# taz.de -- Retrospektive Yayoi Kusama in Berlin: Raum gewordene Philosophien
       
       > Vom Punkt und der Unendlichkeit: Es gibt mehr zu entdecken als ein
       > obsessives Schaffen bei Yayoi Kusamas Retrospektive in Berlin.
       
 (IMG) Bild: Das schlängelt und züngelt, strebt aufwärts: Yayoi Kusamas „A Bouquet of Love I Saw in the Universe“
       
       Yayoi Kusama wird gerne als wichtigste japanische Künstlerin der
       Nachkriegszeit genannt. Sie ist als Schöpferin von Licht-, Phallus- und
       Polka-Dot-Universen bekannt, besonders in den USA und in ihrer Heimat
       Japan, wo ihr mitten in Tokio ein eigenes Museum gewidmet ist. Ihre
       Beliebtheit geht so weit, dass längst von einer „Kusamania“ die Rede ist.
       
       Seit 1977 lebt Kusama in einer Psychiatrie in Japan. Von dort pilgert sie
       täglich in ein nahe gelegenes Studio, um ihre Zwangsstörungen durch
       obsessives Kunstschaffen zu besänftigen. Wie sie es schon getan hat, als
       sie als traumatisierte junge Frau in die USA migrierte.
       
       Diese wahre Erzählung mag uns zwar helfen, den Menschen Yayoi Kusama zu
       verstehen. Wo ihre Rezeption aber von dem Paradigma der „Outsider Art“
       belegt ist, kann auf diesem künstlerbiografisch schon seit Van Gogh
       wohlerprobten Weg auch der Blick auf ihr Werk versperrt werden. Es gibt
       mehr zu entdecken: scharfzüngige politische Kommentare, Bezüge zu
       Zeitgenossen und den Medien, zu Zenbuddhismus und Europa – und nicht
       zuletzt die Immersionserfahrung, in ihren Polka-Dots, „Infinity Nets“ und
       Installationen aufzugehen.
       
       Am 23. April eröffnete mit „Yayoi Kusama: Eine Retrospektive“ oder
       poetischer, wie im Untertitel „A Bouquet of Love I Saw in the Universe“, im
       Gropius Bau Berlin die erste Ausstellung zu Kusamas Lebenswerk in
       Deutschland, kuratiert von Direktorin Stephanie Rosenthal – um nach nur
       zwei Tagen wieder ob der Bundesnotbremse schließen zu müssen. Tempi
       passati.
       
       ## Arbeit an der Entgrenzung
       
       Auch diese Retrospektive kommt nicht ganz umhin, Kusamas Psychogramm als
       Erklärstück für ihr mittlerweile 80-jähriges Schaffen heranzuziehen. Und
       doch besinnt sie sich auf das Wesentliche, gibt der wuchernden Vielfalt an
       Phalli, Punkten, Fleischlandschaften und glitzernden Teigwaren den nötigen
       Raum, indem sie im Historischen verbleibt und die Entgrenzung für sich
       sprechen lässt.
       
       Auf Anfrage schreibt [1][Stephanie Rosenthal]: „Während der
       Ausstellungsvorbereitung haben wir uns gezielt von stereotypischen Bildern
       oder einer eingeschriebenen Rezeption gelöst, die Yayoi Kusamas Persona in
       eine Schublade steckt. Vielmehr stand und steht ihr vielseitiges und
       bahnbrechendes künstlerisches Schaffen im Vordergrund.“
       
       Das unbestritten zentrale Exponat der Schau sind gigantomane,
       magentafarbene und mit Polka-Dots übersäte Tentakel im Lichthof: als „A
       Bouquet of Love I Saw in the Universe“ titelgebend, von überall sichtbar
       und eigens für den Gropius Bau kreiert. Schon dieses Werk macht deutlich,
       dass Besucherinnen und Besucher mit Objekten konfrontiert werden, die nach
       der Metaphysik greifen.
       
