# taz.de -- Whistleblowerin Chelsea Manning: „Wir werden es überleben“
       
       > Chelsea Manning informierte über US-Kriegsverbrechen und saß dafür
       > jahrelang im Gefängnis. An eine bessere Welt glaubt sie weiterhin.
       
 (IMG) Bild: „Eine realistische Optimistin“: Chelsea Manning in einem Hamburger Hotel beim Gespräch mit der taz
       
       wochentaz: Frau Manning, Sie haben [1][ein schillerndes Image]. Die
       Whistleblowerin, die trans Frau, die Verräterin, die Heldin. Sind Sie eine
       Heldin? 
       
       Chelsea Manning: Ich sehe mich nicht als Heldin. Diese Bilder stammen aus
       einem sehr engen Ausschnitt meines Lebens. Ich habe ein Statement abgegeben
       mit den Dateien, die ich bei Wikileaks hochgeladen habe. Ich habe meine
       Aussagen vor dem Militärgericht gemacht. Ich habe im Gefängnis gekämpft, um
       zu überleben. Aber das ist viele Jahre her. Das ist vorbei.
       
       Aber Sie sind nun mal eine der bekanntesten Whistleblower*innen der
       Welt. Sie haben 2010 gut eine halbe Million Seiten aus Geheimpapieren des
       US-Militärs an Wikileaks weitergegeben – und die Verbrechen von
       amerikanischen Soldaten im Irak und Afghanistan offengelegt.
       
       Für mich ist das die Geschichte meiner Jugend. Ich glaube nicht, dass man
       mein ganzes Leben nur über dieses Zeitfenster erklären kann. Deshalb habe
       ich [2][jetzt ein Buch geschrieben], um meine ganze Geschichte zu erzählen.
       Eine Coming-of-Age Story: Über das Überleben und die Suche danach, wer ich
       bin. Als ich 2017 aus dem Gefängnis kam, war das der Beginn eines neuen
       Lebens. Heute mache ich Erwachsenendinge. Ich wusste nicht, wie man
       Kreditkarten benutzt. Ich habe zum ersten mal Miete für eine Wohnung
       bezahlt. Ich muss Steuern zahlen – was vorher das Militär für mich
       übernommen hat. Ich lerne, mich durch viele neue Herausforderungen zu
       navigieren.
       
       Stört es Sie, dass so viel auf Ihre Person projiziert wird? 
       
       Nein, aber die Leute machen es sich zu einfach. Es wurde gesagt, ich sei
       eine sozial isolierte Einzelgängerin. Völlig absurd, denn ich war extrem
       extrovertiert und sozial. Ich war ein Party Animal.
       
       In Ihrem Buch schreiben Sie, dahinter stecke auch eine Strategie der
       Regierung: Man stellt Enthüller als abgedreht dar, als “nuts and sluts“. 
       
       Genauso ist es.
       
       Sie wurden zu 35 Jahren Haft verurteilt. Von denen saßen Sie sieben ab,
       bevor Ihnen der damalige US-Präsient Obama [3][die Reststrafe erließ].
       Sieben Jahre, in denen Sie Ihre Motive nicht offenlegen konnten. Wie hart
       war das? 
       
       Ich habe mich doch erklärt. Meine Erklärung lag in der “readme“-Datei, die
       ich bei Wikileaks hochgeladen habe. Diese Botschaft war sehr klar, und ich
       glaube, das haben auch alle gesehen. Er wurde von vielen nur absichtlich
       ignoriert.
       
       Die Dateien dokumentierten Folter durch US-Soldaten, Angriffe auf irakische
       Zivilisten und Journalisten… 
       
       Das waren Dinge, die ich als Militäranalystin im Irak gesehen habe und die
       ich nicht mit dem öffentlichen Bild in den USA in Einklang bringen konnte.
       Ich dachte immer, dass es als gute Absicht gilt, wenn ein Bürger der
       Öffentlichkeit zeigt, was wirklich passiert. Ich weiß nicht, wann uns das
       verloren ging.
       
       Es war klar, dass das nicht erlaubt war: Es war Ihr Job, mit
       Geheiminformationen zu arbeiten, aber nicht diese nach draußen zu geben. 
       
