# taz.de -- Buch über Politik und Gefühle: Der Stolz der Hillbillys
> Die Soziologin Arlie Russel Hochschild sucht in Kentucky nach den
> Gefühlen, die Menschen in die Arme von Trumps MAGA-Bewegung treiben.
(IMG) Bild: Denkmal für einen Kohlearbeiter in den Appalachen
Warum wird ein Wahlkreis im östlichen Kentucky zu einer Hochburg der
MAGA-Bewegung, obwohl dort früher Republikaner und Demokraten immer etwa
gleich viel Anhänger hatten? Was motiviert die Menschen dort, Trump ihre
Stimme zu geben, obwohl sie wirtschaftlich und sozial eher von den
Maßnahmen der Regierung von Joe Biden profitiert haben? Arlie Russell
Hochschild, eine der führenden US-amerikanischen Soziolog:innen, verbrachte
zwischen 2017 und 2023 viel Zeit im Wahlkreis KY-5, Pike County, um
Antworten zu finden.
Die Menschen, mit denen sie sprach, werden in den USA gerne Hillbillys,
Hinterwäldler, genannt. Sie stehen in dem Ruf, kulturell rückständig zu
sein, einen seltsamen Dialekt zu sprechen, ihren Stolz aus harter Arbeit
und wirtschaftlicher Eigenständigkeit zu beziehen und bei Konflikten allzu
schnell die Pistole zu ziehen. Der Steinkohlebergbau mit seinen
vergleichsweise guten Verdienstmöglichkeiten lockte ihre
irisch-schottischen Vorfahren Ende des 19. Jahrhunderts in die südlichen
Appalachen.
Mit dem Niedergang der Kohle seit den 1990er Jahren kamen Armut,
Verwahrlosung, Drogen. Wer konnte, ging fort und suchte Arbeit in den
Industriestädten des Nordens. J. D. Vance setzte der Region 2016 mit seinem
Memoir [1][„Hillbilly-Elegie“] ein düsteres Denkmal. Schon damals ein
Erzkonservativer, wenn auch noch kein Unterstützer Trumps, sah er die
traditionelle Eigenverantwortung der Hillbillys ersetzt durch eine von
Sozialprogrammen beförderte Hilflosigkeit.
Hochschilds gründlich recherchierte und sehr zugängliche Studie liest sich
über weite Strecken wie eine Gegendarstellung. Während Vance etwa
verwahrloste Nachbarn beschreibt, die ihre Essensmarken erst in Geld und
dann in Drogen umtauschen, interviewt Hochschild zwei ehemals Suchtkranke,
die in einer Rehabilitationseinrichtung ihre Abhängigkeit überwanden und
nun anderen aus der Sucht heraushelfen. Sie zeichnet auch nach, wie die
Werbekampagnen für [2][Oxycontin] gerade die Bundesstaaten ins Visier
nahmen, in denen die Verschreibung von Opiaten eher lax kontrolliert wird.
## Eine Geschichte der beschädigten Selbstachtung
Methodisch knüpft Hochschild in Kentucky an die Gespräche mit
Tea-Party-Anhänger:innen an, die sie in den 2010er Jahren in Louisiana
führte. Ihre auf diesen Gesprächen beruhende Studie „Fremd in ihrem Land“
stieß 2016 auf großes, auch internationales Interesse. Denn Hochschild
adressiert ein Paradox: Diejenigen, die unter der Naturzerstörung durch die
petrochemische Industrie am meisten leiden, unterstützen eine Politik, die
im Namen individueller Freiheit den Raubbau an ihren Lebensgrundlagen
fortsetzt.
