# taz.de -- Essen in Venedig: Wein, Cicchetti, Dolce Vita
       
       > In Venedig gibt es eine Spezialität, die Einheimischen ebenso schmeckt
       > wie Touristen: Kleine, üppig belegte Brothappen zum Aperitif.
       
 (IMG) Bild: Snacks auf venezianische Art oder kurz: lecker Cicchetti
       
       Der Tag in [1][Venedig] beginnt, wie überall in Italien, mit Caffè und
       Cornetto. Dann lässt man sich durch die Gassen treiben, bis man irgendwann
       – erschöpft von all der Pracht, den vielen Brücken und, ja, auch den
       Touristenmassen – in eine der allgegenwärtigen Bars einkehrt. Beim Blick
       auf die Uhr („Ach, schon nach Mittag?“) und der freudigen Stimmung am
       Nachbartisch beschließt man, dass es Zeit für ein ombra ist, ein Gläschen
       Wein, und weil sie so verlockend aussehen, bestellt man auch noch ein paar
       Cicchetti dazu.
       
       Wo immer in Venedig Alkohol fließt, sind die kleinen belegten Happen nicht
       weit. Da die spanischen Verwandten ungleich bekannter sind, werden
       Cicchetti oft als venezianische Tapas bezeichnet. Die Idee ist die Gleiche:
       Herzhafte Snacks gegen den kleinen Hunger und den allzu schnellen Rausch.
       Früher wurden Wein und Häppchen an mobilen Verkaufsständen verkauft –
       vornehmlich am Markusplatz, wobei die Händler dem Turmschatten des
       Campanile folgten (daher stammt wohl auch der Name für das venezianische
       Glas Wein: ombra, Schatten).
       
       Bacchus, dem Gott des Weines und der Ekstase, huldigen die Venezianer noch
       immer. Heute trifft man sich dafür meist in Weinstuben, Bàcari genannt.
       Viele dieser Bars bestehen lediglich aus einem einzigen, kleinen Raum, in
       den sich mit fortschreitender Stunde immer mehr Menschen an Tresen und
       schmalen Wandtischen drängen.
       
       Mindestens genauso [2][wichtig wie der Wein]: Die Cicchetti, die sich in
       Vitrinen oder im Schaufenster reihen. Meist sind es geröstete Brot- oder
       Polentascheiben. Garniert werden sie mit all jenem, was die Lagune
       kulinarisch zu bieten hat. Ein belegtes Brot, wenn man so will, und doch so
       viel mehr.
       
       Während man seinen Wein trinkt und in Brote beißt, die so üppig belegt
       sind, dass einem die Creme am Mundwinkel klebt und Oliven in den Schoß
       purzeln, kann man sich ein wenig wie ein Local fühlen. Denn die Happen sind
       ein fixer Bestandteil der venezianischen Kultur.
       
       Es gibt sie in den Bars rund um Rialtobrücke und Markusplatz genauso wie in
       den von Wäscheleinen überspannten Gassen der Nachbarinseln. In einer Stadt,
       in der man ständig von der Sorge begleitet wird, in die kulinarische
       Touristenfalle zu tappen, sind Cicchetti die ideale Lösung: Authentisch und
       weniger riskant als der Restaurantbesuch, denn wenn das Essen nichts taugt,
       kann man einfach weiterziehen.
       
       Sicher, ein paar Zugeständnisse werden ans globale Publikum gemacht
       (Cicchetti mit Humus oder Avocado) und auch die Fusion-Bewegung hat [3][die
       venezianischen Happen] erfasst: Ein aus Japan stammender, seit 20 Jahren in
       Italien lebender Koch serviert von seiner Heimat inspirierte Cicchetti
       giapponesi. Alles in allem aber hat sich an Zutaten und Zubereitung wenig
       verändert. Als Belag dienen Pesto und ölig eingelegtes Gemüse. Dicke
       Scheiben Käse und Salumi, hauchdünn in diesem Fall, dafür aber dekadent
       hoch aufgetürmt.
       
       Und natürlich Fisch. Allen voran der Baccalà. Ausgerechnet der Stockfisch –
       ein Fisch, der aus den weit entfernten Gewässern Norwegens stammt – wurde
       zum Aushängeschild der venezianischen Küche. Keine Speisekarte, keine
       Cicchetti-Auslage ohne Baccalà mantecato (mit Olivenöl aufgeschlagener
       Stockfisch) und Baccalà alla vicentina (mit Milch, Käse und Sardellen).
       
       Warum importieren die Venezianer getrockneten Fisch, wo sie massenweise
       frischen vor der Haustüre haben? Genau deshalb: Weil es ihn seit jeher in
       Massen gab. Der getrocknete Fisch, den Seefahrer im 15. Jahrhundert aus
       Norwegen mitbrachten, war rar und teuer – und damit ein willkommenes
       Distinktionsmerkmal für die venezianische Oberschicht. (Aus demselben Grund
       gibt es in der dortigen Küche auch viele fleischige Spezialitäten).
       
       Die breite Masse hingegen aß lokale Meerestiere – Sardinen, Sardellen,
       Tintenfisch, Muscheln – oder Gemüse, das bis heute auf den umliegenden
       Inseln angebaut wird. Auf den Cicchetti kommt alles zusammen und das ist
       eigentlich das Beste an dieser Tradition: Man kann sich problemlos durch
       sämtliche lokale Spezialitäten futtern.
       
       Zwei Bissen Fischleberpaste mit Radicchio. Ein Häppchen sauer eingelegte
       Sardinen auf cremigem Cime di Rapa. Ein paar Stücke des in Tomatensoße
       gekochten Tintenfischs. Wer im Frühling in der Stadt ist, wird mit etwas
       Glück auch die berühmten, unvergleichlich zarten Artischocken aus
       Sant’Erasmo in der Cicchetti-Auslage finden.
       
       Gegen Abend, wenn es Zeit für den Aperitif wird, werden die schon
       nachmittags vollen Lokale immer voller. Klassischerweise zieht man nach
       Wein, Spritz und Häppchen weiter ins Restaurant. Man kann aber auch in der
       Bar versacken und sich mit Cicchetti satt essen.
       
       13 May 2023
       
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