# taz.de -- Sexualisierte Gewalt anzeigen: Der doppelte Schmerz
       
       > Wer sexualisierte Gewalt anzeigt, stößt bei der Polizei oft auf Ignoranz.
       > In Frankreich organisieren sich Frauen unter dem Hashtag #DoublePeine.
       
 (IMG) Bild: Zehntausende Feminist:innen gingen am vergangenen Wochenende in Paris auf die Straße
       
       Die Polizisten fragten mich, ob ich es nicht auch gewollt hätte.“
       
       „Man sagte mir, wer solch ein kurzes Kleid trägt, solle sich nicht
       wundern.“
       
       „Ich solle mich nicht so anstellen, das passiere nun einmal.“
       
       Unter dem Hashtag #DoublePeine berichten Tausende Frauen in Frankreich auf
       einer eigens gegründeten Website von Demütigungen beim Erstatten einer
       Anzeige wegen sexualisierter Gewalt. Es ist eine scheinbar unendliche
       Aneinanderreihung von Erniedrigungen, die einem beim Scrollen auf dem
       Bildschirm entgegenrollt. Ausgelöst wurde das Ganze [1][von der
       feministischen Influencerin Anna Toumazoff,] die schon in der Vergangenheit
       Onlinekampagnen gegen Belästigung und Sexismus initiiert hatte. Im
       September veröffentlichte sie in einem Thread die traumatischen
       Erfahrungen einer 19-Jährigen auf einer Polizeiwache in Montpellier, die
       eine Vergewaltigung anzeigen wollte. Frauen aus dem ganzen Land begannen
       daraufhin, ihre Erfahrungen zu teilen und gingen auf den Straßen
       protestieren.
       
       Was sie alle eint, ist der #DoublePeine, zu Deutsch: der doppelte Schmerz,
       das doppelte Leid, die doppelte Strafe. Die Herabsetzung durch die
       Beamt:innen fühlt sich für die Betroffenen so an, als würden sie die
       Gewalt der Tat erneut erleben. Die Beamt:innen hätten unsensibel
       reagiert, sie ausgelacht, die Tat verharmlost oder gar den Opfern selbst
       die Schuld an der Vergewaltigung gegeben.
       
       Nach wochenlangem Protest kündigte Frankreichs Innenminister Gérald
       Darmanin an, dass Beamt:innen in Zukunft die Opfer sexualisierter oder
       häuslicher Gewalt auch in einem privaten Umfeld für das Aufnehmen der
       Anzeige aufsuchen können, wenn diese es wünschen. So soll ihnen die
       Umgebung der Polizeistation erspart werden.
       
       ## Zu Protokoll
       
       Anders als in Deutschland, wo man über die Online-Wachen der Bundesländer
       auch virtuell Anzeige erstatten kann, musste man in Frankreich bisher eines
       der Polizeikommissariate aufsuchen. Das Angebot der Online-Wachen soll die
       Hemmschwelle senken, [2][überhaupt anzuzeigen]. Ihre Aussage müssen die
       Betroffenen anschließend dennoch bei der Polizeistation zu Protokoll geben.
       
       In Deutschland gab es bisher keine vergleichbaren Proteste wie in
       Frankreich, obwohl auch hierzulande eklatante Mängel bei der Nachverfolgung
       von Sexualdelikten existieren. [3][Jede dritte Frau in Deutschland ist von
       physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen], doch nur etwa jedes
       zehnte Opfer erstattet laut Studien Anzeige. Was hält sie davon ab?
       
       Auf eine Umfrage der tazin den sozialen Medien nach Erfahrungen bei der
       Anzeigeerstattung meldeten sich Dutzende Betroffene von sexualisierter
       Gewalt. Sie erzählen davon, wie Beamt:innen sie nicht ernst genommen,
       sie ausgelacht, beschimpft und weggeschickt hätten. Ihnen wurde gesagt, die
       Polizei hätte genug mit Morden, mit „richtigen Fällen“ zu tun. Nicht alle
       ihre Geschichten können in diesem Text erzählt werden, doch die schiere
       Menge der Rückmeldungen weist auf ein ernstzunehmendes Problem hin.
       
       Eine der Frauen ist Ophelia, sie hat unter der Bedingung mit der taz
       gesprochen, dass ihre Anonymität gewahrt bleibt. Im Februar 2019 geht
       Ophelia in einem Club in Berlin feiern. In der Garderobe ist sie mit
       Freunden zusammen, als sich ein Mann direkt neben sie setzt. Sie kennt ihn
       flüchtig, hat ihn vorher schon ein paar Mal im Club gesehen. Er beginnt,
       Ophelias Oberschenkel zu streicheln, berührt sie am Knie. Ophelia stößt
       seine Hand weg. Er hört nicht auf. „Als es mir zu viel wurde, bin ich zur
       Frauentoilette gegangen und habe mich eingeschlossen. Das war eigentlich
       immer ein Safe Space für mich“, sagt Ophelia. Der Mann folgt ihr, ohne dass
       Ophelia es merkt. Als sie die Tür der Klokabine öffnet, blockiert er den
       Eingang. Er vergewaltigt sie.
       
