# taz.de -- Expertin über Kindergrundsicherung: „Wir müssen Familien einfacher und fairer unterstützen“
       
       > Franziska Vollmer sollte im Familienministerium die Kindergrundsicherung
       > umsetzen. Sie hielt die Idee für falsch – und will eine noch größere
       > Reform.
       
 (IMG) Bild: „Armut von Kindern und Armut von Familien zusammen adressieren“: Die Juristin Franziska Vollmer
       
       taz: Frau Vollmer, mit dem [1][Ampel-Aus] ist auch die Einführung der
       Kindergrundsicherung erst mal vom Tisch. Wie erleichtert sind Sie? 
       
       Franziska Vollmer: Sehr. Ich hoffe, dass sie dauerhaft vom Tisch ist und
       sich nun ein breites Bündnis gemeinsam um realisierbare Verbesserungen in
       der Grundsicherung bemüht – für Kinder, Familien und alle anderen auch.
       Denn die Probleme bestehen fort. Die Grundsicherungsleistungen sind nicht
       fair und schwer zugänglich.
       
       taz: Ursprünglich sollten Sie als Referatsleiterin im
       Bundesfamilienministerium die Kindergrundsicherung umsetzen. Anfang 2023
       haben Sie Ihren Job aufgegeben. Weil Sie mit dem Projekt schon damals nicht
       einverstanden waren? 
       
       Vollmer: Die Idee Kindergrundsicherung hatte viel mehr versprochen, als sie
       halten konnte. Letztlich war sie ein Luftschloss. Ich habe dann gedacht,
       dass ich zum Thema konstruktiver von außen beitragen kann als innerhalb des
       Ministeriums.
       
       taz: Wann war Ihnen klar, dass Sie für falsch halten, woran Sie arbeiten? 
       
       Vollmer: Das Ministerium hatte sich schon in früheren Legislaturperioden
       dem Thema zugewandt – sehr zurückhaltend allerdings, weil es von vornherein
       Zweifel gab. Die wurden im Ministerium, mit Parteien und Verbänden immer
       wieder thematisiert. Die Bedenken sind aber nicht durchgedrungen. Im
       Ergebnis haben sich die Zweifel in dieser Legislatur dann voll bestätigt:
       Für Kinder in Armut hätte das Projekt keine Erleichterungen gebracht.
       
       taz: Viele Sozialverbände favorisieren noch heute die Pläne vom Beginn
       dieser Legislaturperiode: Diverse bisherige Leistungen werden gebündelt.
       Alle Kinder bekommen einen Garantiebetrag. Für Bedürftige gibt es einen
       Zusatzbetrag. Das Geld wird durch eine zentrale Stelle automatisch
       ausgezahlt. Was wäre daran falsch? 
       
       Vollmer: Einheitliche Leistungen für Kinder klingen zwar gut, schaffen in
       der Praxis aber Schwierigkeiten. Bisher werden Kinder im Bürgergeldbezug
       zusammen mit ihren Eltern über das Jobcenter abgesichert. Einkommen und
       Bedarfe der Familien werden dort geprüft. Schiebt man die Kinder in eine
       neue Leistung, muss die dafür zuständige Behörde das Gleiche noch mal
       prüfen. Das ist ein erheblicher Zusatzaufwand.
       
       taz: Und wenn das Jobcenter sein Prüfergebnis einfach an die neue Stelle
       weiterleitet, wie es sich Befürworter*innen vorstellen? 
       
       Vollmer: Die Vorstellung, dass die Information automatisch an eine zweite
       Behörde geht und dort unmittelbar die Höhe des Kinderzusatzbetrags
       verändert, ist illusorisch. Dafür bräuchte man IT-Systeme, die
       zusammenpassen. Man bräuchte zumindest irgendeine Art von Prüfung, weil
       jede Behörde ja eigene Entscheidungen trifft. Man hätte zwei
       unterschiedliche Bescheide, im Zweifel also auch zwei Widerspruchs- und
       zwei Gerichtsverfahren. Das kann man nicht alles mit einem Mausklick
       erledigen.
       
       taz: Von der Zusammenlegung der Leistungen für Kinder hatte sich auch die
       Ampel im Laufe ihrer Verhandlungen verabschiedet. An einer anderen Stelle
       schien dagegen bis zum Regierungsbruch eine Einigung möglich. Bisher nehmen
       viele Familien, denen ein Zuschlag zum Kindergeld zusteht, diesen nicht in
       Anspruch, weil sie nichts davon wissen. Künftig sollten die Behörden mit
       dem Kindergrundsicherungscheck prognostizieren, ob eine Familie Anspruch
       haben könnte, und ihr den Antrag dann nahelegen. Wäre es nicht sinnvoll,
       wenn die nächste Regierung zumindest diesen Punkt umsetzt? 
       
