen Allgemeinen für
       den Bau ein. 2017, ganze 45 Jahre nach dem palästinensischen Terror, ist
       die Gedenkstätte fertig.
       
       Die Planer:innen hatten die geniale Idee, die Gedenkstätte mit einem
       begrünten Dach als eine Art „unterbrochenen“ Hügel in die wellige
       Landschaft zu bauen. Die Station beinhaltet Ausstellungsobjekte, Bilder und
       Lebensläufe der Ermordeten, Lerntafeln und audiovisuelle
       Hintergrundinformationen. Man wird im Zeitraffer durch die Ereignisse
       geführt. Die Botschaft ist eindeutig: Der Terror brachte den
       Palästinenser:innen überhaupt nichts und führte nur dazu, dass
       unschuldige Menschen starben.
       
       Das Olympiadorf, das Attentat, das Gedenken sind in mir, bis heute. Im
       Laufe meines Erwachsenenlebens werde ich immer wieder mit meinem
       Jüdischsein konfrontiert, sowohl in Deutschland als auch in Großbritannien.
       Ob im Gymnasium, wo ein Lehrer schamlos von seinen Einsätzen mit einem
       Sturzkampfbomber erzählt, in der Südkurve des FC Bayern, wo Fans Spieler
       der gegnerischen Mannschaft als „Saujuden“ beschimpfen, oder auf
       Friedensdemos, wo Zionismus und Israel immer wieder die Hauptfeinde sind.
       
       Israel ist ein ständiger Begleiter in meinem Leben. Meine Familie und ich
       besuchen Tel Aviv häufig, als ich klein bin. Ich erlebe dort die gleiche
       jiddisch sprechende Welt, die meinen Vater in München umgibt – eine Welt
       von Schoah-Überlebenden. 1979 gibt es den Friedensschluss mit Ägypten, wir
       verfolgen das von zu Hause aus wie gebannt. Mit dem verheerenden
       Libanonkrieg folgt 1982 ein Rückschlag, ehe sich das Land im Eiltempo auf
       weitere Friedensprozesse zubewegt. Auch die PLO ändert ihre Strategie.
       
       Als 15-Jähriger entschließe ich mich, München zu verlassen und nach Israel
       zu gehen. Ich will mehr über jüdische Geschichte und Religion lernen,
       meinen Schulabschluss machen. Ich glaube nicht mehr, dass alle Araber
       hinterhältig und böse sind. 1986, ein Jahr vor Ausbruch der ersten
       Intifada, wandere ich von meinem Internat aus ins nächstgelegene
       palästinensische Dorf Kafr-Qara, obwohl es uns verboten ist. Dort gehe ich
       in Cafés, treffe Männer, die mit mir über die Qualität deutscher Autos
       sprechen. Ich suche nach Kontakten zur palästinensischen Community und zu
       israelischen Friedensaktivist:innen wie Tuli, eine der jungen
       Jugendbetreuer:innen in meinem Internat, die mir sagt: Daniel, wir
       brauchen Leute wie dich in Israel. Nach Begegnungen wie diesen verstehe
       ich, warum ich in Israel bin: Ich suche nach Frieden.
       
       Spätestens, als [3][Jitzhak Rabin 1992] zum zweiten Mal Ministerpräsident
       wird, glaube ich auch an diesen Frieden, an ein Land, in dem Milch und
       Honig fließen. Ein jüdischer nationalistischer Rechtsextremist beendet
       diesen Traum 1995. Ich habe nie vergessen, dass Benjamin Netanjahu vor
       Rabins Tod eine der lautesten Gegenstimmen des Ministerpräsidenten ist.
       Meine persönliche Antipathie ihm gegenüber geht zurück in diese Zeit. Mein
       Abitur mache ich schließlich in Israel. Studieren will ich eigentlich in
       Bayern, weil ich dort verwurzelt bin und einen Job in Aussicht habe. Doch
       es gibt Probleme mit der Zulassung: Ein bayerischer Ministerialbeamter
       fordert ein Zeugnis meiner Deutschkenntnisse. Dabei bin ich gebürtiger
       Münchner, habe zehn Jahre an bayerischen Schulen gelernt und in Israel den
       Abi-Leistungskurs Deutsch belegt.
       
