# taz.de -- Buch über Ostdeutschland: Jahrzehnte des Zorns
       
       > Der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ruft die Ostdeutschen
       > dazu auf, die eigene Opferrolle und die ewige DDR-Nostalgie endlich
       > abzulegen.
       
 (IMG) Bild: Als die ostdeutsche Wut noch klar fokussiert war: brennendes Plakat mit einem Foto von Erich Honecker, 1990
       
       Wir leben im Zeitalter des Zorns. So beschrieb 2017 der indische Publizist
       Pankaj Mishra die Kehrseite der Moderne. Diese produziert einige Gewinner
       und eine Legion an Verlierern. Deren Ressentiments befeuern die
       Zornideologien unserer Zeit. Was Mishra im Weitwinkel erkennt, lässt sich
       im Kleinen übertragen: Ostdeutschland, das dieser Tage mit 35
       Jahre-Mauerfall-Literatur bedacht wird, ist mit den Transformationsjahren
       in seine eigenen Jahrzehnte des Zorns eingetreten.
       
       Wut auf „die da oben“, auf die Grünen, auf den Westen scheinen
       Gefühlsregungen der Abwehr zu sein, die Teile der ostdeutschen Gesellschaft
       in die Arme autoritärer Ideologien treibt. Lange schien eine
       gesellschaftliche Mitte dieser Wut mit Verständnis zu begegnen, doch
       neuerdings entsteht eine Stimmung der Gegenwut. Einer, dem es so richtig
       reicht, ist der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der in seinem neuen Buch
       der ostdeutschen Gesellschaft einen „Freiheitsschock“ attestiert.
       
       Das Buch ist ein Nachdenken über Freiheit und antifreiheitliche
       Ressentiments. Der Autor sieht große Teile der ostdeutschen Gesellschaft
       nicht in der Freiheit angekommen. Stattdessen sehnten sie sich nach
       patriarchaler Fürsorge. In den ersten Nachwendejahren konnte diese noch von
       Übervätern wie Helmut Kohl oder alten Autoritäten wie der PDS befriedigt
       werden, nun geht der Blick zur AfD oder gleich nach Russland, so der Autor.
       
       Kowalczuks eigener Freiheitsbegriff speist sich aus den großen Theorien des
       bürgerlichen Liberalismus, vor allem Karl Popper ist ein zentraler
       Bezugspunkt. Das verbindet ihn mit Figuren wie Joachim Gauck oder anderen
       ehemaligen Bürgerrechtlern, die einer jahrelangen Beschallung durch den
       Marxismus-Leninismus einen vom gesellschaftlichen Sein befreiten
       Freiheitsbegriff entgegenstellen: Das selbstbestimmte Subjekt ist Souverän
       seiner eigenen Freiheitsmöglichkeiten.
       
       ## Mythen von Freiheit und Unfreiheit
       
       Mit klarer Überzeugung zerlegt Kowalczuk schließlich all das, was er als
       Mythen von Freiheit und Unfreiheit identifiziert: Die ostdeutsche Wut redet
       die Ketten herbei, die es sich selbst anlegt. Das liegt auch daran, dass
       ein Großteil sich nie als politisches Subjekt konstituiert hat.
       
       Die DDR war zwar ein ideologiereiches, aber politikarmes Land, das keine
       Möglichkeiten der Partizipation vorsah. Und die Friedliche Revolution wurde
       entgegen allen Verklärungen vor allem durch eine kleine Minderheit gemacht,
       während die Mehrheit hinter den Gardinen zuschaute. Und nun machen sich
       auch noch [1][Einlassungen wie die von Dirk Oschmann] daran, die
       ostdeutsche Gesellschaft endgültig zu entmündigen, indem sie sie zu einer
       westdeutschen Erfindung degradieren.
       
       Die Widerborstigkeit des Autors ist erfrischend, schreibt sie doch
       [2][gegen den irrlichternden Kitsch] an, dass man dem Autoritarismus nur so
       lange ein offenes Ohr hinhalten müsse, bis er sich politisch erledigt habe.
       Stattdessen nimmt Kowalczuk die Gesellschaft in die Pflicht, sich in „die
       eigenen Angelegenheiten einzumischen“.
       
       Dem Temperament des Autors mag es geschuldet sein, dass diese Ermunterung
       im Ton der Berliner-Schnauzigkeit daherkommt, genauso wie er in diesem Buch
       weiter am Image des ewigen Außenseiters dreht, obwohl er mittlerweile zu
       den meistrezipierten Historikern des Landes gehört.
       
       ## Soziale Frage
       
       Dass der Einladung des Autors wenige folgen werden, liegt nicht nur daran,
       dass er die Tür rhetorisch schon zugeworfen hat, bevor die ersten Gäste
       angekommen sind, sondern auch weil sein Freiheitsbegriff wiederum
       ideologische Verbohrtheiten produziert: In seinem Kampf um die Freiheit
       müssen Opfer gebracht werden, eines dieser Opfer ist die soziale Frage.
       
       Kowalczuk möchte den Blick auf die Transformationsjahre vom starken Fokus
       auf ihre sozialen Verwerfungen befreien und entökonomisiert damit die
       politische Entwicklung Ostdeutschlands. So begibt sich die Diskussion
       allerdings ohne Not auf einen Pfad der Übervereinfachung und
       „Freiheitsschock“ beweist einmal wieder: Ein Schritt nach vorne kann auch
       einer im Kreis sein.
       
       30 Aug 2024
       
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