       Meine Aufgabe war, Geheimdienstinformationen, Quellen und Methoden für
       künftige Operationen zu schützen. Nun aber sah ich all die Toten und hatte
       das Gefühl, etwas tun zu müssen. Das war historisches Material, das
       veröffentlicht werden musste.
       
       In Kuwait waren Sie über Wochen in einen Stahlkäfig gesperrt, später saßen
       Sie lange in Isolationshaft. Wie haben Sie das durchstanden? 
       
       Ich war darauf nicht vorbereitet. Am Anfang wusste ich ja nicht mal, warum
       ich überhaupt verhaftet wurde. Ich konnte mir das natürlich zusammenreimen,
       aber mir wurden keine Vorwürfe genannt. Ich hatte keinen Zugang zu einem
       Anwalt. Ich wusste nicht, ob meine Familie oder irgendjemand sonst wusste,
       dass ich eingesperrt war. Damals dachte ich, sie könnten mich in ein Loch
       werfen, ohne jeden Prozess. Da ging es für mich nur ums Überleben. Die
       Strategie war: Wie komme ich durch die nächsten sechs Stunden? Wie komme
       ich bis zum Mittag? Zum Abendbrot? Ich brach das runter in kleine
       Einheiten.
       
       Würden Sie heute sagen, Sie waren naiv? 
       
       Mir war schon klar, dass ich Ärger bekommen würde. Es gab zwei große Fälle
       vor mir. [4][Daniel Ellsberg], der die Pentagon-Papiere über den
       Vietnamkrieg veröffentlichte – er wurde verurteilt, aber er musste nicht
       ins Gefängnis, konnte Interviews geben und Reden halten. Und [5][Thomas
       Drake], der das NSA-Überwachungsprogramm offenlegte – auch er musste nicht
       in Haft. So hatte ich das auch erwartet. Woher sollte ich wissen, dass es
       diesmal anders läuft?
       
       Haben Sie das Leaking bereut? 
       
       Ich hatte keine Chance, darüber nachzudenken. Ich habe die ganze Zeit nur
       versucht zu überleben. Und die Entscheidung fiel damals ja innerhalb kurzer
       Zeit und unter widrigsten logistischen Umständen. Am Ende war vieles
       Zufall. Es hätte auch ganz anders kommen und gar nicht klappen können. Dann
       wäre ich heute eine andere Person. Aber darüber denke ich nicht nach.
       
       Heute ist es selbstverständlich, auch aus Kriegsgebieten eine Vielzahl an
       Informationen zu erhalten. 
       
       Die Lage hat sich komplett geändert. Es geht nicht mehr darum, ob
       Informationen an die Öffentlichkeit gelangen, sondern darum, zwischen
       richtigen und falschen zu unterscheiden. Heute werden die Menschen mit
       Informationen überhäuft. Deswegen habe ich größte Schwierigkeiten mit alten
       Menschen, die noch in diesem Mindset von damals stecken.
       
       Alte Menschen? 
       
       Alte Leute, alte Journalisten, die mir immer wieder die gleichen Fragen
       über Geheimhaltung und Privatsphäre stellen. Das verwirrt mich. Leute
       fragen mich: Willst du in einer Welt radikaler Transparenz leben? Ich
       meine, schauen Sie sich um: Das ist die Welt radikaler Transparenz, oder?
       Damals konnten die Regierung, das Militär oder Großunternehmen noch
       Informationen kontrollieren und zurückhalten. Heute können sie das
       höchstens noch für vielleicht zwei Jahre.
       
       Braucht es dann überhaupt noch Whistleblower*innen wie Sie? 
       
       Ich selbst benutze diesen Begriff nicht wirklich, er klingt so nach 20.
       Jahrhundert, nach einem Polizisten mit Trillerpfeife. Aber ich bin
       sicherlich weiterhin eine Verfechterin der Transparenz. Nur ist es
       inzwischen wichtiger, einschätzen zu können, welche Information ist richtig
       oder falsch, welche ist gezielte Desinformation oder einfach nur Rauschen.
       
       Welchen Aktivismus betreiben Sie dann heute? 
       
