# taz.de -- „Hillbilly-Elegie“ von J.D. Vance: Aufstieg für Abgehängte
       
       > Unser Autor hat „Hillbilly-Elegie“ von J. D. Vance beim Erscheinen
       > positiv besprochen. Jetzt, da Vance als Trumps Vize nominiert ist, liest
       > er das Buch erneut.
       
 (IMG) Bild: Der republikanische Vizepräsidentschaftskandidat J.D. Vance beim Parteitag der Republikaner
       
       Wie kann ein Mann, der von tief unten kommt und über seine schwere Kindheit
       und Jugend ein grandioses Buch geschrieben hat, das auf Anhieb zum New York
       Times-Bestseller wurde, obwohl der Autor ein unbeschriebenes Blatt war, wie
       kann ein solcher Mann, der es geschafft hat, dem Schlamassel seiner
       Herkunft zu entkommen, den alten, längst ausgeträumten amerikanischen Traum
       noch einmal Wirklichkeit werden lassen und vom Tellerwäscher zum Millionär
       aufsteigen?
       
       J. D. Vance ist 39 und wurde auf dem Parteitag der Republikaner von Trump
       [1][zu seinem Vizekandidaten] ernannt. „J. D. is kissing my ass, he wants
       my support“, wurde Trump zitiert, der mit dieser beiläufigen Bemerkung zu
       verstehen gab, dass er sich wie jeder autoritär denkende Machtmensch gerne
       mit Leuten umgibt, die ihm nicht widersprechen. Das hat viel mit
       Erniedrigung und einem Belohnungssystem zu tun, in dem Unterwürfigkeit,
       Hörigkeit und Vasallentreue die entscheidenden Charaktereigenschaften sind,
       die nötig sind, um in der politischen Hierarchie eines ganz auf Trump
       zugeschnittenen Systems aufzusteigen.
       
       Für diese außergewöhnliche Karriere benötigt man eine opportunistische
       Ader, die über das übliche Maß hinausgeht. Hinter der Biografie von J. D.
       Vance verbirgt sich jedoch eine Geschichte, die er [2][in seinem Buch
       „Hillbilly-Elegie“] niedergeschrieben hat, in dem sich nachlesen lässt, wie
       in der weißen Arbeiterschaft ein Milieu entstehen konnte, in dem die
       Abneigung gegen das politische Establishment so groß ist, dass man sogar
       gegen seine eigenen Interessen zu wählen bereit ist.
       
       1984 in Middletown, Ohio aufgewachsen, erlebt Vance hautnah den Niedergang
       einer Region, die zum Rust Belt wurde, also zum verrosteten Eisen, das in
       besseren Zeiten dort einmal verarbeitet wurde. Die Leute verlieren ihren
       Job, sitzen in ihren noch nicht abbezahlten Häusern, resignieren, fangen an
       zu trinken, kriegen frühzeitig Kinder, und nicht selten landen sie
       irgendwann im Knast.
       
       Die Erinnerung daran, dass man früher stolz auf seine Arbeit sein konnte,
       verflüchtigt sich, es bleibt ein grundsätzliches Misstrauen gegen jede
       Veränderung, jedes Versprechen und alles Neue. Die „Hillbillys“, d. h. die
       „Hinterwäldler“ aus den Appalachen, sind die Stammwählerschaft Trumps, hier
       ist das Land der Waffenlobby. Vance wächst in diesem Milieu auf. Die Mutter
       ist drogenabhängig und Alkoholikerin, hat ständig wechselnde Partner, der
       Vater ist verschwunden, der Sohn antriebslos, pummelig und ständig auf der
       Hut vor der nächsten Katastrophe, die jederzeit über ihn hereinbrechen
       kann.
       
       Liest man die „Hillbilly-Elegie“ vor dem Hintergrund der Karriere noch
       einmal, fällt einem auf, dass der Bucherfolg auf einer gewissen
       Sozialromantik beruht, die durchaus mit Vance’ [3][reaktionären Positionen]
       als Trump-Vize in Einklang gebracht werden kann, und dafür muss man nicht
       mal wissen, dass ihm schon immer die Tränen gekommen sind, wenn er Lee
       Greenwoods Parteitagshymne „Proud to be an American“ hörte.
       
       J. D. Vance erzählt in seinem Buch eine Geschichte, die sehr
       aufschlussreich ist, weil er damit zeigen will, dass die prekäre materielle
       Situation bestenfalls ein Teil der Erklärung für den Niedergang sein kann.
       Ausführlich legt er dar, wie er in einem mittelständischen Betrieb für
       Fliesen arbeitet. Die Bezahlung ist gut, die Arbeit allerdings körperlich
       anstrengend. Trotz hoher Arbeitslosigkeit gelingt es den Abteilungsleitern
       nicht, den von Vance vorübergehend ausgeübten Job mit einem festen
       Angestellten zu besetzen.
       
