# taz.de -- Rassistische Morde in Hanau: Ein Jahr danach
       
       > Hat das Attenat von Hanau innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft
       > ein Umdenken ausgelöst? Sechs Menschen berichten.
       
 (IMG) Bild: 10. Februar 2021: Gedenken in der Nähe der Shishabar, wo der Täter mehrere Menschen umbrachte
       
       Kurz nach dem Anschlag von Hanau, dem am 19. Februar 2020 neun Menschen zum
       Opfer fielen, bevor sich der deutsche Täter selbst umbrachte, hat die taz
       Menschen mit eigenen Rassismuserfahrungen aus Zivilgesellschaft und Politik
       nach ihren [1][Reaktionen gefragt]. Ein Jahr später haben wir diese erneut
       um eine Stellungnahme gebeten. Hat die Tat von Hanau etwas verändert? Ist
       die Mehrheitsgesellschaft heute eher bereit, offen über Ressentiments und
       Rassismus zu sprechen?
       
       ## „Die Morde haben einen Ruck ausgelöst“
       
       Die Berliner Staatssekretärin [2][Sawsan Chebli] (SPD) schreibt:
       
       „Meine Gedanken sind heute – am ersten Jahrestag des rassistischen
       Anschlags von Hanau – bei den Opfern: Bei Ferhat, Fatih, Gökhan, Kaloyan,
       Mercedes, Vili, Nesar, Hamza und Sedat. Und bei den Hinterbliebenen dieses
       menschenverachtenden Angriffs, der junge Menschen aus der Mitte unserer
       Gesellschaft in den Tod gerissen hat. Ihre Namen zu nennen ist mir wichtig,
       denn jede und jeder von ihnen hat eine eigene Würde, eine eigene
       Geschichte, ein eigenes Leben.
       
       Ja, „Hanau“ hat viele Menschen wachgerüttelt: Dass wir ein Rassismusproblem
       in unserer Gesellschaft haben, wussten viele von uns schon lange, weil wir
       es täglich erleben – durch Anfeindungen, Hass und Hetze im Netz oder auf
       offener Straße, durch die vielen Meldungen von Frauen mit Kopftuch, die
       angegriffen werden, durch Diskriminierung bei der Wohnungssuche, im Job, im
       Alltag. Das hat sich nicht verändert in den letzten zwölf Monaten.
       
       Und dennoch: Die Morde von Hanau haben einen Ruck ausgelöst. In der Trauer
       um die Ermordeten, in der Wut auf diese unfassbaren Taten sind die Menschen
       in Hanau zusammengerückt. Und vor allem wird endlich nicht mehr
       verschwiegen, dass wir ein Rassismusproblem haben. In der Politik sehen wir
       mehr denn je die Notwendigkeit, dass ein „Weiter so“ keine Option ist. Ein
       neuer Ausschuss des Bundeskabinetts setzt konkrete Maßnahmen gegen
       Rassismus auf die Tagesordnung. Das Thema antimuslimischer Rassismus steht
       heute auf der politischen Agenda.
       
       Das war früher nicht so. Es ist gut, dass der Verfassungsschutz eine neue
       Entschlossenheit im Kampf gegen Rechtsextremismus zeigt. Der Berliner
       Innensenator hat zudem gemeinsam mit den Kollegen aus den anderen
       Bundesländern zahlreiche Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus entwickelt.
       Das sind wichtige Signale, die Mut machen.
       
       Es bleibt aber noch viel zu tun. Das zeigen die jetzt im Spiegel anlässlich
       des Jahrestags von Hanau dokumentierten Gespräche mit den Angehörigen. Das
       macht traurig, wütend und es tut weh. Das Gedenken darf nicht zum
       folgenlosen Ritual werden! Und ich hoffe, dass dies noch mehr Menschen zum
       Engagement motiviert.
       