       Es verschlägt mich dann zum Studium an die SOAS University of London, die
       zu den besten der Welt gehört für Studien zum Nahen und Mittleren Osten,
       Afrika und Asien. Es dauert nicht lange, bis ich von der dortigen
       Studentenvertretung – die meisten harte, linke Engländer – als zweifacher
       Nazi klassifiziert werde: Ich bin ja nicht nur Deutscher, sondern habe auch
       noch Verbindungen nach Israel. Als ich ein deutschsprachiges
       Student:innenmagazin gründen will, werde ich angegiftet: „Wir
       unterstützen keine Nazibewegungen.“ Gaststudent:innen einer Universität
       in Gaza werden aufgefordert, nicht mit uns, den Jüdinnen und Juden und den
       Israelis an der Uni, zu sprechen. An den Wänden wird die Intifada
       gepriesen, die Student:innenvertretung lädt einen Sprecher der
       Hisbollah ein. Keiner hier ist an den Friedensverhandlungen interessiert.
       
       ## Kein Deutsch mehr sprechen
       
       Ende der Neunziger beginne ich ein Promotionsstudium in London. Thema: Wie
       legitim ist Gewaltanwendung in jüdischen und schwarzen nationalistischen
       und militanten Bewegungen? Ich habe mich selbst dabei immer als jemand
       gesehen, der sich gegen Gewalt positioniert. Auch deshalb angele ich mir
       schließlich einen Job als Presse- und Erziehungsbeauftragter für das
       israelisch-palästinensische, jüdisch-muslimisch-christliche und drusische
       Friedensdorf Wahat-al-Salam/Newe Schalom. Ich versuche, britische Medien
       auf das Dorf aufmerksam zu machen, bin verantwortlich für ein Lehrprogramm
       für englische Schüler:innen über Konfliktarbeit. Sonderlich groß ist das
       öffentliche Interesse an einer israelisch-palästinensischen
       Friedensinitiative nicht.
       
       Meine Doktorarbeit bringe ich nicht zu Ende, aus finanziellen Gründen.
       Bereits während meines Magisterstudiums habe ich mir geschworen, kein
       Deutsch mehr zu sprechen. Der industrialisierte Massenmord im „Dritten
       Reich“, Thesen wie jene von Daniel Goldhagen zur Mitschuld von
       Mitläufer:innen haben mich dazu gebracht. Schon in Israel hatte ich aus
       Deutschland stammende Juden kennengelernt, die kein Deutsch mehr sprechen
       wollten. Jetzt, in England, denke auch ich, dass ich mich mit diesem Land
       und der Sprache nicht mehr beschäftigen muss.
       
       Doch als ich 2008 Vater werde, ist Deutsch die einzige Sprache, in der ich
       Kinderlieder und -ausdrücke kenne. Das erste Wort meiner Tochter auf
       Deutsch ist „Hund“. Gemeinsam mit ihr entdecke ich die antiautoritären
       Kindersendungen der siebziger Jahre wieder, bestelle ganze DVD-Sammlungen
       von Löwenzahn, Rappelkiste und Kli-Kla-Klawitter. Sie hatten schon mich als
       Kind begeistert. Später absolviert meine Tochter erfolgreich die mittlere
       Reife, GCSE, im Fach Deutsch.
       