       ## Ophelias Geschichte
       
       Erst Wochen später kann die Architekturstudentin mit einer Freundin darüber
       sprechen, was passiert ist. Und nur mit der Unterstützung dieser Freundin
       schafft sie es, im März 2020 zur Polizei zu gehen. Sie erstattet die
       Anzeige online und wird daraufhin zur Wache gebeten, um ihre Aussage zu
       Protokoll zu geben.
       
       Ein männlicher Beamter führt sie in einen gesonderten Raum. Ophelia fühlt
       sich nicht wohl, sie hätte lieber mit einer Frau gesprochen. Auf ihre
       Rückfrage wird geantwortet, die Station sei unterbesetzt. Rund zweieinhalb
       Stunden wird die damals 21-Jährige befragt, soll jedes intime Detail
       berichten. Sie wisse, dass diese ausführlichen Schilderungen nötig seien,
       um das Geschehene rückverfolgen zu können. Jedoch habe man sie dabei mit
       Vorwürfen überhäuft, sagt Ophelia. „Ich hatte das Gefühl, es wird immer nur
       nach meinem Verhalten gefragt. Dabei hat er doch eine Straftat begangen“,
       sagt sie. Der Polizist habe gesagt, es sei doch normal, dass in diesem Club
       „solche Dinge“ passierten, und was denn ihre Absichten gewesen seien. Dort
       feiern zu gehen, sei doch praktisch ein Einverständnis. „Und dann diese
       Frage: ‚Was hatten Sie in der Nacht an?‘ – als hätte meine Kleidung dazu
       beigetragen, als wäre es meine Schuld“, sagt Ophelia.
       
       [4][Christina Clemm ist Fachanwältin für Familien- und Strafrecht in
       Berlin.] Sie vertritt häufig Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt
       haben. Sie sagt: „Es gibt zahlreiche Gründe, warum Betroffene nicht zur
       Polizei gehen: Sie haben Angst vor Repressalien durch die Täter, die Länge
       des Verfahrens und die Reaktion ihres Umfelds, wenn sie von der Tat
       berichten. Am liebsten möchten Sie das Geschehene so schnell wie möglich
       vergessen. Sie fürchten, ihnen könne nicht geglaubt werden. Einige haben
       bereits schlechte Erfahrungen, wie etwa Rassismuserfahrungen, mit der
       Polizei gemacht.“
       
       Im Jahr 2020 gab es in Deutschland 9.872 Opfer von Vergewaltigung,
       sexueller Nötigung und sexuellem Übergriff, die Dunkelziffer liegt deutlich
       höher. Je näher sich Täter und Opfer stehen, desto unwahrscheinlicher ist
       die Anzeige – dabei stammen die Täter, meist Männer, im Regelfall aus dem
       Nahbereich. Ist der Täter unbekannt, liegt die Wahrscheinlichkeit einer
       Anzeige bei etwa 50 Prozent. Kommt der Täter aus dem Freundeskreis, geht
       nur noch etwa jedes vierte Opfer zur Polizei. Wenn der Täter zur Familie
       gehört, sinkt die Anzeigebereitschaft weiter auf nur noch etwa 18 Prozent.
       Viele Betroffene stehen nach dem Überleben von sexualisierter Gewalt unter
       Schock. Sie brauchen teilweise Wochen, Monate, Jahre, bis sie realisieren,
       was passiert ist und sie darüber sprechen können. Dann ist es in der Regel
       schon zu spät, Beweise wie Verletzungen am Körper zu dokumentieren. Die
       Hemmschwelle, zur Polizei zu gehen, ist hoch. Die Scham ist groß, die
       Angst, dass einem nicht geglaubt wird, noch größer. „Victim Blaming“, die
       Unterstellung, das Opfer würde lügen, um von der Anschuldigung zu
       profitieren, ist keine Seltenheit.
       
       ## Retraumatisiert bei Anzeige
       
       Umso wichtiger also ein sensibler Umgang mit den Betroffenen. Doch auf
       Anfrage der taz antwortet die Polizei Berlin, es gebe noch keine spezielle
       Fortbildung für die Beamt:innen des Kriminaldauerdienstes zum Umgang mit
       Opfern von sexualisierter Gewalt. Mit jenen Beamt:innen haben
       Betroffene, die Anzeige erstatten wollen, den ersten Kontakt.
       
       Das zuständige Dezernat für Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung
       hat ein „Merkblatt“ für den richtigen Umgang eingeführt. „Menschen dürfen
       nicht durch das Erstatten der Anzeige retraumatisiert werden. Das muss
       unbedingt sichergestellt werden“, sagt Strafanwältin Christina Clemm. Es
       gebe zu wenig geschultes Personal und zu wenig öffentliche
       Aufklärungsarbeit. Viele Betroffene würden überhaupt nicht ihre rechtlichen
       Möglichkeiten kennen oder könnten nicht anzeigen, weil sie keine
       Unterstützung bekommen. Um einer Retraumatisierung vorzubeugen, braucht es
       eine ausreichende psychologische Betreuung der Opfer, mehr weibliche
       Beamtinnen als Ansprechpartnerinnen für betroffene Frauen und Maßnahmen wie
       eine Videoaufnahme der Aussage, damit die Opfer das Erlebte nicht wieder
       und wieder erzählen und durchleben müssen.
       