       Eine Gesellschaft, die allen gleiche Teilhabechancen eröffnet, unabhängig
       von Sprache oder Herkunft – eine solche Gesellschaft kommt nicht von
       selbst. Wir müssen sie immer wieder von Neuem erkämpfen. Und „wir“ heißt
       wirklich: Wir alle gemeinsam!“
       
       ## „Ehrliche Anteilnahme drückt sich in Taten aus“
       
       Ganz anders argumentiert die in München lebende Autorin [3][Ronya Othmann].
       Sie schreibt:
       
       „Die Initiative 19. Februar Hanau fordert einen
       Rechtsterrorismus-Opferfonds in Hessen, der die Angehörigen angemessen und
       unbürokratisch finanziell entlastet. Sie fordert zudem die
       Sicherheitsbehörden auf, den Anschlag lückenlos aufzuklären.
       
       Es macht mich fassungslos, wenn ich lese, dass Hinterbliebene um so etwas
       betteln müssen, das selbstverständlich sein sollte. Auch macht es mich
       fassungslos, wie Polizei und Behörden mit den Angehörigen und Opfern
       umgegangen sind.
       
       Ein Jahr nach Hanau sind immer noch viele Fragen offen. Warum wurden diese
       Morde nicht verhindert? War der Täter wirklich für mehrere
       Gefechtstrainings in der Slowakei, ohne dass die Sicherheitsbehörden etwas
       davon mitbekamen? Was wird die Politik heute noch konkret tun, um die
       rechtsterroristischen Anschläge von morgen zu verhindern? Wann werden die
       Sicherheitsbehörden endlich entnazifiziert? Wann geht man konsequent gegen
       rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr vor?
       
       Der Terroranschlag in Hanau war weder ein Einzelfall noch war der Täter ein
       Einzeltäter. Die Amadeu Antonio Stiftung geht von mindestens 213
       Todesopfern rechter Gewalt in Deutschland seit 1990 aus. Jeder einzelne
       dieser Morde hätte eine Zäsur sein müssen, ein politisches Umdenken im
       Kampf gegen Rechtsterrorismus auslösen müssen, ein gesamtgesellschaftliches
       Bekenntnis zum Antifaschismus.
       
       Sonntagsreden werden die Rechtsterroristen nicht aufhalten.
       Beileidsbekundungen reichen nicht. Ehrliche Anteilnahme drückt sich in
       Taten aus.
       
       ## „Sie können ihre Kinder nicht mehr umarmen“
       
       [4][Seda Başay-Yildiz] lebt in Frankfurt am Main und arbeitet als Anwältin.
       Sie vertritt Opfer rechtsradikaler Gewalt gegen Migranten. Sie schreibt:
       
       „Herzlich willkommen in Hessen“ und manchmal auch „An Hessen führt kein Weg
       vorbei“ steht auf den Schildern, wenn Sie die Landesgrenze zum Bundesland
       Hessen auf der Autobahn überqueren.
       
       Woran denken Sie da? Denken Sie in jüngster Zeit auch an den Mord an Walter
       Lübcke, den Mordversuch an einem Flüchtling oder die Opfer des
       rassistischen Anschlags in Hanau?
       
       Den Namen von Walter Lübcke kennt jeder in Deutschland, aber kennen Sie den
       Namen zumindest eines von neun Opfer in Hanau? Wissen Sie wie alt sie waren
       und welchen Beruf sie ausgeübt haben?
       
       Ich vertrete Angehörige von drei Opfern (Familie Saraçoğlu, Gültekin und
       Gürbüz) in Hanau. Die Traurigkeit und Wut dieser Menschen machen zutiefst
       betroffen.
       
       Auch ein Jahr nach der Tat fließen sehr viele Tränen und man steht dem
       machtlos gegenüber. Die Welt wird seit einem Jahr von der Pandemie
       beherrscht. Der Anschlag in Hanau ist aus der öffentlichen Wahrnehmung fast
       verschwunden.
       
       Das ist bitter für die Angehörigen.
       