Hochschild fand in Louisiana ein allgemein geteiltes persönliches Erleben
gesellschaftlicher Entwicklungen vor, das sie als „tiefe Geschichte“
bezeichnet: Die Menschen hatten die Erwartung nicht aufgegeben, durch
eigene Anstrengung wohlhabend und glücklich zu werden und so den
Amerikanischen Traum vom Aufstieg zu verwirklichen. Sie sahen sich als
Bergsteiger, die geduldig anstehen auf dem Weg zum fernen Gipfel des
ökonomischen Erfolgs, aber dann erfahren müssen, dass sich diejenigen
vordrängeln, an die sich die Sympathien des kulturellen Mainstreams und die
staatlichen Hilfsprogramme richten: Frauen, Schwarze, Flüchtlinge und
Einwanderer.
Es geht um Gefühle und ihren Einfluss auf politische Einstellungen. Auch in
Kentucky sucht Hochschild nach der tiefen Geschichte der Einwohner:innen.
Sie setzt sich der verunstalteten Landschaft aus, deren Berge buchstäblich
enthauptet wurden, um Steinkohle im Tagebau gewinnen zu können. Sie lässt
die Einkaufsstraßen mit ihren zugeklebten Schaufenstern auf sich wirken.
Sie besucht die Trailerparks, wo die Ärmsten wohnen, und eine
Reha-Einrichtung für Suchtkranke. Die Aussagen ihrer
Gesprächspartner:innen ergänzt sie durch Statistiken und soziologische
Befunde.
Als Ursache des politischen Dammbruchs im Wahlkreis KY-5 macht Hochschild
die beschädigte Selbstachtung, den „geraubten Stolz“ seiner
Bewohner:innen aus. Denn auch in Kentucky wird die Gültigkeit des
Amerikanischen Traums nicht infrage gestellt, auch dann nicht, wenn
Bergwerke oder Fabriken schließen und bezahlte Arbeit nicht mehr zu haben
ist. Je länger die Arbeitslosigkeit anhält, desto mehr geben sich die
Betroffenen selbst die Schuld an ihrer Lage. So gesellen sich zum Mangel
die Selbstvorwürfe.
In der tiefen Geschichte aus Louisiana, die Hochschild in Kentucky zur
Diskussion stellt, erkennen auch die Einwohner:innen von KY-5 sich
wieder. Sie ergänzen diese Geschichte um ein weiteres Element: Während sie
beim Anstehen auf dem Weg zum Gipfel von denjenigen regelrecht schikaniert
werden, die auf der Seite der „Vordrängler“ stehen, tritt mit Trump ein
Unterstützer für die ehrlichen, zurückgesetzten Leute auf die politische
Bühne. Trump mag seine Fehler haben, aber er setzt sich für Leute wie sie
ein. Weil Hochschilds Gesprächspartner:innen so fühlen, können nicht
einmal Gerichtsurteile gegen Trump ihre Sympathien für ihn verringern.
Es geht um die Fleischtöpfe, aber nicht nur. Hochschild sieht neben der
materiellen eine „Stolz-Ökonomie“ am Werk. In der Vergangenheit konnten die
Hillbillys stolz sein auf ihre Arbeit, auf ihre Erfahrungen und
Fähigkeiten, auf ihr Durchhaltevermögen unter harten Bedingungen, auf ihre
Selbständigkeit und ihren Beitrag zur Gemeinschaft. Mit dem Schwund ihrer
Arbeitsplätze sind diese Eigenschaften jedoch nichts mehr wert.
Auf die Schamgefühle der Deklassierten richten sich die Aktivitäten der
politischen Rechten, die das einst stolze Selbstbild männlicher weißer
Amerikaner wiederherstellen wollen. Hochschild wird Zeugin eines
waffenstarrenden Neonaziaufmarschs in Pikeville, dem sich zu ihrer
Erleichterung nur drei Einheimische anschließen. Sie notiert aber auch,
dass dieser Aufmarsch kurze Zeit später in Charlottesville eine
gewalttätige Fortsetzung findet.