       2012 beginne ich als Korrespondent für die taz und die Jüdische Allgemeine
       zu arbeiten. Anlass sind ausgerechnet [4][die Olympischen Spiele in
       London]. Ich will die olympischen Athlet:innen Israels besuchen, sie
       porträtieren. Der gesamte Olympiakomplex ist militärisch abgesichert, ich
       muss für diesen Besuch zahlreiche Sicherheitskontrollen passieren. 40 Jahre
       nach dem Attentat sind israelische Teilnehmer:innen zwar sicherer bei
       diesem internationalen Fest der Begegnung, aber weniger frei als alle
       anderen Sportler:innen.
       
       Ende September 2019 findet in Brighton im Süden Englands ein
       Labour-Parteitag statt, von dem ich berichten soll. In dem Saal herrscht
       Begeisterung für Labour-Chef Jeremy Corbyn. Ein Meer voller
       palästinensischer Fahnen und Farben empfängt mich. Die Abzeichen sind nicht
       im Sinne einer Zweistaatenlösung, gemeint ist ein „Free Palestine“ ohne
       Israel. In der englischen Linken heißt es in dieser Zeit oft, der
       Antisemitismusvorwurf gegenüber Labour sei nur eine Kampagne und vom
       rechten Blair-Flügel in der Partei gesteuert. Die Jewish Voice for Labour
       (JVL) stützt diese Erzählung, sie ist vergleichbar mit der Jüdischen Stimme
       für gerechten Frieden in Nahost in Deutschland. Die Mitglieder sind also
       sehr palästinafreundlich gesinnte Juden. „Ich habe noch nie Antisemitismus
       in der Partei erlebt“, behauptet ein JVL-Mitglied. 5.000 Besucher:innen
       applaudieren frenetisch. Dabei waren kurz zuvor Mitglieder wegen
       Antisemitismus ausgeschlossen worden. Das Jewish Labour Movement, eine
       andere Strömung in der Partei, hatte Beschwerde wegen des parteiinternen
       Antisemitismus eingelegt. Es gab einen Untersuchungsausschuss.
       
       Meine Frau, meine Tochter und ich sind damals Mitglieder einer
       liberal-progressiven Synagoge in Ostlondon. Auch dort treffe ich auf
       Vertreter:innen der Jewish Voice for Labour und auf Antizionist:innen.
       Als ich nach der Berichterstattung über zahlreiche Terrorangriffe in
       England und mit Gedanken an 1972 dem damaligen Vorsitzenden der Synagoge
       vorschlage, Sicherheitspersonal einzustellen, lautet seine Antwort: „Die
       Mehrheit der Mitglieder glaubt, dass das nicht notwendig ist.“ Die Gemeinde
       hat den Kirchenraum zum jüdischen Gottesdienst nur gemietet, die Mitglieder
       sind größtenteils progressiv links. Deshalb würden Terrorist:innen und
       Antisemit:innen die Synagoge meiden, glaubt er. Ich frage mich: Waren
       denn die jungen Fans der US-amerikanischen Sängerin Ariana Grande in
       Manchester im Mai 2017 und die Besucher:innen eines Rockkonzerts in
       Paris klare Zielobjekte für Terror? Ich bin skeptisch, behalte meine
       Bedenken aber für mich.
       
       An jenem Samstag im Oktober 2022 vor der Bat-Mizwa meiner Tochter werde ich
       auf brutale Weise an diese Bedenken erinnert. Kurz darauf wechseln wir in
       eine andere Gemeinde. Eine mit Sicherheitsvorkehrungen und weniger JVLern,
       aber mit einem Rabbiner, der sich trotz allem stark für den Frieden und
       interreligiösen Austausch einsetzt. Dort bin ich selbst inzwischen
       regelmäßig einer der Freiwilligen, die zur Sicherheit in Schutzkleidung vor
       der Synagoge stehen. Bei meinen Einsätzen bin ich nie alleine.
       
       Der 7. Oktober 2023 ist Schabbat, der jüdische Ruhetag. Schon morgens in
       der Synagoge höre ich von einem Angriff auf ein Musikfestival in Israel,
       doch das Ausmaß ist nicht annähernd klar. Am nächsten Tag wollen wir
       eigentlich Simchat Thora feiern, den Tag, an dem die Heilige Schrift geehrt
       wird.
       