       Ich spreche oft mit den Familien der Opfer. Zu Hause angekommen umarme ich
       meine eigenen Angehörigen und bin dankbar dafür, dass es ihnen gut geht.
       Ich denke oft an die Worte der Mutter des in Hanau getöteten Sedat Gürbüz,
       dass der Friedhof ihr Wohnzimmer geworden ist. Ich denke oft an die Worte
       des Vaters von Hamza Kurtović: „Er sollte mich begraben, nicht ich ihn.“
       
       Ich umarme mein Kind erneut und denke daran, dass sie ihre Kinder nicht
       mehr umarmen können.
       
       Es gibt keinen Trost für das, was diesen Menschen angetan wurde.
       
       Einen Tag vor dem rassistischen Anschlag in Hanau am 18. Februar 2020 sagte
       der hessische Innenminister Peter Beuth in seiner Regierungserklärung, dass
       Hessen ein sicheres Bundesland sei. Sicher für wen, fragte ich mich schon
       damals.
       
       Sein besonderer Dank und seine volle Solidarität – so Innenminister Beuth –
       gehe dabei an die Polizei und Sicherheitsbehörden.
       
       Danke auch von uns dafür, dass ein psychisch kranker und polizeibekannter
       Deutscher mit einer rassistischen Weltanschauung eine Waffenbesitzkarte
       erhalten durfte.
       
       Danke dafür, dass der Notruf in der Tatnacht nicht ordnungsgemäß besetzt
       war.
       
       Danke dafür, dass die Sicherheitsbehörden einmal mehr versagt haben.
       
       Danke dafür, dass es keine Aufarbeitung und Aufklärung gibt.
       
       Danke auch dafür, dass all das auch ein Jahr später keine Konsequenzen für
       niemanden hat.
       
       Herzlich willkommen in Hessen. An Hessen führt (k)ein Weg vorbei.“
       
       ## „Seit Hanau hat sich etwas verändert“
       
       [5][Meron Mendel] ist Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt
       am Main. Der gebürtige Israeli beobachtet eine positive Veränderung in der
       deutschen Gesellschaft:
       
       „Nach dem Anschlag in Hanau habe ich eine unmittelbare Betroffenheit
       erlebt, die wirklich überwältigend war. Sehr viele Menschen, die bis dahin
       nichts mit dem Thema Rassismus zu tun hatten, waren wirklich schockiert.
       Die Politik hat nicht so schnell reagiert. Auch da gab es zahlreiche
       Solidaritätsbekundungen, aber konkrete Maßnahmen blieben erst einmal aus.
       Wir sind ja eng an den Familien dran, begleiten etwa die Mutter des
       erschossenen Ferhat Unvar bei ihrer neu gegründeten Bildungsinitiative. Und
       da gab es berechtigterweise großen Unmut, weil manche Hilfen anfangs nicht
       oder nur sehr bürokratisch kamen.
       
       Zuletzt aber ist zumindest der Bund aktiv geworden. Der Kabinettsausschuss
       der Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus hat
       – zum allerersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik – ein
       umfassendes Maßnahmenpaket vorgelegt. Das hat mich positiv überrascht.
       
       In Hessen ist man da, wie immer, etwas langsamer. Dabei gab es hier mit den
       NSU-2.0-Drohschreiben weitere rassistische Vorfälle. Da muss die hessische
       Politik jetzt aufholen, etwa mit einem Rechtsterrorismus-Opferfonds für die
       Betroffenen des Hanau-Anschlags und andere Betroffene rechter Attacken.
       Kein Bundesland hatte zuletzt so viele Todesopfer rechtsextremer Gewalt zu
       beklagen wie Hessen. Hier muss die Landesregierung endlich Verantwortung
       übernehmen.
       