       ## Acht historische Ausstellungen
       
       Im Film „Kusama: Infinity“ (2018) beschreibt die Künstlerin ihr Konzept der
       „Accumulation“ oder „Aggregation“, dem sie bis heute treu ist, gleichsam
       als Resultat ihrer Obsession wie auch als Beweis, dass Philosophie das
       Hauptthema ihrer Kunst sei. Die Dinge, von den Tentakeln im Lichthof über
       ein von „Soft Sculptures“ überwachsenes Boot bis hin zu ihren Malereien,
       akkumulieren sich in einem organischen Prozess, sind in der Ausstellung
       eigentlich nur künstlich getrennt, weil sie alle auf dasselbe hinausweisen,
       nämlich die Kunst. Ein Zirkelschluss? Genau.
       
       Insgesamt acht historische Ausstellungen aus den USA, den Niederlanden und
       unter anderem auch Deutschland rekonstruiert die Schau detailgetreu: Selbst
       die Grundrisse der ursprünglichen Orte oder die bepunktete Zigarette im
       Aschenbecher der Installation „Driving Image Show“ aus der Galerie M. E.
       Thelen in Essen sind in die Präsentation eingegangen. Den chronologischen
       Rundgang, der einen besonderen Fokus auf Europa legt, komplettieren oft aus
       der Sammlung der Künstlerin stammende Arbeiten.
       
       Nach vielen „Infinity Net“-Malereien, in denen sie den Topoi der
       Wiederholung, der Unendlichkeit und der Akkumulation durch Kreise, Punkte
       und Zellen ersten Ausdruck verschaffte, kommen besonders raumgreifend und
       präsent auch vier „Infinity Rooms“ vor. Während der optische Effekt
       gegenübergestellter Spiegel längst keine Unbekannte in der
       Installationskunst ist, bleibt es diesen kusamaschen Orten vorbehalten,
       damit auf derart transzendente Art über das Leben dazwischen zu erzählen.
       Nicht nur Nietzsche als Denker des Dionysischen oder Deleuze als Co-Autor
       des „Anti-Ödipus“ könnte man gut unterstellen, dass sie diese
       raumgewordenen Philosophien gefeiert hätten.
       
       Durch einen Briefwechsel mit Georgia O’Keefe ermutigt, zog Yoyoi Kusama
       1957 von Japan nach New York. Angefeuert durch den Vietnamkrieg und den
       Summer of Love wird es politisch in ihrem Werk und Kusama eine Figur der
       Gegenkultur. Mit Ansammlungen von Dollarnoten-Imitationen kommentiert sie
       die Wall Street, mit ihren umstrittenen Orgy Parties die sexuelle
       Revolution, und mit Akkumulationen ihres Namens auch die eigene mediale
       Rolle als Künstlerin.
       
       Das alles als ausländische Frau. Wer sie in Medienauftritten aus dieser
       Zeit sprechen hört, versteht schnell, dass man es mit einer Frau zu tun
       hat, die sowohl bewusst über sich als öffentliche Person reflektiert als
       auch keine Scheu vor scheinbaren Widersprüchen zeigt.
       
       Nachdem sie sich 1973 zur Rückkehr nach Japan entschließt, schreckt sie
       nicht einmal davor zurück, eine gewisse Zähmbarkeit ihrer Kunst zuzulassen.
       Sie wendet sich weiter der Mode zu, dem Kürbis als erdigem, trivialen
       Motiv, und in ihrer Malerei enden die infiniten Punkte plötzlich auch mal
       akkurat am Leinwandrand. Heute hat Instagrammability als neue kuratorische
       Wägbarkeit ihr zu einem zweiten Weltruhm verholfen. Ungeachtet dessen
       verweist Kusamas Werk bis heute auf das, was sie später auch als
       Selbstauslöschung bezeichnen wird: die Kunst.
       
       12 Jul 2021
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christopher Suss
       
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