       Es wird ein furchtbares Simchat Thora. Wir alle in der Gemeinde haben die
       Berichte gehört und gelesen. Der 7. Oktober offenbart sich als das größte
       und brutalste Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Schoah, den Köpfen
       der perversen Führung der faschistisch-militant-islamistischen Hamas
       entsprungen, die von Iran und Katar freundlich unterstützt werden. Der Wahn
       hat vor niemandem Halt gemacht, nicht vor Kindern, nicht vor Frauen, nicht
       vor Greisen, nicht vor Friedensaktivist:innen, nicht vor Haustieren. Die
       Opfer müssen unglaubliche Qualen erlitten haben. Ada Sagi, die Mutter eines
       Gemeindemitglieds, lebt im Kibbuz Nir Oz und ist eine der Geiseln. 53 Tage
       wird sie in Gefangenschaft bleiben.
       
       Und was passiert nach diesen barbarischen Taten? Mehr als 100.000 Menschen
       demonstrieren wenige Tage später in London – gegen Israel. Mir versagt da
       die Sprache. Kaum ist das Massaker vorbei, zeigen Leute offen ihren Hass
       auf Israel, Zionist:innen, Jüdinnen und Juden. Es gibt sogar Freudenfeiern.
       In Berlin, in London. Die antiisraelischen Großdemonstrationen in London
       ziehen sich über Wochen. Sie beginnen noch vor dem Rückschlag der
       israelischen Streitkräfte. Ich überlege, ob es sicher ist, weiter in die
       Synagoge zu gehen, und entscheide mich dafür. Der Gemeinde wird geraten,
       keine erkennbar jüdischen Kopfbedeckungen zu tragen. In vielen Gegenden der
       Stadt sieht man antiisraelische Slogans, Geiselposter werden von den Wänden
       gerissen. Der [5][prominente Israelhasser Roger Waters] legitimiert kurz
       darauf die Taten der Hamas. Es sei „gerechtfertigt, sich der Besatzung zu
       widersetzen“.
       
       ## Linkssein und Israelsolidarität schließen sich in Großbritannien
       größtenteils aus
       
       Mitte November kontaktiert mich das ZDF, in einem Beitrag soll ich die
       Perspektive eines deutsch-jüdischen Journalisten in London schildern. Ich
       sage: „In den Demonstrationen höre ich die Echos der Rufe von 1933.“ Das
       ist nicht übertrieben. Ich besuche die Demonstrationen selbst. Es geht
       dabei niemandem um eine Zweistaatenlösung oder eine Einstaatenlösung, die
       beide Seiten beinhaltet. Zahlreiche Teilnehmer:innen wollen überhaupt
       keinen Frieden. Sie wollen den Untergang Israels.
       
       Auf den Demos wird Israel als völlig weißer Apartheid- und Kolonialstaat
       dargestellt, der People of Colour drangsaliert. Eine Bastion des den
       sogenannten Globalen Süden unterdrückenden Nordens. Zionist:innen werden
       als genozidale Verbrecher hingestellt. Die alte Leier, ganz nach
       Hitler-Playbook, erlebt ebenfalls ein Revival: von den Rothschilds bis zur
       jüdischen Weltverschwörung. Jüdinnen und Juden werden als Hauptgefahr für
       muslimische Menschen bezeichnet, die Queers for Palestine beginnen, ein
       Regime zu verteidigen, unter dem LGBTQIA+-Menschen wenig zu lachen hätten.
       Gruppen wie Amnesty International, manche UN-Organe und
       Staatsführer:innen verlieren ihre Glaubwürdigkeit.
       