       Vollmer: Die Inanspruchnahme ist allein schon durch die Debatte zum Thema
       gestiegen. Früher bezogen rund 750.000 Kinder den Kinderzuschlag, jetzt
       sind es über eine Million. Das ist ein riesiger Fortschritt. Ich sage:
       Lasst uns mit einer Kampagne für den Zuschlag werben! Dann könnten wir die
       Anzahl der Kinder, die den Zuschlag bekommen, auch im jetzigen System
       weiter erhöhen. Das würde viel mehr bringen als der
       Kindergrundsicherungscheck, den die Ampel geplant hatte.
       
       taz: Hat die Politik unterschätzt, wie komplex das Projekt ist? 
       
       Vollmer: Ja. Aber spätestens, als die Regierung konkret am Gesetzentwurf
       gearbeitet hat, hätten es alle merken können.
       
       taz: Hat [2][Lisa Paus] als zuständige Ministerin versagt? 
       
       Vollmer: Das Problem war der große politische Druck. Die Idee klang gut,
       und das [3][Bündnis Kindergrundsicherung] hat sie über Jahre erfolgreich in
       die verschiedensten Bereiche getragen. Es ist schwer, sich einzugestehen,
       dass die Kindergrundsicherung nicht funktioniert – man will ja zu den Guten
       gehören.
       
       taz: Was müsste aus dieser Erkenntnis für die nächste Bundesregierung
       folgen? 
       
       Vollmer: Meine Vorstellungen, wie man das Problem wirklich lösen kann,
       gehen über eine Legislaturperiode hinaus. Wir müssen Armut von Kindern und
       Armut von Familien zusammen adressieren. Und das so, dass das System fair
       ist und von allen verstanden wird. Dafür reicht es eben nicht, nur die
       Leistungen für die Kinder zusammenzufassen, wie es die Kindergrundsicherung
       versucht hat. Meines Erachtens braucht es eine einzige
       Grundsicherungsleistung, ein einziges System für alle Familien – und immer
       für die ganze Familie.
       
       taz: Momentan gibt es zwei Systeme: Familien ohne oder mit sehr kleinem
       Einkommen bekommen das Bürgergeld. Wer dafür zu viel verdient, aber
       trotzdem nicht über die Runden kommt, kann den Kinderzuschlag und Wohngeld
       beantragen. 
       
       Vollmer: Diese drei Leistungen müsste man in einer zusammenfassen.
       
       taz: Welche Vorteile hätte das? 
       
       Vollmer: Es gäbe nur ein Ministerium, eine Behörde, die verantwortlich ist
       und deren Verfahren digitalisiert werden muss. Familien mit knappen
       Einkommen wüssten, wo sie den Antrag stellen müssen. Es gäbe nur einen
       Bescheid und im Streitfall nur ein Gerichtsverfahren. Zudem könnten wir
       eine große Ungerechtigkeit adressieren.
       
       taz: Nämlich? 
       
       Vollmer: Wir könnten das Ganze in dem Sinn fair ausgestalten, dass sich
       eigene Leistung immer lohnt. Wer zusätzliches Erwerbseinkommen hat, muss
       davon etwas behalten dürfen. Das ist im Moment durch das Zusammenspiel von
       drei Leistungen, die nicht gut zusammenpassen, nicht gewährleistet. Es gibt
       viele Fälle, in denen Eltern 1.000 Euro brutto mehr verdienen, am Schluss
       aber kaum einen Cent mehr zur Verfügung haben. Ich halte das
       sozialpolitisch für einen Skandal.
       
       taz: Wäre das, was Sie beschreiben, nicht eine noch viel größere Reform als
       die Kindergrundsicherung? 
       
       Vollmer: Doch. Das wäre eine wirklich große Verwaltungsreform. Die neue
       Leistung müsste allein beim Ministerium für Arbeit und Soziales angesiedelt
       sein. Sowohl Wohn- als auch Familienministerium müssten Leistungen abgeben,
       Behörden müssten völlig neu strukturiert und zum Teil abgewickelt werden.
       Der Bund müsste sich mit Ländern und Kommunen einigen. Es gäbe große
       Veränderungen beim Bürgergeld, das sinnvollerweise als Grundlage dienen
       würde. Die Jobcenter oder eine entsprechende Struktur müsste ausgebaut
       werden. Dabei gibt es noch ein beachtliches Gegenargument.
       
       taz: Das wäre? 
       
       Vollmer: Die Stigmatisierung der Empfänger*innen. Aber die liegt zum großen
       Teil am Staat selbst, der die einkommensschwachen Familien spaltet in
       diejenigen mit den „guten“ Leistungen Kinderzuschlag und Wohngeld – und
       diejenigen mit Bürgergeld. Wir müssen zu einer Haltung kommen und auch
       Kampagnen in dem Sinne machen, dass Sozialleistungen das gute Recht der
       Menschen sind. Es wird ja auch niemandem angekreidet, Steuervergünstigungen
       in Anspruch zu nehmen.
       
       taz: Die CDU fordert in ihrem Konzept für eine „Neue Grundsicherung“ das,
       was Sie vorschlagen: Perspektivisch soll es eine einheitliche Struktur für
       alle Leistungen geben. Trauen Sie ausgerechnet einer Regierung unter
       Friedrich Merz einen Schritt nach vorne zu? 
       
