# taz.de -- Debatte um die Singularität der Shoa: Verstörende Erinnerungskultur
       
       > Darf man den Holocaust mit den Kolonialverbrechen vergleichen?
       > Anmerkungen zu einer Debatte, die keine einfachen Antworten braucht.
       
 (IMG) Bild: Keine Deutung eines historischen Ereignisses käme je ohne einen Vergleich aus
       
       Ist das ein neuer Historikerstreit? Der australische Historiker Dirk
       Moses hat sich kritisch [1][gegen einen neuen „Katechismus der Deutschen“]
       positioniert. Gegen eine selbstgerechte Erinnerung an den Holocaust, die
       andere Massenverbrechen verdrängen würde. Relativiert er damit den
       Holocaust? Oder setzt er damit gar das [2][Geschäft der Holocaustleugner
       fort]?
       
       Worum geht es in diesem Streit? Um die Frage, ob es legitim ist, den
       [3][Holocaust mit anderen Massenverbrechen zu vergleichen]? Um die
       Singularität dieses Massenverbrechens? Oder um die Frage nach dem
       Zusammenhang von Erinnerungskultur und Politik?
       
       Es gibt recht banale Antworten auf die ersten beiden Fragen. Keine Deutung
       eines historischen Ereignisses käme je ohne einen Vergleich aus. Die Frage
       ist eher, welcher Vergleich einen Gewinn an Erkenntnis verspricht. Und
       natürlich ist jedes Ereignis singulär. Aber manche Ereignisse haben eine
       universelle Bedeutung, die dazu einlädt, sie zum Maßstab anderer Ereignisse
       zu machen. Das kann auch zur Falle werden.
       
       Dirk Moses’ Text verstört auch viele Leser*innen, die seiner politischen
       Kritik am Missbrauch der Geschichte zur Legitimation staatlicher Identität
       durchaus etwas abgewinnen. Da ist etwas Überschießendes im Ton, selbst da,
       wo man ihm gern zustimmen würde. Aber haben deswegen seine Kritiker recht?
       
       ## „USA-SA-SS“
       
       Moses weiß, dass die Geschichte der Diskussion über den Holocaust eine
       Geschichte der politischen Kontexte ist. Er verweist auf populäre
       Gleichsetzungen, wie sie vor fünfzig Jahren gang und gäbe waren.
       Linksradikale haben damals auf Demos gegen den Vietnamkrieg – „USA-SA-SS“
       gerufen.
       
       Heute geben manche von ihnen bei der rechtskonservativen Presse in
       Deutschland den Ton an. Zu den lautesten Kritikern von Dirk Moses’ Polemik
       gehören gerade jene, die im Zeichen einer vollkommen banalisierten
       Totalitarismusthese von den „zwei deutschen Diktaturen“ reden und
       Kommunismus und Nationalsozialismus gleichsetzen.
       
       Im linken politischen Spektrum hingegen wurde der Holocaust jahrzehntelang
       als bloßer Exzess des Faschismus und Kapitalismus, des Imperialismus oder
       Kolonialismus banalisiert. Dirk Moses bietet also ein neues
       Vergleichsparadigma an, dass sich bei näherem Hinsehen als gar nicht so neu
       erweist.
       
       Die globale Migration zwingt Europa und die USA dazu, die Geschichte des
       Kolonialismus neu zu verhandeln, als etwas, das eben nicht fern von uns
       liegt. Es hat seine Spuren in die Erfahrungen von Menschen eingegraben, die
       Teil unserer Gesellschaften geworden sind. Seit die Geschichte des
       Kolonialismus und seines Erbes neu verhandelt werden müssen, wächst ihr
       eine neue Sprengkraft zu – in der politischen Aushandlung von öffentlicher
       Aufmerksamkeit und dem Recht auf Anerkennung.
       
       Dabei hat auch der linke, sich neuerdings beunruhigend identitätspolitisch
       formierende Diskurs über die Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und
       Sklaverei seine blinden Flecken. Denn Kolonialismus, Rassismus und
       Sklaverei waren keineswegs nur weiße Phänomene.
       
