# taz.de -- Folkpop-Album von Natalie Mering: Verstörung und Trost
       
       > Wo knirscht es zwischen den Menschen, woran können sie glauben? Diesen
       > Fragen geht US-Musikerin Natalie Mering auf ihrem neuen Album nach.
       
 (IMG) Bild: Was kommt, nachdem die Menschen Gott getötet haben? Musikerin Weyes Blood wirft diese Frage auf
       
       „We’ve all become strangers / Even to ourselves“: So schlicht wie nüchtern
       bringt die US-Künstlerin Weyes Blood alias Natalie Mering ihre
       Gegenwartsdiagnose auf den Punkt. Und sie drückt dies mit klarer Stimme
       über sanften Perkussionklängen und Klavier aus. Ihr Song „It’s Not Just Me,
       It’s Everybody“, verdichtet schön, was Weyes Blood auf ihrem nunmehr
       fünften Album „And in the Darkness, Hearts Aglow“ umtreibt.
       
       Die 34-Jährige versucht, unübersichtliche Gefühlslagen zu ergründen, die
       unsere moderne Lebenswelt weltweit hervorbringt – mit besonderem Augenmerk
       auf die Millennials, der Generation, zu der Weyes Blood sich zählt.
       
       Was macht die Digitalisierung mit emotionalen Bedürfnissen; wieso lassen
       wir uns von der drohenden Apokalypse lähmen? Oder, um aus einem Brief zu
       zitieren, den die Musikerin ihrem Album vorausgeschickt hat: „Sich im
       Dunkeln orientieren, in einer Zeit der Instabilität und des
       unwiderruflichen Wandels. Nach Glut suchen, wo einst Feuer war. Sich
       freimachen von Algorithmen und sich wiederholenden Schleifen. Informationen
       sind im Überfluss vorhanden und bleiben doch zu abstrakt, um zu handeln.“
       
       [1][Auf dem gefeierten Vorgänger „Titanic Rising“ (2019)], dem ersten Teil
       einer Trilogie, lag ihr Fokus noch auf dem drohenden ökologischen Kollaps.
       Auf dem Cover trieb sie mit aufgerissenen Augen durch ihr überflutetes
       Jugendzimmer.
       
       ## Vergesst nicht, freundlich miteinander umzugehen
       
       Nun blickt sie auf unser Sozialleben – dieser Schwenk kam in der
       Covidpandemie. „Ich war schockiert, weil ich fest geglaubt hatte, dass nach
       den Lockdowns [2][die Idee von community] eine Renaissance erfahren würde;
       dass Menschen klarer werde, wie zentral das alltägliche Miteinander ist.
       Statt dessen haben sie sich noch mehr an ihre Telefonen geklemmt. Auch die
       gesellschaftliche Polarisierung hat sich verschärft, zumindest in den USA.
       Das geht so weit, dass Flugbegleiter:innen bei Inlandsflügen die
       Passagiere bei ihren Durchsagen ermahnen: Vergesst nicht, freundlich
       miteinander umzugehen.“
       
       Mering denkt Entfremdung, die Popkünstler:Innen immer wieder zum Thema
       gemacht haben, eine Umdrehung weiter. Sie fragt nicht nur, wo es zwischen
       Mensch und Umgebung knirscht, sondern wie überhaupt Sinn erschaffen werden
       kann, wenn wir uns als Spezies immer überflüssiger machen.
       
       Zugleich will Weyes Blood in ihren Songs abklopfen, was in unserer Kultur
       überhaupt noch als Material für Mythen taugt – denn Erzählungen, so glaubt
       sie, werden dringend gebraucht. „Ich halte es für einen Trugschluss, dass
       die Menschen agnostisch funktionieren, ohne dass etwas an die Stelle von
       Religion tritt. Im 19. Jahrhundert hat niemand angezweifelt, dass wir
       Seelen haben. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Menschen
       Gott getötet und nicht gemerkt, dass sie ihn durch den Konsumkapitalismus
       ersetzten.“
       
       Neben anderen Problemen, die das digitale Alltagsleben mit sich bringt,
       verlernen wir, dass Dinge ein Ende haben, glaubt Mering. „Das Internet ist
       eine Kulturtechnik, die sich dem Tod verweigert. Alles wird konserviert,
       muss immer auf einem Höhepunkt bleiben. Wenn nichts sterben darf, kann
       allerdings auch nichts Neues entstehen.“
       
       Große Themen also. Doch selten wurde fundamentale Verstörung derart
       einnehmend verpackt wie in der Musik von Weyes Blood – wie auch schon in
       „Titanic Rising“. Ihre Songs bauen sich langsam auf; barocker
       Westcoast-Folkpop („The Worst Is Done“) trifft auf eigenwillige, mit
       Widerhaken versehene Ambientflächen („In Holy Flux“): eine Reminiszenz an
       Merings musikalische Sozialisation.
       
