# taz.de -- Energiewende auf dem Land: Die Energie bleibt im Dorf
       
       > Die Energiewende? Stockt im Großen. Anders im Kleinen: Einige Kommunen
       > produzieren ihren Strom und ihre Wärme lokal. Besuch im thüringischen
       > Schlöben.
       
 (IMG) Bild: Willkommen in Schlöben
       
       Schlöben taz | Hans-Peter Perschke tritt vor das Gemeindehaus, steckt sich
       eine Zigarette an, sagt: „Schauen Sie bitte mal nach oben“, und stellt sich
       unter das Wappen von 1736. Und nun hebt Perschke zu einem Vortrag über die
       Romantik an und ihren Bezug zu Schlöben, über das Wirken der Familie von
       Hardenberg und über ihren Abkömmling Friedrich, [1][besser bekannt als
       Novalis]. „Unser Held“, sagt Perschke. Hier in Schlöben war der junge
       Dichter oft bei seinem Onkel zu Gast. „Wäre er nicht so früh gestorben, er
       wäre hier Gutsherr geworden“, sagt der Bürgermeister, redet von der Jenaer
       Frühromantik und vom Novalis-Pfad. Eine Katze schleicht durchs Gebüsch. Es
       ist kurz nach neun.
       
       Was hat das alles mit der Biogasanlage zu tun? Mit der sechs Kilometer
       langen Wärmeleitung? Dem Blockheizkraftwerk? Hans-Peter Perschke blickt
       milde durch die Brille: „Für die Aufklärung war die Natur nur eine
       Ressource des Menschen. Die Romantiker aber suchten den Einklang mit ihr.“
       
       Für Perschke ist es das Leitbild: „Familienfreundlichkeit, Umgang mit den
       Ressourcen, Nachhaltigkeit.“ Die Umwelt müsse lebenswert sein. Natürlich
       braucht es Familien mit Kindern, und Perschke kommt auf Novalis zurück: „Da
       wo Kinder sind, beginnt ein goldenes Zeitalter.“ Es klingt kein bisschen
       schwülstig.
       
       Perschke führt über den Gemeindehof. Hinter einer Hecke aus Jasmin erheben
       sich die Getreidesilos der Agrargenossenschaft. Es ist nicht so, dass
       Schlöben eine Postkartenidylle wäre. Hier und dort Fachwerk, ansonsten
       einige Altneubauten, aufgehübschte Häuschen, dazu Zweckbauten und die
       Hallen und Silos der Agrargenossenschaft. Stattliche Vierseithöfe findet
       man keine.
       
       „Schlöben war kein Bauerndorf, sondern ein Gutsdorf“, sagt Perschke. Sein
       Mittelpunkt waren Rittergut und Schloss. Hier hatte der Gutsherr das Sagen,
       später die SED-Genossen wie der Schuldirektor. Das Schloss muss weg,
       forderte der. Es kam weg. An seiner Stelle entstand ein Kulturhaus.
       Schlöben sollte ein sozialistisches Dorf werden.
       
       Und seit Juni 1990 hat Hans-Peter Perschke als Bürgermeister das Sagen?
       Jedenfalls hat er Ideen. 2012 wurde Schlöben zum [2][„Bioenergiedorf“]. Da
       wurde die Wärme für das Dorf schon mit Mist, Gülle, Silomais und
       Hackschnitzeln erzeugt. Da, wo Kühe sind, kann man eine Biogasanlage
       betreiben, ließe sich mit Novalis sagen. Richtig genutzt, führt auch sie in
       eine goldene Zeit. Immer wieder wird Perschkes Rede vom Telefonklingeln
       unterbrochen. Meist sind es Gratulanten. Kürzlich wurde Perschke mit über
       95 Prozent als Bürgermeister bestätigt. Sechs weitere Jahre wird der
       67-Jährige ehrenamtlicher Bürgermeister von Schlöben bleiben.
       
       Eben noch hat Hans-Peter Perschke über die Blaue Blume der Romantik
       philosophiert, jetzt hat er das Heizhaus geöffnet und beschreibt in das
       Brummen der Anlage hinein die Umwandlung von Biomasse in Strom und Wärme.
       Die Biogasanlage neben der Milchviehanlage im Nachbarort produziert nicht
       nur Methan, das in Strom umgewandelt wird. Das passiere woanders auch. In
       Schlöben wird auch die Abwärme genutzt. Dazu braucht es außer Biogasanlage
       und Blockheizkraftwerk eine Wärmeleitung durchs Dorf und für die Winter
       noch eine Hackschnitzelheizung, die mit Biomasse aus der Landschaftspflege
       und aus nahen Forsten kommt. Von hier aus schlängelt sich die
       „Nahwärmeleitung“ unter der Dorfstraße, geht von Haus zu Haus und
       garantiert einen stabilen Preis für Heizung und Warmwasser. Nichts davon
       ist spektakulär, alles zusammen macht das Dorf energieautark.
       