       Der Völkermord an den Armeniern, die arabische Kolonisierung von Teilen
       „Schwarzafrikas“ und innerafrikanische Gewaltverhältnisse gehören in diese
       Geschichte ebenso wie der belgische Völkermord im Kongo, mit dem das 20.
       Jahrhundert der Völkermorde begann. Oder der Genozid der ruandischen Hutu
       an den Tutsi, der nicht zuletzt auch auf den Rassismus belgischer
       Kolonialherren zurückverweist.
       
       ## Der Holocaust und die Kolonialgeschichte
       
       Es ist legitim, Zusammenhänge zwischen Holocaust und Genoziden der
       Kolonialgeschichte herzustellen. Auch die Entwicklung traditioneller
       Judenfeindschaft zum eliminatorischen Antisemitismus lässt sich nicht ohne
       dessen Verbindung mit dem zeitgenössischen Rassismus erklären.
       
       Aber damit erklärt sich der Holocaust noch lange nicht aus der
       Kolonialgeschichte. Genauso wenig lässt sich die internationale Verbreitung
       des Antisemitismus und seine Wirkung als Nationalisten aller Couleur
       verbindende Weltanschauung allein aus der Geschichte des Rassismus
       erklären. Moses selbst wirft in seiner Polemik das Kolonialismusparadigma
       kurzerhand hinter sich, wenn er davon spricht, „dass alle Genozide durch
       Sicherheitsparanoia betrieben werden“. Da wird es dann wirklich banal.
       
       Gegen all diese Relativierungen haben sich die verschiedensten
       Wissenschaftler und politisch Engagierte in Deutschland nicht nur gewendet,
       um als „gute Menschen dazustehen“, wie Moses in denunziatorischem Gestus
       schreibt. Sie haben in schmerzhaften geschichtspolitischen Kämpfen nicht
       zuletzt miteinander gestritten.
       
       Es gibt in Deutschland schon lange eine intensive Diskussion darüber, wie
       sehr sich Schuldbewusstsein auch in Selbstgerechtigkeit verwandeln kann,
       wenn man sich bequem im Stolz auf die eigene Erinnerungskultur einrichtet.
       Nein, es gab nicht nur die entglittene Walser-Rede und deren
       Auschwitz-Keulen-Rhetorik, es gab ernsthafte linke und liberale Kritik an
       sinnentleerten und politisch missbrauchten Gedenkritualen.
       
       Erinnerungskultur ist nicht nur das Produkt einer erfolgreichen Sühnearbeit
       und Selbsterforschung. Und sie ist genauso wenig nur eine Vereinnahmung der
       Opfer im Zeichen eines neuen Nationalismus oder einer islamophoben Abwehr
       der neuen „Anderen“ Europas. Erinnerungskultur ist auf eine paradoxe Weise
       Resultat eben jener tatsächlichen Singularität des Holocaust. Es geht nicht
       darum, dieses Geschehen nicht erklären zu können. Es geht darum, dass hier
       tatsächlich etwas Negativ-Universelles gemeint war.
       
       ## „Gegenrationalität“ und symbolisches Handeln
       
       Das Verbrechen war aus der Perspektive seiner Opfer nicht verstehbar und
       nicht voraussehbar. Die Nationalsozialisten und die mit ihnen verbündeten
       Nationalisten vieler europäischer Staaten haben von den Juden tatsächlich
       nichts gewollt außer ihr Verschwinden von diesem Globus. Damit wurde jede
       ökonomische oder sonstige Berechenbarkeit des Handelns, das sogar in einer
       Beziehung zwischen Mörder und Opfer noch besteht, aufgekündigt.
       
       Diese „Gegenrationalität“, wie Dan Diner sie genannt hat, macht aus dem
       Geschehen nichts Unerklärliches. Sie verweist allerdings auf ein Terrain,
       auf dem Historiker*innen sich ungern bewegen – dem des symbolischen
       Handelns.
       
       Dirk Moses verweist selbst auf andere Genozide, deren Motivation einherging
       mit dem Vorgehen gegen Erbfeinde, auf Staatsgründungen, die
       „Opferhandlungen“ forderten an Gruppen, die die totale Kontrolle und die
       Homogenisierung eines nationalen Projekts gefährdeten.
       
