# taz.de -- Internet-Projekt 1000 Scores: Ich im Überfluss
       
       > Das Internet-Projekt 1000 Scores ermöglicht künstlerisch gesteuerte
       > Selbsterfahrung, kostenlos und für alle. Trotzdem ist die Hürde dahin
       > hoch.
       
 (IMG) Bild: Rückeroberung der instrumentalisierten Musik: Foto zu Annika Kahrs Score „Your Favorite Music“
       
       Ich bin kein Freund davon, journalistisch in der „Ich“-Form zu schreiben.
       Ich glaube nicht, dass der*die Leser*in sich für mich als Individuum
       interessiert. Ich glaube, interessant ist, was Journalist*innen Kraft
       ihrer Kompetenz über die Welt zu sagen haben – und nicht, was es mit ihnen
       persönlich macht.
       
       Über „1000 Scores“ allerdings lässt sich nur in „Ich“-Form schreiben. Es
       geht nicht anders. 1000 Scores ist konzipiert als Internetprojekt. Auf der
       Website – [1][www.1000scores.com] – gibt es rund 80 Bilder zum
       Draufklicken. Hinter jedem Bild steht ein Score, das ist in diesem Fall
       keine Partitur für ein Musikstück, sondern ein Text oder ein Video oder
       eine Tonspur mit einer Handlungsanweisung. Die richtet sich an jeden, der
       sich auf dieses Projekt einlassen will. 1000 Scores ist ein Mitmachprojekt.
       
       Die Handlungsanweisungen sind ungefähr eine Seite lang und sehr
       unterschiedlich. Mal geht es darum, zwei Hausmauern zu finden, und sich
       zwischen ihnen hin und her zu bewegen, während man eine Trommel schlägt.
       Mal ist der Auftrag, mit seinen Lieblingsmöbeln Erinnerungen zu teilen, mal
       geht es um das Verschließen von Türen, als würde man ein Kapitel seines
       Lebens für immer schließen. Mal um bewusstes Blinzeln. Mal um das
       Erforschen des eigenen Herzschlags.
       
       Alle Scores stammen von Künstler*innen, vor allem aus dem Bereich der
       Performance. Sie leben verteilt auf der Welt, es sind welche aus Kairo
       dabei, aus Toronto und aus Berlin. Alle Scores sind auf Englisch.
       
       Aus Hamburg macht Annika Kahrs mit. Ihre Handlungsanweisung ist: mit dem
       Handy Musik aufnehmen, die aus Lautsprechern im öffentlichen Raum kommt,
       und diese Aufnahmen mit höchster Aufmerksamkeit zu Hause durchhören. Es ist
       der Versuch, die öffentlich eingesetzte Musik zurückzuerobern – Musik, die
       beispielsweise am Hamburger Hauptbahnhof dafür eingesetzt wird, unerwünscht
       rumhängende Personen zu vertreiben.
       
       ## Kunstpraxis von Marcel Duchamp
       
       Administriert wird das Projekt vom Rimini Apparat, das ist das
       Produktionsbüro der Performance-Gruppe Rimini Protokoll. Urheber*innen
       des Projektes sind Helgard Haug, David Helbich und Cornelius Puschke, wobei
       Helbich und Puschke keine Mitglieder von Rimini Protokoll sind. Beide
       stammen aus Bremen, wo ihre Familien durch die Kirchenmusik am Bremer
       St.-Petri-Dom miteinander verbunden waren; Puschke arbeitet heute als
       freier Dramaturg in Berlin, Helbich ist Komponist in Brüssel.
       
       Die Idee ist angelehnt an eine Kunstpraxis von Marcel Duchamp. Der schickte
       1919, als auch gerade eine Pandemie herrschte, Anweisungen für ein
       Kunstwerk an seine Schwester in Paris. Sie sollte ein Lehrbuch für
       Geometrie so auf dem Balkon drapieren, dass es Wind, Regen und Sonne
       ausgesetzt war – und die Elemente aufmischen konnten, was sich der Mensch
       erdacht hatte.
       
       1000 Scores ist aber kein Duchamp-, sondern ein Lockdown-Projekt. Jede
       Handlungsanweisung lässt sich kontaktfrei ausführen. Der Künstler ist hier
       keiner, der leibhaftig in Erscheinung tritt und etwas darbietet, er ist
       der, der in Abwesenheit Handlungsanweisungen gibt für das Publikum, durch
       dessen Mitwirkung die Performance erst Wirklichkeit wird. Es ist ein
       Angebot, die Welt anders wahrzunehmen, als man das bisher getan hat. Eine
       Wahrnehmungsübung durch Fernsteuerung.
       
       Allein: Du bleibst allein damit. 1000 Scores ist eine Selbsterfahrung, die
       du nur mit dir teilst.
       
       Zudem ist 1000 Scores eine Überforderung. Ich behaupte: Die meisten
       Menschen haben wie ich den Impuls, sich einen Überblick über das Angebot
       verschaffen zu wollen, um dann zu entscheiden, welche Scores man
       ausprobieren will. Aber das geht nicht. Dafür ist das Angebot zu groß – das
       übrigens seit dem Launch der Site im Juni 2020 immer weiter wächst.
       
       Die Selbsterfahrung fängt also schon damit an, sich für eine
       Selbsterfahrung entscheiden zu müssen. Das ist die erste Hürde und ich bin
       an ihr bereits gescheitert. Bis ich verstand, dass ich aus der Fülle eine
       Zufallswahl treffen muss, um irgendwie anzufangen, war die Zeit, die ich
       hatte, verstrichen. Lockdown heißt ja nur für manche Menschen, dass sie auf
       einmal mehr Zeit haben. Andere haben weniger – und für diese Menschen ist
       1000 Scores nicht gemacht.
       
       Grundsätzlich hat mir die Idee gut gefallen: ein Wahrnehmungsexperiment mit
       mir selbst, ohne mich dabei viel zu bewegen. Das Angebot, auszusteigen aus
       der Routine und sich auf etwas einzulassen – mit der Besonderheit, dass
       dieses Etwas das eigene Selbst ist. Was die Frage aufwirft, wo die Grenze
       verläuft zwischen Kunst und Selbsterfahrung und ob es Spaß macht, über
       diese Grenze gestoßen zu werden.
       
       Persönlich warm geworden damit bin ich – als an der ersten Hürde
       Scheiternder – nicht. Aber es gibt etwas, für das man 1000 Scores loben
       muss: Es ist ein kontaktloses Kunstprojekt, dessen Konzept einleuchtet. Die
       Digitalität des Projekts ist kein Notbehelf, sondern sinnvoll. 1000 Scores
       hat eine eigene Qualität, im Gegensatz zu all den Streams von
       publikumslosen Live-Veranstaltungen, die aus meiner Sicht keine Lösung sind
       für Kultur in Zeiten der Pandemie.
       
       17 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://1000scores.com/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Irler
       
       ## TAGS
       
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