       „Ich bin ein Fetischist der Nachhaltigkeit“, sagt Perschke. In seinem
       Gemeindehaus finden sich nur gebrauchte Möbel, vor dem Gemeindehaus steht
       eine E-Ladesäule und auf dem Gemeindehof steht ein Bauwagen, wo Gebrauchtes
       getauscht werden kann.
       
       Sein Meisterwerk ist die Energiegenossenschaft, die 2009 gegründet wurde
       und die seit zehn Jahren Wärme und Strom liefert. Den Strom verkauft die
       Genossenschaft zu einem fixen Preis. Von der Wärme profitiert jeder
       Grundstückseigentümer, der der Energiegenossenschaft beigetreten ist und
       Anteile von mindestens 2.000 Euro erworben hat.
       
       Ein kritischer Moment, erinnert sich Perschke. Die Vision begann, Geld zu
       kosten. Doch der Bürgermeister hatte einen Joker. Schlöben hatte sich bei
       einem Bundesmodell für den Breitbandausbau, Glasfaser bis in die Wohnung
       (FTTH), beworben und bekam eine Förderung von 90 Prozent. Zusammen mit dem
       Wärmenetz wurden Glasfaserrohre verlegt, was die Gesamtinvestitionen
       drückte, den Nutzen aber vergrößerte. „Wenn du Glasfaser haben willst, dann
       mach doch gleich mit beim Wärmenetz“, war ein „leichtes Druckmittel“, wie
       Perschke einräumt.
       
       Manches klingt ein wenig nach Zuckerbrot und Peitsche, nicht nach einem
       thüringischen Bullerbü. Perschke ist kein Mitglied von Bündnis 90/Die
       Grünen, sondern war 20 Jahre lang SPD-Kreisvorsitzender und deren
       Fraktionsvorsitzender im Kreistag. Im vorigen Jahr zog er sich von den
       Ämtern zurück. Als „streitbar und anerkannt“ beschrieb ihn damals die
       Ostthüringer Zeitung. Das Telefon klingelt. Manche Gratulation klingt heute
       besonders süß. Viele würden jetzt gern der Energiegenossenschaft beitreten.
       
       „Wir nehmen momentan keinen auf“, sagt ein Mann mit thüringischem Dialekt.
       „Die Anlage ist ausgereizt.“ Volker Schmidtke, der auf einem Fahrrad
       herangerollt kam, ist hinzugetreten. Verglichen mit dem Bürgermeister ist
       Schmidtke ein Hüne, doch ein sanfter. Ist Perschke einer der beiden
       Vorstände der Genossenschaft, so ist Schmidtke, der bei der Jenaer
       Straßenbahn arbeitet, einer der beiden Aufsichtsräte. Demnächst ist
       Generalversammlung, 120 Mitglieder hat die Genossenschaft. Die Dinge laufen
       prima. Man sieht es in Schmidtkes Gesicht.
       
       „Klar stehen die Leute auf der Matte“, sagt Perschke. Doch wer nicht ans
       Wärmenetz angeschlossen ist, profitiere trotzdem. Die Grundschule, der
       Kindergarten und das Gemeindehaus werden mit der Wärme versorgt, das spart
       Kosten und inzwischen bringe es die Genossenschaft auf einen Umsatz von 1,7
       bis 1,8 Millionen Euro im Jahr und spüle Gewerbesteuern in die
       Gemeindekasse. Es klingt, als hätten sie hier das Perpetuum mobile
       erfunden.
       
       Seit Jahren schon reisen Delegationen nach Schlöben. In diesem Jahr hat
       sich das Interesse noch einmal deutlich erhöht. Seit dem russischen Angriff
       auf die Ukraine geht es nicht nur um ökologische Überzeugungen, es geht ums
       Geld. Der Krieg, der am 24. Februar begann, das Rätselraten um
       Gasprom-Lieferungen danach, schließlich die Gas-Alarmstufe, die Robert
       Habeck am 23. Juni ausgerufen hat – was die Wärmeversorgung betrifft, ist
       Schlöben gefeit.
       