       Doch selbst das greift zu kurz. In den Juden fanden die Nationalsozialisten
       nicht nur einen „inneren Feind“, wie Jürgen Habermas vor Kurzem noch einmal
       gegen Dirk Moses zu Recht differenzierte, sondern vor allem einen negativen
       (universellen wie symbolischen, in aller Welt verstandenen) Ausdruck für
       den eigenen Anspruch auf Weltherrschaft. Etwas, das man freilich nur durch
       totale Vernichtung loswerden kann, etwas, das zugleich anders ist und doch
       untrennbar mit der eigenen (christlichen) Geschichte, der eigenen Existenz
       verbunden. Etwas, das an einem selbst „klebt“ und das gerade deswegen
       unbegrenzte, durch keine zivilisatorischen Schranken gemilderte Aggression
       wecken kann.
       
       Diese kalte Aggression macht es möglich, dass die Begründung eines neuen
       Staats (der sich als ewig postulierte), die alte christliche
       Judenfeindschaft und der neue kolonialistische Rassismus, dass Gier und
       Gewinnstreben und die Sehnsucht nach totaler Kontrolle, dass all diese von
       manchen verabsolutierten Faktoren zu einer beispiellosen Mordtat
       radikalisiert wurden.
       
       ## Die Juden als negatives und positives Faszinosum zugleich
       
       Sie besitzt auch eine Rückseite, so wie der Antisemitismus eine andere
       Seite besitzt: den Philosemitismus. Die Juden als symbolische Spielfigur
       eigener Identität waren und sind negatives und positives Faszinosum
       zugleich. Und damit sind wir womöglich beim Kern der Auseinandersetzung um
       Dirk Moses’ Thesen. Es geht bei dem Konflikt um das Verhältnis der
       deutschen und europäischen Erinnerungskultur zum Staat Israel.
       
       Es gibt nämlich noch eine weitere Relativierung des Holocaust, die derzeit
       eine besondere Konjunktur hat. Demnach erklärt sich der Holocaust allein
       aus dem Antisemitismus. Daraus folgt der Zirkelschluss, dass die einzige
       Möglichkeit, dass sich „solch ein Verbrechen“ nicht wiederhole, darin
       besteht, dass alle Juden sich in einem eigenen Staat und auf einem eigenen
       Territorium verteidigen können.
       
       Doch der Holocaust lässt sich aus dem Antisemitismus allein genauso wenig
       erklären wie aus jenen anderen reduktionistisch banalisierten Ursachen. Und
       die nun auch deutsch-national grundierte Liebe zu Israel geht keineswegs
       auf eine tatsächliche Sorge um das Leben von Juden und Jüdinnen zurück. Das
       gilt auch für den mal christlichen, mal antimuslimischen „Zionismus“ der zu
       Philosemiten mutierten Antisemiten. Beides setzt die Geschichte des
       Missbrauchs von Juden als Symbol für politische Interessen fort, nur unter
       umgekehrten Vorzeichen.
       
       Statt dem neuen Historikerstreit auf den Leim zu gehen, sollten wir uns
       tatsächlich mit der Singularität des Holocaust konfrontieren. Mit dem
       Holocaust ist tatsächlich etwas Neues in die Welt gekommen, das unsere
       Gewissheiten, auch unsere jüdischen Gewissheiten, erschüttert hat. Auch die
       Fiktion eines ethnisch-homogenen Nationalstaats, wie sie seit dem Ende des
       19. Jahrhunderts in den Bevölkerungstransfers nach 1918 und nach 1945 und
       nun seit 1989 blüht, sie ist auf diese Verunsicherung keine Antwort, sie
       ist Teil des Problems.
       
       Jürgen Habermas hat einen unprätentiösen Vorschlag gemacht:
       Erinnerungskultur lässt sich nicht einfrieren. Sie muss sich um die
       Perspektive der Menschen erweitern, die Teil unserer Gesellschaft wurden
       und werden. Dass diese anderen Perspektiven auch unser Verhältnis zu Israel
       einschließen, mag manchen unbequem sein. Aber wenn es uns nicht gelingt,
       diese Perspektiven vor einem universalistischen Horizont zu verhandeln,
       dann haben unsere liberalen Demokratien keine Zukunft.
       
       17 Oct 2021
       
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