       Bislang sind die Verfahren oft langwierig und zermürbend, viele enden ohne
       ein Urteil – auch nach der Reform des Sexualstrafrechts von 2016. „Davor
       schrecken viele Betroffene zurück“, sagt Anwältin Christina Clemm. Viele
       Verfahren scheitern an mangelnden Beweisen, da zum Zeitpunkt der Tat meist
       keine Zeugen anwesend sind. Am Ende steht Aussage gegen Aussage und der
       Täter behauptet, er habe das „Nein“ nicht gehört oder der Sex sei seinem
       Eindruck nach einvernehmlich gewesen.
       
       Ophelia hatte Glück, ihr Fall wurde vor Gericht gebracht. Die Freundin, der
       Ophelia sich anvertraute, sagt als Zeugin aus. Der Täter streitet alles ab.
       Im August 2021 steht das Urteil: zwei Jahre auf Bewährung. Dass er zum
       Tatzeitpunkt unter Drogen stand, mindert die Strafe. Den Club darf er
       lebenslang nicht mehr betreten. „Das war wichtig für mich, so konnte ich
       mir immerhin diesen Raum zurückerobern“, sagt Ophelia.
       
       Auch Ophelia kennt den #DoublePeine, den doppelten Schmerz, der die Frauen
       in Frankreich auf die Straßen bringt: Von der Anzeige bis zur Verurteilung
       vergingen insgesamt eineinhalb Jahre. Doch Ophelia würde es wieder tun. Zur
       Polizei zu gehen habe sich gelohnt. Doch sie wünschte, man wäre ihr dort
       anders begegnet: „Ich hätte das Gefühl von Sicherheit gebraucht anstelle
       von vorwurfsvollen Beamten, die mich nicht ernst nehmen“, sagt sie. Mit
       ihrer Anzeige möchte Ophelia auch anderen Mut machen, nicht weiter zu
       schweigen. „Die Gewalt gegen Frauen muss endlich aufhören.“
       
       24 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://fr.wikipedia.org/wiki/Anna_Toumazoff
 (DIR) [2] /Sexualisierte-Gewalt-in-Deutschland/!5727344
 (DIR) [3] /RKI-Bericht-zur-Gesundheit-von-Frauen/!5730584
 (DIR) [4] /Vergewaltigungsmythen-und--kulturen/!vn5775380
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Nele Sophie Karsten
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt #metoo
 (DIR) Sexuelle Gewalt
 (DIR) Polizei
 (DIR) Schwerpunkt Frankreich
 (DIR) Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
 (DIR) Gewalt gegen Frauen
 (DIR) Feminismus
 (DIR) Gender
 (DIR) GNS
 (DIR) Podcast
 (DIR) Schwerpunkt #metoo
 (DIR) Sexuelle Übergriffe
 (DIR) Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) häusliche Gewalt
 (DIR) Schwerpunkt Rassismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Neuer Podcast über Missbrauch: Das Böse mitten unter uns
       
       Im neuen Podcast der „Süddeutschen Zeitung“ geht es um die
       Missbrauchskomplexe der vergangenen Jahre. Er ist detailliert, aber
       zurückhaltend.
       
 (DIR) Sexualisierte Gewalt in der Fahrschule: In der Falle
       
       Emma wurde von ihrem Fahrlehrer sexuell belästigt. Ein strukturelles
       Problem: Der geschlossene Raum ohne etwaige Zeug:innen begünstigt
       Übergriffe.
       
 (DIR) Machtmissbrauch in Baden-Württemberg: Beförderung gegen Sex
       
       Der Landespolizeiinspekteur von Baden-Württemberg, Andreas Renner, wurde
       angezeigt. Er soll einer Kollegin Beförderung gegen Sex angeboten haben.
       
 (DIR) Demos weltweit gegen Gewalt gegen Frauen: „Schweigt nicht!“
       
       In Europa und Lateinamerika sind zehntausende Menschen auf die Straßen
       gegangen. In Istanbul haben Polizeikräfte Tränengas gegen Protestierende
       eingesetzt.
       
 (DIR) Reform des Sexualstrafrechts: Nein bleibt Nein
       
       Seit fünf Jahren sind alle sexuellen Handlungen gegen den Willen einer
       Person strafbar. Doch noch immer werden viele Verfahren eingestellt.
       
 (DIR) Programmleiterin über häusliche Gewalt: „Veränderung ist harte Arbeit“
       
       In Wolfsburg, Gifhorn und Helmstedt gibt es ein Präventionsprogramm für
       Täter häuslicher Gewalt. Ein Gespräch über gestiegenes Problembewusstsein.
       
 (DIR) Übergriffe auf dem Kölner Karneval: Nach „Nafris“ gebohrt
       
       In Köln sollen Männer eine Frauengruppe attackiert haben. Ein Opfer klagt:
       Die Polizei wünschte sich bei der Anzeigenaufnahme nordafrikanische Täter.