       Ich sehe mich als Aktivistin auf eine sehr umfassende Art. Es gibt viele
       Dinge, in die ich mich einmische. Die Rolle der Geheimdienste, aber auch
       die der Polizei in den USA, ihre Gewalt und Brutalität. Wie das Militär
       verfolgt auch die Polizei eine Taktik der Dehumanisierung, sie tritt auf
       wie eine inländische Besatzungsmacht.
       
       Sind Sie auch eine Aktivistin für trans Rechte? 
       
       Naja, nicht unbedingt. Aber ich unterstütze natürlich trans Rechte. Denn es
       ist mein Interesse, als trans Person zu überleben.
       
       Schon in Ihrer Kindheit war Ihnen klar, dass Sie sich trans fühlen. Aber es
       war ein langes Ringen: Erst in Haft führten Sie Ihre Transition durch. 
       
       Ich versuchte das zu unterdrücken, aber es kam wieder zurück. Bis in meine
       frühen Zwanziger war ich eine trans Person, ohne zu wissen, dass es eine
       Community dafür gibt. Eine Gemeinschaft, die sich unterstützt, informiert
       und vernetzt.
       
       Nicht nur Ihnen, auch anderen trans Personen begegnen bis heute
       Feindseligkeiten. Ist auch das ein Problem fehlender Informationen? 
       
       Damals war es so. Es gab ja das gesellschaftliche Ziel, Informationen über
       trans Aktivismus zu verbannen: Das ist schlecht und muss gestoppt werden.
       In der Community verhinderte das, die eigene Existenz wahrzunehmen, die
       eigene Geschichte und das Bewusstsein auch Widerstand leisten zu können.
       Heute sind diese Informationen da und das Problem sind auch hier eher
       Desinformationen. Trans Menschen sind ja inzwischen sehr exponiert, aber es
       scheint ihnen nicht zu helfen.
       
       Sie wirken so verständnisvoll mit den Menschen um Sie herum. Sie glauben,
       dass Informationen eine bessere Gesellschaft formen können. 
       
       Das ist mein Job.
       
       Sind Sie Idealistin? 
       
       Eher realistische Optimistin.
       
       Nach all dem, was Ihnen widerfahren ist? Und auch angesichts dessen, dass
       in den USA Trump an die Macht zurückkehren könnte, es wieder tödliche
       [6][Schüsse auf queere Besucher*innen einer Bar] gab? 
       
       Ich weiß, dass es Dinge gibt, die nicht gut laufen auf dieser Welt. Ich
       sehe, dass eine reaktionäre Bewegung in den USA die Entwicklung
       zurückdrehen kann, insbesondere wenn es um trans Rechte geht. Das zeigen
       schon ihre Erfolge bei der Einschränkung von Abtreibungsrechten. Was mich
       dennoch optimistisch macht, ist der Fakt, dass die queere und trans
       Community, ja die ganze Menschheit, es bisher geschafft hat, auch die
       furchtbarsten Zustände durchzustehen und daraus gestärkt hervorzugehen. Das
       erwarte ich auch jetzt, bei der Klimakrise, beim Aufstieg reaktionärer und
       rechtsextremer Politik, beim Umgang mit Massenmigration aus dem globalen
       Süden und den rückständigen Reaktionen darauf oder bei der Desinformation
       über Social Media. Ja, es werden harte Zeiten. Aber ich glaube, wir werden
       das überleben. Wir werden etwas Neues und Besseres aufbauen. Auch wenn das
       noch eine Weile dauern kann.
       
       Worauf gründet Ihr Optimismus? 
       
       Wir haben in der Geschichte schon solche Zyklen durchlaufen. Nelson Mandela
       saß in Südafrika fast 30 Jahre in Haft, es sah so aus, als würde die
       Apartheid nie verschwinden. Heute ist Südafrika ein viel freieres, viel
       demokratischeres Land. Martin Luther King sagte einst: Der Bogen des
       moralischen Universums ist lang, aber er neigt sich der Gerechtigkeit zu.
       Ich glaube nicht, dass der Bogen sich einfach von allein neigt. Es braucht
       einen konstanten Druck dafür. Aber ich glaube, dass diese Art Druck möglich
       ist
       
       Wie kommt man eigentlich als queere Person auf die Idee, ausgerechnet zum
       Militär zu gehen? 
       