       Im März 2024 berichte ich von einer Nachwahl in Rochdale in der Nähe von
       Manchester. Linkspopulist George Galloway will hier mit Palästina-Parolen
       die Stimmen der großen muslimischen Community gewinnen. Galloway erklärte
       einst als Abgeordneter im nordenglischen Bradford seine Stadt zur
       „israelfreien“ Zone – knapp vorbei an „judenfrei“. In einem Viertel in
       Rochdale, in dem viele einen muslimisch-pakistanischen Hintergrund haben,
       hängen Poster, auf denen groß die palästinensische Flagge mit Galloway
       darauf abgebildet ist. Bäcker, Restaurantbesitzer, Optiker und Juweliere:
       Alle preisen ihn hier. Ein Friseur zeigt mir auf seinem Handy ein Foto
       Galloways, das ihn in seinem Salon zeigt. In Galloways Parteizentrale
       treffe ich zwei ältere Engländer, die ihn als wahren Helden und Retter des
       Landes bezeichnen. Als Journalist habe ich über die Jahre gelernt, Ruhe zu
       bewahren, die Dinge zu beobachten, aufzuschreiben. Wenn ich in Gegenden
       fahre, wo Menschen feindlich auf mein Jüdischsein reagieren könnten, trage
       ich den Davidstern unter dem Hemd und verzichte auf eine Kippa. Dass mich
       solche Tage belasten, merkt oft erst meine Frau, wenn ich abends nach Hause
       komme.
       
       Linkssein und Israelsolidarität schließen sich in Großbritannien
       größtenteils aus: Die englischen Grünen, bei deren Parteitagen ich oft
       einer der ganz wenigen Auslandskorrespondenten bin, erklären zu den
       Nationalwahlen 2024, ein Ende aller Waffenexporte an Israel sei ihr Ziel.
       Es ist die einzige außenpolitische Positionierung ihres gesamten
       Wahlprogramms.
       
       Ende August 2024 besuche ich Sheik Ibrahim Hussein, den Imam von
       Southport. Er ist mit seiner Gemeinde ein paar Wochen zuvor von
       Rechtsextremen angegriffen worden. Nun hat die Moschee ein neues
       Überwachungssystem installiert und Sicherheitsleute vor der Tür. Hussein
       zeichnet mir gegenüber ein Bild, in dem Muslime Juden immer gut behandelt
       hätten. Nach dem Massaker des 7. Oktober, nach Pogromen in Nordafrika,
       Irak, Iran, Syrien oder Ägypten gegen Juden so etwas zu behaupten, kann ich
       nicht nachvollziehen. In der Empfangshalle seiner Moschee liegen Flyer der
       Southport Friends of Palestine, die Israel als kolonialen Apartheidstaat
       beschreiben, dessen Einwohner selbst Tiere schlecht behandeln würden. Gerne
       hätte ich Hussein in diesem Moment mit meiner Lebenserfahrung konfrontiert,
       aber erstens bin ich alleine unterwegs und zweitens eigentlich für eine
       andere Story hier. Um professionell zu bleiben, halte ich mich zurück.
       
       Doch nicht ganz England ist israelfeindlich gesinnt. Im Herbst 2024 fahre
       ich an einem verregneten Tag nach Manchester. Dort findet der Parteitag der
       Torys statt. Er ist weniger stark besucht als sonst, die Torys sind nicht
       mehr Regierungspartei. Fast alle Parteimitglieder, mit denen ich spreche,
       erwähnen ungefragt den wachsenden Antisemitismus und den Angriff auf
       Israel. Sie geben sich solidarisch. Ich gebe mich offen als Jude zu
       erkennen, bin allerdings auch derjenige, der die Sorge über die israelische
       hart rechte Regierungskoalition, die sinkende Hoffnung auf Frieden und eine
       Zweistaatenlösung erwähnen muss.
       
