# taz.de -- Afghanischer Film auf Dok.Fest München: Von draußen hört man Gewehrsalven
       
       > Das Dok.Fest München startet. Zur Eröffnung zeigt der Film „Etilaat Roz“
       > das Ende der gleichnamigen afghanischen Tageszeitung unter den Taliban.
       
 (IMG) Bild: Die Redaktion der afghanischen Zeitung „Etilaat Roz“ in Abbas Rezaies gleichnamigem Dokumentarfilm
       
       Zu den Begegnungen mit den Stars des internationalen Filmwesens gehört
       eigentlich, als ein Vorzug des Filmjournalistendaseins, der Glamour.
       Interviews gibt es gern in noblen Hotels, den Separees vornehmer
       Restaurants und in jüngster Zeit vermehrt in technologisch ausgeklügelten
       Online-Sessions, die beeindruckend ruckelfrei dahinstreamen. Mitunter ist
       bei solchen Auftritten der Schauspieler und Regisseure von ästhetischen
       Wagnissen und vom Mut die Rede, die ein Film dem jeweiligen Team beim Dreh
       abgefordert habe.
       
       Davon, dass es jede Menge Mut gebraucht haben muss, den Film zu drehen, der
       in diesem Jahr das Münchner Dokumentarfilmfestival eröffnet, spricht der
       afghanische Regisseur Abbas Rezaie in unserem Interview nicht eine Sekunde.
       Ort des Treffens ist auch kein schickes Hotelzimmer oder sonst eine noble
       Adresse. Rezaie spricht mit uns von seinem Smartphone aus, das er in der
       Hand hält und dessen Verbindung oft nur Ruckelbilder zulässt.
       
       Der Filmemacher hält sich momentan in einer Unterkunft für Geflüchtete in
       den Niederlanden auf, wo er nach seiner Flucht 2021 Asyl erhalten hat. Mit
       dem ungestörten Sprechen ist es in der Wohnanlage so eine Sache. Es dauert
       einen Moment, bevor Rezaie im Freien einen Platz findet, von dem aus er
       allein und konzentriert berichten kann, welche Umstände zu seinem Projekt
       „The Etilaat Roz“ geführt haben, seinem Dokumentarfilm, der heute das
       Dok.Fest München eröffnet.
       
       Etilaat Roz ist der Name einer afghanischen Tageszeitung, der es in
       jüngster Zeit mehrfach gelungen war, mit ihren Enthüllungen die Hauptstadt
       Kabul und deren teils kleptokratische Eliten in Erschütterung zu versetzen,
       berichtet Rezaie. Die in einem schlichten Mehrfamilienhaus untergebrachte
       Zeitung und ihr Chefredakteur und Gründer, Zaki Daryabi, hatten es sich
       seit ihrem Erscheinen auf die Fahnen geschrieben, Misswirtschaft,
       Nepotismus und Korruption im Land aufzudecken.
       
       [1][Besonders unter jungen Afghanen fand die Zeitung bis zum August 2021
       ihre Leser]. Bis zu den Tagen der erneuten Machtübernahme der Taliban in
       der Hauptstadt.
       
       ## Politisch-militärisches Debakel
       
       Vorausgegangen war den Ereignissen ein Deal der US-Regierung mit den
       Taliban unter Trump – das Doha-Abkommen. Sowie der Beschluss des
       Nachfolgers des Republikaners, des Demokraten Joe Biden, die
       US-amerikanischen Truppen schnell und vollständig aus dem Land abzuziehen.
       
       Abbas Rezaie war zu diesem Zeitpunkt im August 2021 mit einer Dokumentation
       über die [2][ethnische Diskriminierung der persischsprachigen
       Hazara-Minderheit im Land] beauftragt, der er selbst angehört. Der Abzug
       der USA und ihrer Verbündeten und das daraus resultierende
       politisch-militärische Debakel sollten jedoch die Pläne der Redaktion mit
       einem Schlag zunichte machen.
       
       Ihr kritischer Journalismus ließ die Zeitung zudem zur Zielscheibe der
       Islamisten werden. Rezaie beschloss, seine Kamera in die Hand zu nehmen und
       jene Tage des Falls Kabuls von den Redaktionsräumen aus zu dokumentieren.
       Der so entstandene Film ist Zeitdokument und beklemmendes Kammerspiel
       zugleich, dem wir Zuschauer aus der Ich-Perspektive beiwohnen.
       
       ## Eskalierende Situation
       
       Im Minutentakt kommen die Nachrichten über die immer weiter eskalierende
       Situation im Land rein. Chefredakteur Daryabi, den Rezaies Kamera während
       des gesamten Films begleitet, muss Entscheidungen treffen, die nicht nur
       sein eigenes Wohlergehen betreffen. Kann die Zeitung unter diesen Umständen
       weiter berichten? Daryabi und seine Redakteure beschließen zunächst
       weiterzumachen.
       