       Das US-Militärsystem nimmt vor allem Freiwillige auf, die am Abgrund
       stehen. In so einer Lage war ich auch: Eine 22-jährige Person, die keine
       Idee hat, in welche Richtung ihr Leben gehen soll. Ich wollte Physik
       studieren, musste aber bei Starbucks arbeiten und war eine Zeit lang
       obdachlos. Da bekam ich von allen Seiten Druck, zum Militär zu gehen, wo
       versprochen wurde, mein Leben radikal zu verbessern. Die Anwerber sagten
       mir das, die Schulen, die Medien.
       
       Und vor allem Ihr Vater, auch ein früherer Militär, der Sie in Ihrer
       Kindheit drangsalierte. 
       
       Ja, ich dachte, dass ich so seinen Respekt bekommen würde. 
       
       Gab es einen Punkt, an dem Sie aufgehört haben, darauf zu warten? 
       
       Ich habe mich jedes Mal, auch während der Armeeausbildung gefragt, wieso er
       mich nicht liebt. Wieso er mich nicht akzeptiert, was ich falsch gemacht
       habe. Das Ganze hat eine klaffende Wunde in mir hinterlassen.
       
       Spüren Sie die immer noch? 
       
       Nein, nein. Der Zug ist abgefahren. Ich habe kein Kontakt mehr zu ihm. Wir
       haben versucht ihn zu finden, wegen des Buchs. Aber keine Chance. Ich weiß,
       dass er lebt, irgendwo zwischen Tennessee und Texas. Aber mehr auch nicht.
       
       Im Militär galt damals noch die don’t ask, don’t tell- Regel. Wer nicht
       heterosexuell war, durfte darüber nicht sprechen. Wie gingen Sie damit um? 
       
       Als diese Regel eingeführt wurde, war ich sechs. Für mich war die Welt so.
       Und ich hatte nie das Gefühl, bei der Armee nicht dazuzugehören. Ich war
       dort ja auch nicht die einzige queere Person. Ich fühlte mich dazugehörig,
       bis ich im Gefängnis landete.
       
       [7][Ihre Transition begannen sie im Gefängnis], als erste Person in der
       US-Geschichte. Behörden legten Ihnen Steine in den Weg, Ihre Mitgefangenen
       waren tolerant. Wie erklären Sie sich das? 
       
       Zum einen bin ich eine soziale, freundliche und einnehmende Person. Zum
       anderen gibt es eine natürliche Solidarität unter den Inhaftierten. Alle
       schweißt zusammen, dass sie das Gefängnis offensichtlich nicht mögen. Ich
       saß in Hochsicherheitsgefängnissen, und die gewalttätigsten und
       gefährlichsten Leute, denen ich dort begegnete, waren die Aufseher. Sie
       machten, was sie wollen, und es hatte keine Konsequenzen. Natürlich gab es
       auch bei Mitgefangenen Vorurteile, aber generell hieß es: Du gehörst zu
       uns.
       
       Fühlen Sie sich heute frei? 
       
       Das kann ich so nicht sagen. Die USA sind ein Pulverfass, an-gsteinflößend,
       ein labiler Ort. Die Zeit im Gefängnis war stabiler und komfortabler. Es
       gibt viel zu viel unausgesprochene Dinge hier draußen. Über weiten Teilen
       des Landes liegt ein Schleier von Unsicherheit. Du weißt nie, ob du nächste
       Woche noch einen Job hast oder eine Krankenversicherung.
       
       Clubs und Partys haben Ihre Jugend ausgemacht, heute legen Sie auch als DJ
       auf. Wirft Sie das in Ihr altes Leben zurück? 
       
       Naja, ich lege ein paar Songs aus dieser Zeit auf. Aber eigentlich schaue
       ich mehr nach vorne. Ich hätte nicht überleben können, ohne nach vorne zu
       schauen. Im Gefängnis habe ich gelernt, nicht in der Vergangenheit zu
       schwelgen. Das hat noch nie jemandem geholfen.
       
       Am Donnerstag war Chelsea Manning in der taz zu Gast. Das Gespräch ist
       [8][auf Youtube] zu sehen.
       
       25 Nov 2022
       
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