       Die Solidarität, die ich hier erfahre, ist das eine. Dann ist da noch die
       auffällige Diversifizierung der britischen Konservativen, es gab bisher
       einen Parteiführer indischen und eine Parteiführerin nigerianischen
       Hintergrunds, insgesamt vier Frauen an der Spitze. Ich frage mich in
       Manchester, ob ich nach zwölf Jahren bei der linken taz plötzlich den
       Konservativen nahestehe, ob sich mein Weltbild gerade ändert. Fast bin ich
       erleichtert, als ich merke, dass ich vieles andere ablehne: die
       Umweltpolitik und die Rhetorik, wenn es um Fragen der Migration, der
       LGBTQIA+-Community oder der Folgen des Kolonialismus geht.
       
       Wo ist Platz für einen progressiven Juden wie mich heute in Großbritannien?
       Im liberal-grünen Spektrum fühle ich mich immer noch am ehesten zu Hause.
       Eigentlich aber bin ich parteilos. Ich fühle mich wie der letzte
       Dinosaurier einstiger israelischer zivilrechtlicher und friedensbemühter
       Parteien am linken Flügel, wie Ratz und Meretz, die beide nicht mehr
       existieren. Fernab meiner Rolle als Journalist, in der ich sowieso kritisch
       über alle Parteien und Gruppen berichte.
       
       Um den besonderen Status Israels zu verstehen, bedarf es eigentlich nicht
       viel: Jüdische Menschen sind eine über zwei Jahrtausende verfolgte
       Minderheit, sowohl in Europa als auch im Nahen Osten und im Globalen
       Süden. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass sich genug Menschen
       unserer Geschichte bewusst und bereit sind, sich für uns und einen
       jüdischen Mehrheitsstaat einzusetzen. Was wiederum nicht bedeutet, dass
       ultrarechte nationalistische Israelis nicht zur Verantwortung gezogen
       werden sollten oder dass der militärische Einsatz in Gaza nicht kritisiert
       werden darf. Israel hat ein Recht, sich zu verteidigen, doch wie weit das
       geht, bleibt in jedem Konflikt wichtig.
       
       Vor dem 7. Oktober gingen die Menschen in Israel und anderswo auf die
       Straße. Sie demonstrierten gegen den Ausverkauf der israelischen Demokratie
       unter der ultrarechten Koalitionsregierung Netanjahus. Auch ich zählte zu
       diesen Menschen. Bis zum Tag der Massaker war mein Mantra immer, dass auf
       beiden Seiten die moderaten und Frieden suchenden Stimmen gestärkt werden
       müssten. Leider geschah das viel zu wenig. Das Friedensdorf, für das ich
       einst arbeitete, ist nur eine der vielen Initiativen, die Jahr für Jahr
       trotz hervorragender Arbeit knapp bei Kasse waren, weil sie nicht genug
       gefördert wurden.
       
       Ich habe fast 13 Jahren lang an zwei teils autobiografischen Büchern
       gearbeitet. „Soll sein Schulem“ habe ich sie genannt. Zu Deutsch: „Möge
       Frieden sein“. Der Ausdruck bedeutete für Überlebende der Schoah, wie
       meinen Vater oder meine Tante Ruszke, die im KZ Bergen-Belsen war, nicht
       nur eine Hoffnung in Bezug auf jüdische Menschen oder den Staat Israel. Das
       Wort Schulem stand auch für die Sehnsucht nach Ruhe und einem friedvollen
       Leben, ohne die alles überwiegenden Ängste, Nöte und Albträume. 80 Jahre
       nach der Schoah, nach der versuchten Zerstörung Israels 1948 und
       zahlreichen Terrorangriffen, nach dem 5. September 1972 und dem 7. Oktober
       2023, nach Krieg, nach Hass, nachdem ich mit den Worten „Hitler hatte
       recht“ zu Boden geschlagen wurde, muss es heißen: „Soll sein Schulem.“ Ich
       bettele nicht darum, ich fordere es.
       
       Daniel Zylbersztajn-Lewandowski arbeitet aktuell an der englischen
       Übersetzung seiner Buchserie. Sie ist im BoD-Verlag erschienen.
       
       3 Mar 2025
       
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