# taz.de -- Konsequenzen aus schweren Unfällen: „Es braucht drastischere Maßnahmen“
       
       > SuSanne Grittner vom ADFC Berlin kritisiert die schleppende juristische
       > Aufarbeitung schwerster Unfälle, bei denen Radfahrende die Opfer sind.
       
 (IMG) Bild: „Geisterrad“ nach dem tödlichen Unfall am Alexanderplatz im Februar 2019
       
       taz: Frau Grittner, beobachtet der ADFC die Rechtsprechung zu Unfällen, bei
       denen RadfahrerInnen schwer verletzt oder getötet wurden? 
       
       SuSanne Grittner: Ich nehme seit mehreren Jahren als Beobachterin an
       Gerichtsverfahren zu getöteten und schwerverletzten Radfahrenden teil, das
       sind 10 bis 15 Verfahren pro Jahr. Die Gutachten der Sachverständigen
       liefern wichtige Informationen für unsere Verkehrssicherheitsarbeit. Bei
       vielen der für Radfahrende tödlich ausgegangenen Crashs oder Zusammenstöße
       verfolge ich alles von der Unfallanalyse des Gutachters vor Ort über die
       Aufstellung des „Geisterrads“ bis zum Urteil vor Gericht. Manchmal begleite
       ich auch Angehörige auf diesem Weg. Den Begriff „Unfall“ zu verwenden,
       fällt mir übrigens zunehmend schwerer.
       
       Warum? 
       
       Weil er etwas Unabwendbares suggeriert. Dabei wären viele dieser Ereignisse
       vermeidbar.
       
       Vom Tod einer Radfahrerin oder eines Fußgängers durch ein Kraftfahrzeug bis
       zum Gerichtsurteil vergehen oft ein, zwei Jahre. Wie beurteilen Sie das? 
       
       Die langen Zeiträume sind für alle Beteiligten ein sehr großes Problem. Die
       Angehörigen der Getöteten finden keinen Abschluss, aber auch die
       angeklagten Unfallbeteiligten leiden in der überwiegenden Zahl der Fälle
       unter den offenen Verfahren. Vor allem bei Schwerverletzten gibt es Fälle,
       in denen die Versicherungen die Angeklagten in eine Berufung drängen. Das
       verzögert ein finales Urteil noch weiter und führt in einzelnen Fällen
       dazu, dass erforderliche medizinische Behandlungen und Hilfsmittel bei
       Schwerverletzten über mehrere Jahre nicht finanziert werden.
       
       Was müsste sich da aus Ihrer Sicht ändern? 
       
       In den ersten Stunden wird das Opfer detailliert untersucht, der
       Unfallgegner jedoch nur bei deutlichen Anhaltspunkten. Im Ergebnis weiß man
       dann, ob das Opfer etwa ein die Verkehrstüchtigkeit leicht einschränkendes
       Medikament genommen hat – aber beim Lkw-Fahrer wurde nicht festgestellt, ob
       er Alkohol im Blut hatte, ausreichende Sehhilfen trug oder von einem
       Mobilgerät abgelenkt war. Das kann so nicht bleiben. Außerdem bräuchten
       Angehörige Getöteter und Schwerstverletzte in der langen Phase bis zum
       Abschluss des Verfahrens eine feste Ansprechperson, die ihnen in dieser
       schweren Phase hilft, den Weg durch die Behörden zu finden und ihre Rechte
       wahrzunehmen. Eine staatlich finanzierte Ombudsperson könnte das leisten.
       Auf der anderen Seite stehen immerhin oft große Fuhrunterehmen und große
       Versicherungen.
       
       Halten Sie die Strafmaße für angemessen, die die Gerichte verhängen? 
       
       Das ist eine schwierige Frage. Ich bin keine Juristin, aber ich kenne
       natürlich die relevanten Paragrafen und den vorgesehenen Strafrahmen.
       Verurteilt wird eine Person, die einen Fehler gemacht hat – meist nach §
       222 StGB, fahrlässige Tötung. Die Frage ist dann: Wie gravierend war die
       Fahrlässigkeit, wie groß war der Fehler? Da kann man über die
       Angemessenheit der verhängten Strafmaße durchaus geteilter Meinung sein.
       Die meisten Fälle fallen in die Kategorie „Augenblicksversagen“, wenn die
       Gutachter zum Schluss kommen, die oder der Radfahrende wäre für kurze Zeit
       in einem der diversen Spiegel zu sehen gewesen. Juristisch bewertet wird
       also nicht die Auswirkung, sondern ein kleiner Fehler, der allerdings eine
       große Wirkung hatte.
       
       Es wird ja oft als strafmindernd bewertet, dass die Radfahrenden sich nicht
       umsichtig genug verhalten hätten. 
       
       Es stimmt, dass auch die Vermeidbarkeit des Unfalls durch die oder den
       Radfahrenden bewertet wird. Dass das strafmindernde Wirkung hat, kommt nach
       meiner Erfahrung allerdings nur sehr selten vor, und zwar nur dann, wenn
       ein echtes Fehlverhalten der oder des Radfahrenden nachweisbar ist.
       
       Kommt die Verkehrsverwaltung ausreichend ihrer Pflicht nach, nach solchen
       Unfällen den entsprechenden Straßen- oder Kreuzungsbereich zu untersuchen
       und sicherer zu machen? 
       
       Die sogenannte Unfallkommission, die das zu prüfen hat, gab es ja schon vor
       dem Mobilitätsgesetz, aber sie war unterausgestattet und wurde dieser
       Aufgabe nicht ausreichend gerecht. Auch jetzt noch habe ich bisweilen den
       Eindruck, dass die personelle Ausstattung nicht reicht. Neben der Analyse
       sollte möglichst schnelles Handeln in den Mittelpunkt rücken. Das
       Mobilitätsgesetz sieht da kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen vor.
       Bei den kurzfristigen Maßnahmen könnten wir uns in einigen Fällen durchaus
       drastischere Maßnahmen vorstellen, um weitere Gefahren abzuwenden.
       
       Zum Beispiel? 
       
       Man könnte nach Rechtsabbiegeunfällen an großen Kreuzungen das
       Rechtsabbiegen für Lkw-Fahrende untersagen und natürlich auch
       kontrollieren, solange es keine getrennte Signalisierung gibt. Am
       Alexanderplatz hat das nach dem sinnlosen Tod einer Radfahrerin Anfang 2019
       halbwegs funktioniert – bis auf die Kontrollen durch die Polizei.
       Mittlerweile gibt es an dem Kreuzungsarm eine getrennte Signalisierung und
       einen umgestalteten Straßenraum.
       
       3 Apr 2021
       
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