# taz.de -- Umweltverschmutzung von Flüssen: Mein Ökosystem wird zu McDonald's
       
       > 2022 hat eine Lagune in Südspanien Rechte bekommen. Was wäre, wenn auch
       > der Rhein seine Verschmutzer verklagen könnte? Ein Gedankenexperiment.
       
       Ihr Menschen wisst, wie ihr mir wehtun könnt. Ihr buddelt, ihr pumpt, ihr
       verdreckt mich. Wo ich mich abwechselnd links und rechts in die Kurve
       legte, habt ihr mich begradigt und verkürzt. Ihr habt mir die Arme
       abgeschnitten, mich von meinen Bächen und Auen getrennt. In [1][ein Korsett
       habt ihr mich gezwängt], damit ich nicht über die Ufer trete – und um mich
       schiffbar zu machen. Das ist es, was für euch zählt.
       
       Gleichzeitig scheint ihr mich zu lieben. Ihr spaziert in eurer Freizeit
       mein Ufer entlang, setzt euch auf Parkbänke und starrt auf meine Haut. Es
       entspannt euch offenbar. In der Nähe meiner Quelle taucht ihr
       angeschwollene Sommerfüße in mich ein und ruft: „Wia schön isch der Rhi!“
       Bei Kilometer 683 sitzt ihr auf den Rheinterrassen, prostet euch mit hohen,
       schmalen Biergläsern zu und seufzt: „Nä wat es dat schön!“
       
       Ihr schreibt Gedichte über mich, bedruckt Wandteller mit meinem Verlauf
       oder verschickt „Grüße vom schönen Rhein“ per Postkarte. Junge Männer
       singen von Heimweh und „ich will mal wieder am Rhein stehn, einfach
       hineinsehn“. Ist das alles nur geheuchelt? Eure Leidenschaft hört an der
       Wasseroberfläche auf.
       
       ## Ihr habt aus mir eine Abwasserrinne gemacht
       
       Es muss etwas anderes geben, dass euch wichtiger ist, das bekomme ich seit
       mehr als 170 Jahren zu spüren. Damals wurden die ersten großen Fabriken an
       meinem Ufer gebaut. Kurz darauf hieß es, dass Teile von mir „geopfert“
       werden müssen. Ihr habt eine Abwasserrinne aus mir gemacht, weil sonst
       Profite in Gefahr seien. Eine Opfergabe für das Wirtschaftswachstum.
       
       Heute werden die Abwässer geklärt. Aber gemessen an der Energie, mit der
       ihr Dreck in mich reingepumpt habt, sind eure Versuche, die Natur
       zurückzuholen, zaghaft.
       
       Ich habe mitbekommen, wie ihr es mit guten Absichten haltet: Im Jahr 2000
       hat die Europäische Union einen Beschluss gefasst, [2][die
       Wasserrahmenrichtlinie]. Damit verpflichteten sich die Staaten, alle
       Gewässer bis 2015 in einen „guten Zustand“ zu bringen. Gemessen wird das
       zum Beispiel an der [3][chemischen Zusammensetzung des Wassers]. Und daran,
       wie viele Fische und Algen es gibt. Im vergangenen Jahr, sieben Jahre nach
       dem eigentlichen Fristende, wurden zehn Prozent meines Wassers als gut
       eingestuft. Mehr nicht.
       
       Deutschland hat eine Verlängerung bis 2027 beantragt. Expert:innen sagen
       trotzdem: Auch bis zur nächsten Zielmarke in vier Jahren ist es nicht zu
       schaffen, die übrigen 90 Prozent in einen guten Zustand zu bringen. Ein
       Drittel wäre vielleicht möglich. Damit soll ich leben? Dass ihr es
       vielleicht schafft, dass es einem Drittel meines Wasserkörpers gut geht?
       
       ## Würde ich doch durch Kanada fließen
       
       Ihr habt entlang meines Flusslaufs einen Wettbewerb der Superlative
       gestartet: Rotterdam hat den größten Seehafen Europas, Duisburg den größten
       Binnenhafen der Welt. In Ludwigshafen kühlt der weltweit umsatzstärkste
       Chemiekonzern sein Werk mit meinem Wasser. Und das soll so bleiben?
       