       Einer seiner Kollegen ist 19 und hat kurz vor Vance angefangen. Vance nennt
       in „Bob“. Bobs Freundin ist schwanger und der Geschäftsführer bietet ihr
       „netterweise“ einen Job am Schreibtisch an, wo sie Telefonate
       entgegennehmen soll.
       
       „Beide machten ihren Job sehr schlecht“, schreibt Vance. Die Freundin
       erscheint nur jeden dritten Tag oder zu spät, Bob fehlt einen Tag in der
       Woche und verschwindet viermal am Tag für längere Zeit auf der Toilette.
       Bob hatte also vermutlich keine Lust zu arbeiten. Er ist die
       personifizierte Erinnerung an Vance’ eigene Jugend.
       
       ## Keine echte Sympathie für Abgehängte
       
       Aber wie geht Vance damit um? Ein Kollege und Vance stoppten die Zeit, die
       Bob auf dem Klo verbrachte, und riefen dann quer durch die Lagerhalle die
       rekordverdächtige Zeit. „Schließlich wurde Bob entlassen“, schreibt Vance
       lapidar. Kein Wunder bei solchen Kollegen, könnte man hinzufügen, denn
       Vance hatte im Kleinen nichts anderes gemacht als Bild, der es immer eine
       Schlagzeile wert ist, wenn sich ein derartiges Obstruktionsverhalten der
       „faulen Unterschicht“ anprangern lässt.
       
       Vance hegt für die Abgehängten also doch nicht Sympathien, wie er in seinem
       Buch immer wieder behauptet, sondern nur, wenn sie sich an den eigenen
       Haaren aus dem Sumpf ziehen. Nicht sehr einfühlsam schreibt er: „Die Leute
       an Orten wie Middletown reden ständig darüber, wie hart sie arbeiten. Man
       kann durch die Stadt gehen, in der dreißig Prozent der jungen Männer
       weniger als zwanzig Stunden in der Woche arbeiten, und keinen einzigen
       Menschen finden, der sich seiner eigenen Faulheit bewusst ist.“
       
       Faulheit oder Unlust sind jedoch keine Kategorien, mit der sich eine
       rationale Politik begründen lässt, weil man damit ganz schnell bei
       Nazi-Begriffen wie „Sozialschmarotzer“ landet, bei Fremdenphobie und der
       Aussortierung „unwerten Lebens“.
       
       Genau das steht aber auf der politischen Agenda Trumps, wenn er die
       „Massendeportation“ von 10 bis 17 Millionen bislang geduldeten Einwanderern
       ohne Papiere verspricht, die wie selbstverständlich auf dem
       republikanischen Parteitag als „Mörder“ und „Vergewaltiger“ beschimpft
       werden, faktisch jedoch vier Prozent der arbeitenden Bevölkerung stellen,
       die im Jahr 2021 31 Milliarden an Steuern erwirtschafteten, die ihnen
       direkt vom Lohn abgezogen werden.
       
       Obwohl sie eine andere Einstellung zur Arbeit haben als „Bob“ und im Sinne
       von Vance vorbildlich sind, steht Ihnen das Glück nicht zur Seite, weil sie
       nicht den richtigen Pass haben.
       
       J. D. Vance hatte das Glück. Er besitzt nicht nur den richtigen Pass, die
       Marines machen aus dem antriebslosen Jugendlichen einen Mann, der weiß, was
       er will, er absolviert an der Law School in Yale ein Jurastudium, er hat
       den richtigen Förderer (den Investor Peter Thiel aus Silicon Valley), wird
       Anwalt und gründet schließlich eine Familie. Für einen Drogenabhängigen
       hingegen, schreibt Vance selbst, besteht das Glück darin, an einer
       Überdosis Heroin zu sterben.
       
       Insofern handelte es sich bei J. D. Vance um eine gelungene
       Resozialisierung für einen bestimmten traditionellen Lebensentwurf, der
       nicht jedermanns Sache ist. Verholfen zu diesem kometenhaften Aufstieg
       haben ihm die Strukturen der WASP, der White Anglo-Saxon Protestant, wie
       die alte Oberschicht an der Ostküste des Landes heißt, deren Werte er
       zunächst teilte.
       
       Nach seiner Wandlung zum Trump-Fan und Ernennung zum
       Vizepräsidentschaftskandidaten ist man versucht, vielleicht doch eher von
       einer misslungenen Resozialisierung zu sprechen, weil er sich letztlich
       doch nie von seiner Redneck-Vergangenheit gelöst hat und immer noch so
       denkt wie der White Trash.
       
       Vance hat in seiner Parteitagsrede versprochen, die Aufstiegschancen der
       Bewohner dieser Armutsregionen zu erhöhen. Wie das aussehen wird, kann
       niemand sagen, da er die Verlierer aus seiner Heimat vor allem durch die
       Brille desjenigen sieht, der es geschafft hat, die soziale Stufenleiter
       hochzuklettern, d. h. die meisten sind dann doch eben selber schuld, wenn
       sie der Armut nicht entkommen und nicht den kranken Ehrgeiz eines J. D.
       Vance aufbringen.
       
       28 Jul 2024
       
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