       In Sichtweite der Hackschnitzelhaufen hat Perschke eine Art
       Schiffscontainer geöffnet. Lärm und Hitze schlagen heraus – das
       Blockheizkraftwerk. Es erinnert an eine Höllenmaschine, aber eine
       domestizierte. Von der Biogasanlage führt eine Gasleitung hierher, das Gas
       treibt die beiden Sechszylindermotoren an, Generatoren erzeugen den Strom,
       der ins Netz fließt, die Wärme aber bleibt im Dorf. „Strom für 7.000
       Leute“, sagt Schmidtke. In der Gemeinde Schlöben selbst leben mittlerweile
       917 Menschen. 1990 waren es gut 600.
       
       Musste ihn Hans-Peter Perschke lange überzeugen, der Genossenschaft
       beizutreten? „Keinen Augenblick“, sagt Volker Schmidtke. Ihm habe einen
       Blick auf die Preiskalkulation genügt. Vorher hatte er einen Flüssiggastank
       neben dem Haus. Die Preise stiegen von Jahr zu Jahr. Und wenn man auch noch
       der Umwelt etwas Gutes tun kann – Schmidtke strahlt eine geradezu robuste
       Zufriedenheit aus.
       
       Und noch etwas. Das Projekt habe zu einem größeren Zusammenhalt geführt,
       sagt Schmidtke. Als Aufsichtsrat habe er schon selbst Wärmezähler
       abgelesen. „Wir hängen förmlich an einer Leitung“, sagt Perschke. Auch die
       Akzeptanz für die Landwirtschaft ist gestiegen. Wichtig, wenn es mal lärmt,
       staubt oder stinkt.
       
       Was aus der Ferne wirkt wie ein Treckerstellplatz mit Vordach, entpuppt
       sich als Getreidetrocknung. Betriebswirtschaftlich ist sie ein Glücksfall,
       denn die überschüssige Wärme im Sommer strömt durch Schlitze in den
       Stahlböden nach oben, wo bald Berge von Weizen und Gerste getrocknet
       werden. Lukrativ für die Agrargenossenschaft, anderswo geschieht das mit
       Öl. „Das hat uns schon gut Geld in die Kasse gespült“, freut sich
       Schmidtke.
       
       Perschke sagt nüchtern: „Wir haben eine Wertschöpfungskette losgetreten,
       wie wir sie nicht vermutet hätten.“ Geld, das früher mit der Heizrechnung
       verschwand, bleibt nun im Dorf. „Für mich ist der Begriff Teilhabe wichtig.
       Die Menschen müssen was davon haben. Der Mensch ist so gestrickt.“ Außerdem
       sind Jobs entstanden. Die [3][Agrargenossenschaft], die die Wartung aller
       Anlagen übernommen hat, hat eine Abteilung Elektrobau mit fünf Angestellten
       aufgebaut.
       
       Da schießt plötzlich ein blitzsauberer E-Golf über den Hof und hält vor den
       Energiemanagern im Ehrenamt. Der Mann, der aussteigt, ist Matthias Klippel,
       Jahrgang 1968, Chef des Agrarunternehmens und Co-Vorstand der
       Energiegenossenschaft. Ohne Klippel, ein kräftiger Typ mit dichtem,
       struppigem Haar, wäre das alles hier nur ein Traum geblieben. Die Erklärung
       findet sich im Nachbarort. So schnell wie Klippel ankam, so schnell fährt
       er weiter zur Biogasanlage. Mit einer Staubfahne am Heck düst er zur
       Milchviehanlage Mennewitz, wo 500 Milchkühe in einem offenen Stall
       zufrieden im Stroh liegen und wiederkäuen.
       
       Alles habe mit der äußerst schlechten „Performance“ der Milchpreise
       angefangen, beginnt Klippel. Mit Milch Geld zu verdienen werde immer
       schwieriger. Da muss sich ein Landwirt nach weiteren Einnahmen umschauen.
       Insbesondere, wenn Jena in direkter Nachbarschaft mit gutbezahlten Jobs
       winkt.
       
       „Ein Bauer, wenn er gut ist, kann Stoff- und Energiekreisläufe schließen“,
       sagt Klippel. Im ersten Kreislauf floss Biosprit. Man habe den eigenen Raps
       gepresst und so 300.000 Liter Biodiesel im Jahr produziert. Die Hälfte ging
       in die eigenen Trecker, die andere Hälfte an Spediteure, der Rapskuchen,
       die Rückstände der Pressung, wurde verfüttert – ein perfekter Kreislauf.
       Bis die Bundesregierung die steuerliche Vergünstigung auf Biodiesel aufhob.
       
