# taz.de -- Antisemitismus und Nahost-Konflikt: Unser aller Verantwortung
       
       > Als Erbe des 20. Jahrhunderts obliegt es allen, auch den Palästinensern
       > und Deutschen, gegen Antisemitismus und für Menschenrechte zu kämpfen.
       
 (IMG) Bild: Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas besucht Dschenin im israelisch besetzten Westjordanland im Juli 2923
       
       Um es gleich vorweg zu sagen: Die Äußerungen von Mahmoud Abbas, in seiner
       Rede vor dem Fatah-Regionalrat über Juden und den Holocaust sind
       unverschämt. Der Holocaust ist durch nichts anderes als durch
       Antisemitismus und Rassismus verursacht worden.
       
       Abbas hatte sich im vergangenen Jahr auf einer Pressekonferenz mit
       Bundeskanzler Olaf Scholz in Berlin bereits in ähnlicher Weise geäußert,
       als er behauptete, Israel habe „50 Holocausts“ an den Palästinensern
       verübt. Er wurde dafür verurteilt, auch von Scholz, und dieses Mal zu Recht
       von der deutschen Vertretung in Ramallah.
       
       Zugegeben: Wir als Angehörige des palästinensischen Volkes haben ein großes
       Problem damit, den Schrecken des Holocaust zu verinnerlichen. Für Opfer ist
       es schwierig, den Schmerz ihrer Unterdrücker anzuerkennen. So sind
       Generationen von Palästinensern, die die Nakba (Katastrophe) von 1948, die
       Flucht und Vertreibung der Palästinenser aus dem Gebiet des heutigen
       Israels und die scheinbar nicht enden wollende Besatzung seit 1967
       miterlebt haben, nicht geneigt, sich über das schreckliche Leid der Eltern
       und Großeltern ihrer heutigen Unterdrücker zu informieren oder dafür
       Verständnis aufzubringen.
       
       Doch diese psychologisch-soziologische Erklärung, so stichhaltig sie auch
       sein mag, erlaubt uns dennoch nicht, in unentschuldbarer Unwissenheit zu
       verharren. Ich glaube, dass es unsere Pflicht ist, [1][uns als Gesellschaft
       über die Schrecken des Holocaust aufzuklären].
       
       ## Realität in den besetzten Gebieten
       
       Wenn ich vor einem palästinensischen Publikum spreche, dann höre ich hier
       auf. Aber hier wende ich mich an ein deutsches Publikum, deshalb sind ein
       paar weitere Worte notwendig. Es ist klar, dass Deutschland eine direkte
       historische Verantwortung für den Holocaust trägt und sich immer noch mit
       seiner Geschichte auseinandersetzt; es ist auch klar, dass es universelle
       Pflichten gibt, die uns allen durch den Holocaust auferlegt wurden.
       
       Wir müssen für eine globale, regelbasierte Ordnung eintreten, die auf den
       Prinzipien des Völkerrechts beruht, die aus der Asche des Holocausts
       entstanden sind. Als Erbe des 20. Jahrhunderts obliegt es uns allen,
       natürlich auch uns Palästinensern, Demokratie und Menschenrechte zu
       schützen und den Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus aller Art
       aufzunehmen.
       
       Dieselben Pflichten sollten die Deutschen zwingen, sich der Realität in den
       besetzten palästinensischen Gebieten zu stellen: Wir leben unter Apartheid.
       Das Zentrum meiner Heimatstadt Hebron wurde in eine segregierte
       Geisterstadt verwandelt. [2][Nach Angaben der israelischen
       Menschenrechtsorganisation B’Tselem] wurden in den letzten 25 Jahren mehr
       als 1.000 Familien aus der Innenstadt vertrieben, 1.500 Geschäfte
       geschlossen, um die Anwesenheit von 850 Siedlern zu ermöglichen. Das
       verstößt gegen internationales Recht. Mir und anderen Palästinensern ist es
       verboten, durch einige der Hauptstraßen zu gehen, die von den israelischen
       Militärbehörden als „steril“ bezeichnet werden.
       