## Zusammen mit Trump richten sie ihren Stolz wieder auf
Trump und seine MAGA-Bewegung sprechen [3][den verletzten Stolz verarmter
Weißer] nicht ganz so martialisch, aber umso erfolgreicher an. Hochschild
erkennt ein Ritual der öffentlichen Aufregung, das Trump immer wieder in
Gang setzt und das dafür sorgt, dass sich seine Anhängerschaft hinter ihm
versammelt.
Im ersten Schritt dieses Rituals stellt Trump eine provozierende Behauptung
oder Forderung auf, etwa seine Behauptung von 2015, die mexikanischen
Einwanderer seien Vergewaltiger. Erwartungsgemäß reagieren in einem zweiten
Schritt einige Wortführer der öffentlichen Meinung mit moralischer
Empörung, sodass Trump als der Beschämte dasteht. Nun kann sich Trump –
Schritt drei – als Opfer inszenieren und seinen Anhänger:innen
nahelegen, dass sie ebenso wie er jederzeit zu Opfern öffentlicher
Beschämung werden können. Im vierten Schritt schlägt Trump zurück. Er
bedroht seine Kritiker, zieht sie vor Gericht, verlangt Schadenersatz,
macht sie zu Opfern und steht als Sieger da.
Hochschild ist überzeugt, dass das Ritual und vor allem sein vierter
Schritt bei Trumps Anhänger:innen eine kathartische Befreiung bewirkt.
In ihrer Fantasie nehmen sie zusammen mit ihrem Anführer Rache für eine
gemeinsam erlittene Beschämung und richten so ihren verletzten Stolz wieder
auf.
Trumps offensichtliche Lüge von der gestohlenen Wahl 2020 entfaltet nach
Hochschilds Überzeugung auch deshalb eine so große Wirkung, weil sie dem
Grundgefühl seiner Anhänger:innen entspricht, dass ihnen selbst etwas
Essenzielles geraubt worden sei: ihre Arbeit, ihr sozialer Status, ihre
Werte, ihr Stolz.
## Die Empathie-Mauer überwinden
Es gibt viele irrationale Momente in der Denkweise ihrer Proband:innen,
und Hochschild versucht sie als Ausdruck einer bedrängten Lage zu
verstehen. Ihr Anspruch geht dahin, sich einzulassen auf die Erfahrungen
und Denkweisen von Menschen auf der anderen Seite der politischen Spaltung.
Die „Empathie-Mauer“ (Hochschilds Begriff) zu überwinden zwischen der
gebildeten urbanen Mittelschicht und den Zukurzgekommenen im ländlichen
Amerika. Ihren Gesprächsberichten lässt sich entnehmen, wie das geht: mit
Wertschätzung, Verständnis und Verzicht auf Widerspruch selbst dort, wo ihr
Gegenüber sie mit haarsträubenden Aussagen konfrontiert.
Hochschilds Befunde sollten auch in Deutschland zu denken geben, denn
Parallelen drängen sich auf. Verlassene Bergwerke und geschlossene Fabriken
lassen sich hier genauso finden wie in Kentucky, dazu entvölkerte
Ortschaften und bei ihren Bewohner:innen das Gefühl, abgehängt zu sein.
Auf den geraubten Stolz derjenigen, die Arbeitslosigkeit und sozialen
Abstieg erleiden oder sich davon bedroht fühlen, richtet sich auch in
Deutschland die Propaganda der politischen Rechten. Was sonst soll die
ständige Abwertung migrantischer Menschen bewirken als eine perverse
Reparatur biodeutschen Selbstgefühls? Allzu oft setzen die kalkulierten
Provokationen der AfD ein Ritual der öffentlichen Aufregung in Gang, das
ähnlich wirkt wie von Hochschild beschrieben.
Vor allem stellt sich die Frage, welche Folgen für das politische Handeln
der demokratischen Kräfte Hochschilds These haben müsste, dass geraubter
Stolz ein entscheidender Faktor beim Aufstieg des Rechtspopulismus ist.
3 Oct 2025
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## AUTOREN
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