       Vollmer: Bisher ist über die „Neue Grundsicherung“ der CDU vor allem zu
       hören, dass die Regelsätze gekürzt werden sollen. Das geht an den
       Herausforderungen völlig vorbei. Von dem Bild ausgehend, dass sich viele in
       der Grundsicherung „ausruhen“ würden, wird ausgeblendet, dass die Mehrzahl
       der Betroffenen die Unterstützung dringend benötigt. Das sind Menschen mit
       körperlichen oder psychischen Erkrankungen, mit umfangreichen Pflege- oder
       Care-Aufgaben, mit unzureichenden Qualifikationen und viele, viele Kinder,
       denen wir mit Leistungskürzungen und Stigmatisierungen die Zukunftschancen
       weiter erschweren würden.
       
       taz: Der Diskurs richtet sich derzeit stark gegen
       Bürgergeldempfänger*innen, die CDU trägt kräftig dazu bei. Könnte sie einen
       kompletten Umbau der Sozialsysteme nicht zum Anlass nehmen, die Leistungen
       ganz zusammenzustreichen? 
       
       Vollmer: Leistungskürzungen lassen sich bei Veränderungen des Systems nicht
       leichter durchsetzen als sowieso schon. Auch aktuell ist eine Nullrunde in
       der Grundsicherung vorgesehen, bei den Asylbewerberleistungen soll es sogar
       zu Kürzungen kommen. Meines Erachtens müssen wir uns so oder so wieder in
       die Lage bringen, inhaltlich und faktenbasiert zu diskutieren. Seit
       Bestehen der Bundesrepublik verästeln wir unser Sozialsystem immer weiter.
       Selbst die Abgeordneten können kaum noch informiert entscheiden. Das System
       muss deshalb wieder so einfach werden, dass wir fragen können: Wie sehr
       wollen wir Kinder und Familien unterstützen?
       
       taz: Eine so große Reform erscheint kurzfristig aber noch unrealistischer
       als die Einführung der Kindergrundsicherung. 
       
       Vollmer: Zivilgesellschaft, Parteien und Wissenschaft müssten sich trauen,
       das Problem zu benennen, und bereit sein, Einzelinteressen und
       institutionelle Interessen zurückzustellen. Dann wäre die große Reform
       innerhalb von zwei, drei Legislaturperioden realisierbar. Mir ist wichtig,
       dass bei Sozialreformen die bürokratische Machbarkeit mitdiskutiert wird
       und die Digitalisierung des Vollzugs durch mehrere Behörden nicht als
       Allheilmittel fantasiert wird. Das System kann nicht bleiben, wie es ist.
       Auf Dauer müssen wir Familien einfacher und fairer unterstützen.
       
       17 Dec 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Scheitern-der-Ampelkoalition/!6047493
 (DIR) [2] /Lisa-Paus-Kindergrundsicherung/!6026503
 (DIR) [3] https://kinderarmut-hat-folgen.de/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Patricia Hecht
 (DIR) Tobias Schulze
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Kindergrundsicherung
 (DIR) Sozialpolitik
 (DIR) Kinderarmut
 (DIR) Social-Auswahl
 (DIR) Feminismus
 (DIR) Kinderarmut
 (DIR) Schwerpunkt Armut
 (DIR) Kinderarmut
 (DIR) Lisa Paus
 (DIR) Schwerpunkt Armut
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Bundesbehörden: Mehr Frauen schaffen es in Führungspositionen
       
       In der Bundesverwaltung ist mittlerweile fast die Hälfte der
       Führungspositionen mit Frauen besetzt. Ein Ministerium sticht besonders
       hervor.
       
 (DIR) Monitor zu Jugendarmut: Viele junge Menschen bleiben arm
       
       Armut unter Jugendlichen ist in Deutschland weit verbreitet. Die Folgen:
       Schlechterer Zugang zu Bildung, bezahlbarem Wohnen und sozialer Teilhabe.
       
 (DIR) Zwischen Bankenviertel und Suppenküche: Hartes Pflaster
       
       Zürich ist eine der wohlhabendsten Städte der Welt – und hat eine höhere
       Armutsquote als viele EU-Länder. Warum ist das so?
       
 (DIR) Kinderarmut: Schulstart belastet Familien
       
       Der Sozialverband VdK sieht die hohe Kinderarmut in Nordrhein-Westfalen mit
       Sorge. Artikel wie Schulranzen könnten sich viele nicht leisten.
       
 (DIR) Lisa Paus' Kindergrundsicherung: Was am Ende übrig bleibt
       
       Familienministerin Lisa Paus wollte mit der Kindergrundsicherung gegen
       Kindesarmut ankämpfen. Doch das Großprojekt schrumpfte. Und jetzt?
       
 (DIR) Kinderarmut in Deutschland: Jedes siebte Kind armutsgefährdet
       
       Mehr als zwei Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland sind von
       Armut bedroht. Das entspricht einem Anteil von 14 Prozent aller
       Minderjährigen.