       ## Deutsches Engagement für Menschenrechte
       
       Hebron ist ein Mikrokosmos für das zweistufige Rechtssystem, das im
       gesamten Westjordanland gilt. Während israelische Siedler den vollen Schutz
       des Zivilrechts genießen, sind wir als staatenlose Palästinenser der
       Rechtsprechung der Militärgerichte unterworfen. Diese Gerichte haben mich
       wegen meines gewaltlosen Engagements gegen die Besatzung zu drei Monaten
       Haft und zwei Jahren Bewährung verurteilt. Ich galt als Wiederholungstäter,
       weil ich, wie der Richter es ausdrückte, weiterhin an Protesten teilnahm,
       für die es keine Genehmigung gab. In einem militärischen Besatzungsregime,
       das es verbietet, sich mit 10 oder mehr Personen zu einem politischen Zweck
       zu versammeln, macht einen die Teilnahme an gewaltlosen Protesten offenbar
       zu einem Verbrecher.
       
       Warum würden Sie das nicht Apartheid nennen? Das ist unsere tägliche
       Realität. Doch Deutschland lässt sein Engagement für die Menschenrechte vor
       der Tür der besetzten Gebiete stehen.
       
       Der Kampf gegen den Antisemitismus ist für unsere Menschlichkeit
       unerlässlich. Aber dieser Kampf darf nicht dazu missbraucht werden,
       [3][Kritik an der israelischen Apartheidspolitik als antisemitisch
       abzustempeln]. Jede Regierung, die dies tut, stellt Israel einen
       Blankoscheck aus, mit dem es seine Unterdrückung meines Volkes ungestraft
       fortsetzen kann.
       
       Die Unzulänglichkeit des deutschen Engagements für die Menschenrechte macht
       aber nicht bei der Behandlung Israels halt, sondern zeigt sich auch in der
       Haltung gegenüber Abbas. Um der Stabilität und Sicherheit Israels und
       seiner illegalen Siedler willen hält Deutschland den Status quo aufrecht
       und verschließt die Augen vor dem autoritären Verhalten der
       Palästinensischen Autonomiebehörde.
       
       Wie lange wird Deutschland noch eine Behörde finanzieren, in der
       Journalisten allzu oft für das „Verbrechen“ verhaftet werden, ihre Meinung
       zu sagen? Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist kein Wert, den die
       Palästinensische Autonomiebehörde unter Abbas mit ihren europäischen
       Geldgebern teilt.
       
       ## Autoritärer Abbas
       
       Ich selbst wurde von der Palästinensischen Autonomiebehörde wegen meines
       Aktivismus inhaftiert – ähnlich wie von den israelischen Behörden. Und
       vielen meiner Mitstreiter ist es noch schlechter ergangen. Mein Freund, der
       Aktivist Nizar Banat wurde 2021 wegen seiner Ehrlichkeit in PA-Gewahrsam
       getötet.
       
       Abbas hat seine Wahlperiode um 14 Jahre überschritten. Angesichts der
       Tatsache, dass etwa zwei Drittel der palästinensischen Bevölkerung in den
       besetzten Gebieten unter 30 Jahre alt sind und die letzten Wahlen mehr als
       fünfzehn Jahre zurückliegen, hatte etwa die Hälfte der heutigen
       Wählerschaft noch nie die Möglichkeit, überhaupt zu wählen. Denn Abbas hat
       die autoritäre Angewohnheit, sich Wahlen zu entziehen oder sie zu
       annullieren.
       
       Ich riskiere, von Abbas’ Sicherheitsapparat (erneut) verhört und
       eingesperrt zu werden, weil ich dies schreibe. Dennoch habe ich den Mut und
       den Willen aufgebracht, die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen, mich gegen
       Unterdrückung und Heuchelei zu stellen und mich für Demokratie und
       Menschenrechte für alle einzusetzen. Gestatten Sie mir, Sie, die Bürger
       eines freien Landes, aufzufordern, dasselbe zu tun.
       
       28 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/moralisch-und-politisch-verwerflich-pal%C3%A4stinenser-protestieren-gegen-abbas-antisemitische-ausf%C3%A4lle/ar-AA1gIybU
 (DIR) [2] https://www.btselem.org/sites/default/files/publications/201909_playing_the_security_card_eng.pdf
 (DIR) [3] https://www.haaretz.com/world-news/europe/2023-08-07/ty-article/.premium/german-czar-says-calling-israel-apartheid-is-antisemitic/00000189-d04d-d821-afdd-db6d0c260000
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Issa Amro
       
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