       Beim zweiten Anlauf dachte Klippel an eine Biogasanlage, um den anfallenden
       Mist und die Gülle zu verwerten. Heizwärme war kein Thema. Eine
       Milchviehanlage außerhalb des Dorfes brauche kaum Wärme. Könne die Anlage
       nicht etwas größer werden, um Schlöben mit Wärme zu versorgen, habe
       Perschke gefragt. Der Rest ist inzwischen Dorfgeschichte.
       
       Dabei hätte Klippel das alles nicht mitmachen müssen. Doch die Gemeinde
       Schlöben habe über die Jahre allen Bauvorhaben zugestimmt, erzählt er.
       Heutzutage alles andere als selbstverständlich. „Da kann man das ja auch
       ein Stück zurückgeben.“ Und so steht hinter den Kuhställen eine
       Biogasanlage für 800 Kilowatt (kW) und nicht nur für 350 kW. Neben Gülle
       und Mist wird sie auch mit Maissilage beschickt, Silage eher zweiter Güte,
       wie Klippel betont, außerdem verbunden mit der Auflage, dass sein
       Unternehmen, das gut 2.100 Hektar Ackerland und 470 Hektar Grünland
       bewirtschaftet, nicht mehr Mais anbaut als zuvor.
       
       Die ökonomische Verflechtung ist intensiv. Die Biogasanlage gehört der
       Energiegenossenschaft, betrieben wird sie aber von Klippels Unternehmen,
       das an die Genossenschaft Gülle, Mist und Mais verkauft, die Gärrückstände
       als Dünger erwirbt, dazu Wärme und Strom. Klippels Leute kümmern sich um
       den Betrieb und die Wartung von Blockheizkraftwerk und Hackschnitzelheizung
       und erledigen die Abrechnung der Heizkosten.
       
       Was hier so einträchtig ineinandergreift, spart aber vor allem Öl und Gas.
       „Zwölf bis vierzehn große Tanklaster mit Heizöl pro Jahr.“ Klippel hat das
       mal ausgerechnet. „Ich habe jedenfalls meinen Teil zur Energiewende schon
       beigetragen.“ Das habe Klippel auch den jungen Frauen von Fridays for
       Future gesagt, die ihn hier mal besuchten. „Sie haben genickt.“
       
       Hans-Peter Perschke ist am Abend wieder da, wo er am Morgen stand, in der
       Nähe des Wappens. Man könnte meinen, sie trügen den Visionär hier auf
       Händen. So einfach war es nicht, sagt er, es gab Anfeindungen. Jetzt
       gründet der Perschke noch eine Bioenergieanlage und füllt sich die Taschen,
       so habe eine Schmähung geklungen. Es kursierte auch Handfesteres.
       Inzwischen gratulieren selbst die artig, die gar nicht wählen waren,
       amüsiert sich Perschke. Vor zwei Jahren haben sie ihn hier zum Ehrenbürger
       ernannt. Eine seltene Art der Huldigung für eine Gemeinde mit sechs
       Dörfern.
       
       Zumal für einen Zugereisten, der aus dem brandenburgischen Oderbruch
       stammt. 1985 studierte Perschke in Moskau, erlebte im März den Machtwechsel
       auf Gorbatschow, marschierte am 1. Mai am jugendlichen Kreml-Herrn vorbei
       und wollte die Perestroika in die DDR tragen, konkret nach Schlöben, wo
       Perschke bald darauf seine erste Lehrerstelle erhielt. Das ging schief.
       Nach dem ersten Schuljahr wurde er in ein „Spezialkinderheim“ abgeschoben.
       Eine bedrückende Zeit. Ein Versuch, bereits 1989 zur Kommunalwahl
       anzutreten, scheiterte. 1990 gründete er die Wählergemeinschaft Schlöben.
       Perschke wurde Bürgermeister und ließ das Leitbild einer kinderfreundlichen
       und ökologischen Ausrichtung verankern.
       
       Und jetzt rauscht sanft das Blockheizkraftwerk in der Nähe. Es ist der
       Herzschlag des Bioenergiedorfs. Die 120 Genossenschaftsmitglieder zahlen 6
       Cent pro Kilowattstunde, dazu eine Grundgebühr von 25 Euro im Monat, macht,
       auf Heizöl umgerechnet, etwa 60 Cent pro Liter. Unschlagbar. „Die Erfahrung
       ist, es ist gutgegangen“, sagt Perschke. Eine der intensivsten Zeiten in
       seinem Leben war es sowieso.
       
       Die Abendsonne taucht Schlöben in goldenes Licht, in der Ferne glänzen die
       Kuppeln der Biogasanlage. Und an den Feldrainen stehen Kornblumen in zartem
       Blau.
       
       11 Jul 2022
       
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