       Als ich im vergangenen Sommer [4][extrem wenig Wasser führte], sprach
       BASF-Manager Uwe Liebelt von einem „strategischen Standortnachteil“ für die
       Wirtschaft. Für mich ist es ein Standortnachteil, dass ich quer durch die
       Industrienation Deutschland fließe. Führte mein Weg durch das kanadische
       Hinterland, vielleicht würde ich in Ruhe gelassen werden. Stattdessen wird
       [5][an einer weiteren Vertiefung] zwischen St. Goar und Mainz gearbeitet.
       „Abladeoptimierung“ nennt ihr das, wie nett.
       
       Und ich kann nichts dagegen tun. Das Mar Menor schon. Die Salzwasserlagune
       in Südspanien wurde 2022 zur juristischen Person erklärt. Das macht mich
       neidisch. Was wäre, wenn ich auch Rechte hätte? Das frage ich mich, wenn
       ihr wieder an mir herumgrabt und euren Dreck in mich kippt. Was wäre, wenn
       ich meine Verschmutzer verklagen könnte?
       
       Ich würde mich gegen die Vertiefung wehren. Auf 60 Kilometern soll meine
       Flusssohle stellenweise abgetragen werden, Buhnen werden quer in mich
       reinragen. Seitenwerke werden eine Art Damm parallel zum Ufer bilden. So
       soll mein Wasser gerade bei niedrigen Pegelständen in der Fahrrinne
       gehalten werden. Niedrige Pegelstände, die zu einem größeren Problem
       werden, weil die von euch verursachte Klimakrise [6][das Wasser knapp
       werden lässt.]
       
       Für Schifffahrtsunternehmen, für Firmen von hier, für die Wirtschaftsmacht
       Deutschland ist das ein großer Gewinn. Für mein Ökosystem ist es wie eine
       Herztransplantation und Hüftoperation auf einmal. Auf so eine Idee würdet
       ihr Menschen bei euch selbst nie kommen. Aber euer Verkehrsminister nennt
       die Vertiefung das verkehrspolitische Projekt mit dem “größten
       Kosten-Nutzen-Verhältnis“.
       
       Es stört mich ja nicht, [7][wenn Boote auf mir gleiten.] Und ich weiß, dass
       es für die Natur noch schlechter ist, wenn die Waren nur noch mit LKWs
       transportiert werden – sie stoßen drei bis fünfmal mehr Kraftstoff pro
       transportierter Tonne aus. Aber es werden doch längst Güterschiffe gebaut,
       die flacher im Wasser liegen, niedriges Wasser macht ihnen also weniger
       aus. Ihr hättet eure Flotten Stück für Stück modernisieren können. Heute
       sind die deutschen Güterbinnenschiffe durchschnittlich 50 Jahre alt und
       brauchen eine tiefe Fahrrinne. Dabei wisst ihr schon lange, dass es heißer
       wird und das Wasser weniger.
       
       ## Fische werden zerstückelt
       
       Für die Fische ist es gefährlich, wenn ihr die Fahrrinne verengt. Ist mein
       Wasser im Sommer nicht so hoch, fließt es vor allem in der Mitte, in der
       Schifffahrtsrinne. Zwischen Schiff und Flusssohle bleibt kaum Platz.
       Größere Fische, wie Lachse und Meerforellen, werden von den
       Schiffsschrauben angezogen. Die drehen sich mit rund acht Umdrehungen in
       der Sekunde. Die Fische werden zerstückelt.
       
       Ihr habt euch noch mehr einfallen lassen, um mich zu zähmen, da seid ihr
       erfinderisch. Staustufen und Schleusen hindern die Fische daran,
       flussaufwärts in ihre Laichgründe zu ziehen. Die Turbinen [8][der
       Wasserkraftanlagen sind selten geschützt]. Schwimmt ein Fisch in die
       Turbine, kommt er filetiert hinten raus. Raubvögel schnappen die Reste
       schnell weg. Die Spuren werden verzehrt oder weggespült, keiner bekommt
       etwas mit. Und das ist das Problem. Wenn ein Rotmilan geköpft unter einem
       Windrad liegt, regt ihr euch auf.
       