       Als Teenager, aufgewachsen an der US-Ostküste, entdeckte sie Noise für sich
       und begann – seinerzeit unter dem Alias Wise Blood (inspiriert vom
       Flannery O’Connors gleichnamigen Roman) – experimentelle Musik zu machen.
       Lange war Natalie Mering überzeugt, dass Noise auch im Mainstream das
       nächste große Ding werde – der zwingende Soundtrack zum Zeitgeist.
       „Offenbar teilten nicht alle meine Desillusion“, stellt sie trocken fest.
       „Gerade nach der Finanzkrise 2008 gingen die Bedürfnisse in die
       entgegengesetzte Richtung: Leute wollten sich von Musik trösten lassen.“
       
       ## Viele Menschen erreichen
       
       Weyes Blood selbst, so erzählt sie, wollte sich nicht dauerhaft in
       marginalisierten Avantgarde-Zirkel bewegen, „weil es mir darum geht, mit
       Musik möglichst viele Leute zu erreichen“. Ohnehin sei ihr Publikum von
       jeher viel stärker darauf angesprungen, wenn sie sanfte Songs singe, als
       wenn sie sich an krachigen Experimenten versuchte. „Langsam habe ich
       akzeptiert, dass ich einfach besser darin bin, schöne Musik zu machen –
       auch wenn immer noch ein akustischer Entdeckerinnengeist in mir steckt.“
       
       Weyes Blood ist offen für Experimente, zugleich bewundert sie
       Songwriter:innen der Goldenen Generation, [3][Harry Nilsson] und Joni
       Mitchell etwa. Ihre Faible für Wohlklang, erzählt sie leicht amüsiert,
       verdankt sie dem Umstand, dass ihre Mutter sie früher bevorzugt Filme der
       1940er Jahren konsumieren ließen, Musicals mit Judy Garland – schlichtweg,
       weil es da keinen Zensurbedarf gab. Ihre Eltern waren Wiedergeborene
       Christen.
       
       Trotzdem hat sie einiges an musikalische Prägung von ihnen mitbekommen.
       Ihre Mutter war einst Vaudeville-Sängerin, ihr Vater Sänger in einer
       New-Wave-Band. Aufgewachsen ist Mering in Pennsylvania. Nach der Schule zog
       sie nach Portland, wo sie sich unter anderem der Experimentalband Jackie-O
       Motherfucker anschloss; mittlerweile lebt Weyes Blood in einer kleineren
       Stadt in der Agglomeration von Los Angeles. Von der religiösen Prägung habe
       sie sich freigemacht, doch sie beschreibt sich als spirituellen,
       buddhistisch grundierten Menschen.
       
       ## Wandel im Beziehungsleben
       
       Als sie an „Titanic Rising“ arbeitete, so erzählt Mering, ging sie davon
       aus, auf dem zweiten Teil der Trilogie das Prinzip Hoffnung zum Thema zu
       machen. Währenddessen sei so viel passiert. „Es vollzieht sich gerade ein
       massiver Wandel, was unsere intimsten Dinge, unser Beziehungsleben angeht.“
       So gesehen sei das Album nun eher zum „Liebesroman der Trilogie“ geworden –
       was sie als große Herausforderung empfand.
       
       „Mich nervt, dass viele Popsongs immer noch nach 1992 klingen. Es ist doch
       wichtig, eine Sprache für das zu finden, was sich seither verändert hat,
       Zeilen, die nicht banal oder abgedroschen klingen – was gar nicht einfach
       ist“, stellt sie fest. „Wie singt man darüber, was es mit Menschen macht,
       wenn ihre Social-Media-Posts unbeachtet bleiben, wenn Textnachrichten
       ungelesen gelöscht werden? Das Problem mit vielen zwischenmenschlichen
       Problemen: Sie wirken einfach ein bisschen peinlich.“
       
       „Cause we are more than our disguises / We are more than just the pain /
       And I’m standing here laughing at my shame“, singt sie dazu in „Twin
       Flame“: sphärischer Gesang über einen luftig puckernden Beat, der klingt
       wie eine Weigerung, sich hetzen zu lassen. Und so versucht sich Weyes Blood
       auf dem Album immer wieder auch an einem anderen Blick auf den Narzissmus,
       der ja gerne als symptomatische Störung der Gegenwart gelesen wird – indem
       sie etwa in dem hymnischen Track „God Turn Me into a Flower“ einen recht
       empathischen Blick auf den jungen, unwissentlich in sein eigenes
       Spiegelbild verliebten Mann aus der griechischen Mythologie wirft.
       
       Natalie Merings Songtexte wirken trotz des kalifornischen New Age Vibes,
       der sich durch manche Klangtextur zieht, nur wenig esoterisch, dafür
       klingen sie manchmal präzise und immer nuanciert. Auf dem nächsten Album,
       dem Abschluss der Trilogie, erklärt Mering, wolle sie aber wirklich
       Hoffnung einfangen. In die Wolken abzuheben, wie sie es nennt. Wie schön
       für ihre Hörer:innen, dass zumindest ihre uplifting Klangwelten das bereits
       jetzt erlauben.
       
       18 Nov 2022
       
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