       Die Taliban geloben unmittelbar nach der Machtübernahme Zurückhaltung, gar
       Milde. Auch Journalisten sollen ihre Arbeit im Land fortsetzen können. Die
       Verlautbarungen der Islamisten, die in Afghanistan ein Kalifat ausrufen,
       werden jedoch von Klängen der Gewehrsalven begleitet, die bis in die
       Redaktionsräume dringen.
       
       Daryabi organisiert die Ausreise seiner ersten, besonders gefährdeten
       Mitarbeiter, als die Nachricht vom Attentat am Kabuler Flughafen die Runde
       macht, das mehr als 100 Afghanen und 13 US-Soldaten aus dem Leben reißt.
       Kurz darauf werden im Umfeld einer Demonstration fünf Mitarbeiterinnen und
       Mitarbeiter der Zeitung festgenommen.
       
       Zwei Männer werden in der Haft schwer geschlagen und misshandelt. Verstört
       und unter Schmerzen kehren sie in die Redaktion zurück. Es ist der Teil
       seiner Erzählung, über den zu sprechen Abbas Rezaie bis heute sichtlich
       schwerfällt. „In den zwei, drei Stunden, in denen wir nichts von ihnen
       hörten, dachten wir, alles ist möglich. Auch dass unsere Kollegen tot
       sind.“
       
       ## Mehr als ein bloßes Medienunternehmen
       
       Dem schwermütigen Gesicht des Chefredakteurs Zaki Daryabi ist beim
       Verlassen des Gebäudes, nachdem an eine Weiterarbeit des Mediums endgültig
       nicht mehr zu denken ist, abzulesen, dass er in der Zeitung weit mehr sieht
       als ein bloßes Medienunternehmen. Die mittlerweile über die weltweit
       verstreut im Exil lebenden und von dort aus arbeitenden Mitarbeiterinnen
       und Mitarbeiter der Etilaat Roz verbindet mittlerweile eine
       Freundschaftsbande. Ein Teil der Zeitung lebt seit einiger Zeit im
       englischsprachigen Online-Medium Kabul Now weiter.
       
       Nicht allen Mitarbeitenden gelang es aber, im Ausland Asyl zu finden. An
       sie denkt Abbas Rezaie, wie er angibt, häufig, auch während er bereits an
       kommenden Projekten arbeitet. Der studierte Historiker, dem die
       privatsphärelosen Verhältnisse in der holländischen Geflüchtetenunterkunft
       Schwierigkeiten bereiten, plant eine filmische Arbeit über die Hintergründe
       der Kriege in Afghanistan.
       
       Der Westen habe im Umgang mit seinem Land viele Fehler gemacht, meint
       Rezaie. Sie reichten weiter zurück als bis 9/11 und dem Krieg der damaligen
       Bush-Regierung. „Mein Wunsch ist es, dass sich die Menschen im Westen
       ernsthaft mit der Geschichte Afghanistans auseinandersetzen.“
       
       ## Afrikanische Dokumentarfilme, Gastland Türkei
       
       Was die jüngste Geschichte Afghanistans betrifft, so wird das Publikum des
       Münchner Dokumentarfilmfestivals hierzu die Gelegenheit haben. Fast alle
       Filme des Programms stehen per Mediathek zudem einem bundesweiten Publikum
       zur Verfügung, so auch Rezaies „The Etilaat Roz“. Abbas Rezaie plant, bei
       den Vorstellungen seines dringlichen Films zugegen zu sein.
       
       Die Retrospektive des Festivals ist wichtigen Werken des afrikanischen
       Dokumentarfilms aus der Entstehungszeit der 1970er bis in die 2020er Jahre
       gewidmet. Darunter die Arbeit [3][„Talking About Trees“, in der vier
       Filmemacher ein altes Kino in Khartum wiedereröffnen]. In ihrem „Theater
       der Revolution“ kämpfen sie gegen die Unfreiheit im Sudan.
       
       Die Hommage gilt in dieser Ausgabe dem [4][Filmer Nikolaus Geyrhalter,
       dessen wortkarge, dokumentarische Totalen] inhaltlich oft ein neues Licht
       auf gesellschaftliche Debattenthemen werfen. Er hat mit „Matter Out of
       Place“ einen Film über die wachsenden Müllberge in aller Welt im Gepäck.
       
       Gastland des diesjährigen Dok.Fests ist die Türkei. Die Reihe porträtiert
       in „Eren“ die kurdische Anwältin und Menschenrechtsaktivistin Eren Keskin,
       die sich in ihrer Arbeit in Istanbul einsetzt für die Rechte weiblicher
       Vergewaltigungsopfer, die es immer wieder in türkischen Gefängnissen gibt.
       
       „Das Thema Flüchtlinge wird euch in Europa noch stark beschäftigen“, sagt
       Abbas Rezaie im Interview. In seiner Stimme schwingt die Entschlossenheit
       eines Menschen mit, der unbedingt gewillt ist, seine Geschichte zu
       erzählen, welche Widerstände dagegen auch kommen mögen.
       
       2 May 2023
       
       ## LINKS
       
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