       Dabei sind die Fische auch durch den Klimawandel stark gefährdet. Meine
       Temperatur steigt. Gerade [9][die einheimischen Arten ertragen das schwer].
       Lachse legen ihre Eier in mein Kiesbett. Aber bei drei Grad mehr vergammeln
       die Eier. Arten aus dem Schwarzmeerraum, wie die Grundel, sind an die
       steigenden Temperaturen besser angepasst. Mit dem Bau des
       Rhein-Main-Donau-Kanals zogen sie bei mir ein. Jedes Jahr mehr: Krebse,
       Muscheln, Fische. Langfristig gesehen sterben die Arten, die schon lange
       hier sind, aus.
       
       Die McDonaldisierung unserer Ökosysteme nannte ein Wissenschaftler diesen
       Prozess. Wo früher unterschiedliche Gasthäuser Grüne Soße, Graupensuppe
       oder Schwarzwälder Kirschtorte angeboten haben, werden heute nur noch
       Pommes frittiert. Ähnlich wie das Essensangebot schrumpft die Vielfalt
       meiner Fische. Mein Ökosystem wird nicht mehr funktionieren wie bisher.
       
       Natürlich, es gibt auch jetzt schon Organisationen, die sich für mich
       einsetzen. Zum Glück. Doch hätte ich selbst Rechte, gäbe es ein festes Team
       von Menschen, die für mich kämpfen und mögliche Entschädigungen in meinen
       Schutz investieren würden. Ich wünsche mir Schatten entlang der kleinen
       Zuläufe, in denen viele Arten laichen. An den sonnigen Südhängen der Bäche
       könnten Hecken und Bäume gepflanzt werden. So kann die Wassertemperatur um
       bis zu sechs Grad gesenkt werden.
       
       Ich hätte viele Ideen, wie ihr mich entlasten könntet. Bei der
       Verschmutzung zum Beispiel. Die Abwässer sind zwar nicht mehr so siffig,
       das schmecke ich: weniger Salze, keine ungeklärten Fäkalien mehr. Trotzdem
       schlucke ich Sekunde für Sekunde Dreck. In Frankenthal, nördlich von
       Ludwigshafen, steht eine der größten Kläranlagen Europas an meinem Ufer.
       Sie gehört dem Chemiekonzern BASF. Flussaufwärts, hinter der Fabrik,
       schießen pro Sekunde 3.500 Liter Abwasser aus den Rohren. Die Rohre
       befinden sich versteckt unter der Wasseroberfläche. Bei Sonnenschein, wenn
       sich das Blau des Himmels auf meiner Oberfläche reflektiert, könnt ihr vom
       Ufer sehen, wie sich schwarze Abwasserfahnen ins Wasser mischen und
       Richtung Nordsee ziehen. Schaut ihr hin?
       
       Mikroverunreinigungen hingegen sind unsichtbar, werden aber immer mehr:
       Pestizide aus der Landwirtschaft, Röntgenkontrastmittel und Psychopharmaka,
       Hormone, Antibiotika, [10][die durch die Toilette ins Abwasser gelangen].
       [11][Studien zeigen], dass sich das Verhalten von Fischen durch eine
       erhöhte Konzentration von Arzneimitteln im Wasser verändert. Wenn mehr
       Spuren von Beruhigungsmitteln im Wasser landen, verhalten sich Fische zum
       Beispiel weniger sozial und essen schneller. So kann das Gleichgewicht
       eines ganzen Ökosystems mit der Zeit gestört werden.
       
       Ich würde Kliniken dazu verpflichten, ihr Abwasser sehr gründlich zu
       reinigen. Oder noch einfacher: Warum fangt ihr die Schadstoffe an diesen
       Hotspots nicht auf, bevor sie ins Wasser gelangen? Nach dem Röntgen könntet
       ihr in einen Becher urinieren, dann würde das Kontrastmittel gar nicht erst
       ins Abwasser gelangen. Das kann doch nicht so schwer sein.
       
       ## Chemikalien, die nie verschwinden
       
       Eine euer schlimmsten Erfindungen sind PFAS-Verbindungen, per- und
       polyfluorierte Alkylverbindungen. Diese Chemikalien liebt ihr, weil sie
       wasserfest und schmutzabweisend sind, sie trotzen Hitze und Kälte. Also
       werden [12][Outdoorjacken, Skier, Kochlöffel und Pfannen] damit
       beschichtet. Damit die Regentropfen abperlen und das Spiegelei nicht
       anklebt. Doch dass PFAS-Chemikalien extrem resistent sind, bedeutet auch,
       dass sie einfach nicht aus meinem Wasser verschwinden.
       
       Die EU hat den Grenzwert für PFAS [13][deshalb nachträglich nach unten
       korrigiert]. Einige Untergruppen wurden verboten. Andere pustet ihr
       weiterhin unbekümmert in die Umwelt. Dabei kann eine feuchte Regenjacke
       nicht so ungemütlich sein, wie wenn das Trinkwasser eines Tages mit den
       krebserregenden Chemikalien verseucht ist. Warum seid ihr so kurzsichtig,
       frage ich mich.
       
       2020 einigten sich meine Anrainerstaaten darauf, Mikroverunreinigungen wie
       diese um mindestens 30 Prozent zu reduzieren – ich hatte Hoffnung. Bis 2040
       gibt es dafür Zeit, hörte ich dann. Geht das nicht schneller? Es geht
       immerhin um einige der weltweit innovativsten Chemiekonzerne. Der Wille
       scheint euch zu fehlen.
       
       ## Abwarten, weiter pumpen
       
       Das denke ich auch, wenn ihr vorhandene Lösungen wegignoriert, wie ihr das
       sonst mit Neujahrsvorsätzen vier Wochen nach Silvester macht.
       Aktivkohlefilter sind die ungenutzten Fitnessstudiomitgliedschaften der
       Klärwerke. Mit diesen Filtern lassen sich auch Mikroverunreinigungen aus
       dem Abwasser filtern. Denn die Kohle hat sehr feine Poren, in denen sich
       auch kleinste Partikel absetzen. Sie könnten in jedes Klärwerk eingebaut
       werden. Das passiert aber nicht – weil es teuer ist. Hier stimmt der
       Kosten-Nutzen-Faktor für euch nicht. Und solange es keine
       Aktivkohlefilterpflicht gibt, sitzt ihr es aus, das macht ihr immer so.
       
       Auch mit den Einleitgenehmigungen haltet ihr es so: abwarten, weiter
       pumpen. Hat eine Firma erst mal die Erlaubnis, Abwasser in mir loszuwerden,
       gilt sie meist für 30 Jahre. Die Niederlande sind mit den Genehmigungen
       strenger. Alle sieben Jahre werden sie überprüft und können dem neuesten
       wissenschaftlichen Stand angepasst werden. Warum nicht überall? Weil es
       Geld kostet? Weil es aufwändiger ist?
       
       Hätte ich Rechte, würde ich euren Kosten-Nutzen-Kompass justieren.
       
       Ich erinnere mich aber auch an gute Momente. 2020 wurde mir ein Geschenk
       gemacht: Die [14][Atomreaktoren in Fessenheim], auf der französischen
       Uferseite, wurden abgeschaltet. Das Werk an meinem Seitenkanal hat über 40
       Jahre mein Wasser zum Kühlen gezogen und erhitzt wieder zurück gegeben.
       Durch das Abschalten sprang meine Wassertemperatur sofort um drei Grad nach
       unten.
       
       Manchmal träume ich von diesem Tag. Ich erzähle euch, wie erholsam das
       Abschalten der Reaktoren für mich war, welchen Einfluss euer Handeln auf
       mich hat. In meinen Träumen hört ihr mir zu.
       
       1 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Notstand-der-Fluesse/!5882861
 (DIR) [2] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32000L0060
 (DIR) [3] /Gruene-ueber-Wasserqualitaet-in-der-EU/!5613731
 (DIR) [4] /Niedrigwasser-am-Rhein/!5877777
 (DIR) [5] /Streit-um-die-Vertiefung-des-Rheins/!5628293
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 (DIR) [8] /Wasserkraftwerke-in-Fluessen/!5743116
 (DIR) [9] /Seen-in-der-Klimakrise/!5859243
 (DIR) [10] /Medizin-in-Deutschlands-Kanalisation/!5040447
 (DIR) [11] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23413353/
 (DIR) [12] /Neues-Verbot-des-Skiverbands/!5645077
 (DIR) [13] /EU-Aktionsplan-gegen-Verschmutzung/!5772113
 (DIR) [14] /Atomkraftwerk-Fessenheim/!5663140
       
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