       Die Welle der Betroffenheit nach Hanau ist schnell abgeebbt, vielleicht
       auch naturgemäß, einen Monat später erreichte uns ja Corona. Insgesamt habe
       ich aber das Gefühl, dass sich seit Hanau etwas verändert hat: Das
       Verständnis in diesem Land, dass Rassismus ein echtes Problem ist, ist
       stärker geworden. So vehement wie zuletzt über die rassistischen Ausfälle
       in einem WDR-Talk diskutiert wurde, das hätte es früher nicht gegeben. Das
       sind wichtige Debatten. Diese Sensibilisierung dürfte auch mit Hanau
       zusammenhängen.“
       
       ## „Weißen Terrorismus frühzeitig erkennen“
       
       [6][Deniz Utlu] ist Schriftsteller und lebt in Berlin. Er macht sich um die
       fehlende Unterstützung der Angehörigen Gedanken. Utlu schreibt:
       
       „Es wird nie wieder gut. Nichts macht diesen plötzlichen Abbruch des Lebens
       rückgängig; nichts nimmt den Angehörigen ihren Schmerz, kein Gedenken,
       keine politische Maßnahme.
       
       Die Politik sowie die Gesellschaft tragen Verantwortung, es den Menschen,
       die in Trauer sind, nicht schwerer zu machen und mit der Tradition
       rassistischer Trauerverweigerung zu brechen.
       
       Die Perspektive der Angehörigen muss primäre Instanz sein, was sie sagen
       muss als Erstes zählen. Weshalb gibt es keine wirksame Beschwerdestelle auf
       höchster Regierungsebene, an die sie sich wenden können?
       
       Laut Deutschlandfunk laufen Anfragen der Familie Kurtović an die örtliche
       Polizei ins Leere. Das darf nicht sein: In diesem Land ist ein weiterer
       rassistischer Terroranschlag vollzogen worden; wenn sich Staat und
       Gesellschaft dagegen positionieren wollen, müssen sie dafür Sorge tragen,
       dass die Betroffenen nicht in Warteschleifen gehalten, sondern gehört
       werden. Sofort.
       
       Und die ausbleibende Reformierung der Sicherheitsbehörden? Nach Angaben von
       Migazin hat die Polizei den Notausgang der Shishabar verriegeln lassen,
       damit bei Polizeikontrollen niemand fliehen kann – so gefährlich ist Racial
       Profiling. Eingedenk der Menschen, die ihr Leben verloren haben, darf in
       Hanau – und auch sonst nirgendwo – auch nicht ein Mensch jemals mehr
       aufgrund des rassistischen Blicks der Behörden kontrolliert werden. Eine
       Umkehr ist notwendig, nämlich weißen Terrorismus frühzeitig zu erkennen.
       Anstatt People of Color mit Polizeikontrollen zu schikanieren und ihnen den
       Schutz zu nehmen, während ein angekündigter Anschlag ignoriert wird.“
       
       ## „Gedenken als Show für die Presse“
       
       [7][Candan Özer] ist die Witwe von Atilla Özer, der 2004 beim
       Nagelbombenanschlag des NSU in einem Friseurladen in der Kölner Keupstraße
       schwer verletzt wurde. Er starb im Jahr 2017 an den Spätfolgen. Ihre
       Einschätzung ist von tiefem Pessimismus geprägt. Sie schreibt:
       
       „Was sich seit Hanau getan hat? Nicht viel. Natürlich hat es auch mit
       Corona zu tun, aber momentan beschäftigt sich die Politik doch mit
       Rassismus an letzter Stelle. Man sieht es am Umgang mit dem Gedenken. Als
       die Angehörigen und Freunde ein halbes Jahr nach dem Anschlag in Hanau
       demonstrieren wollten, wurde das kurzfristig abgesagt. Dabei gab es ein
       Hygienekonzept, alles war eingereicht. Und selbst unsere kleine
       Gedenkveranstaltung in Hamburg mit zehn Leuten – ebenfalls abgesagt. Es
       hieß, nur notwendige Veranstaltungen sind erlaubt. Ist das Gedenken nicht
       notwendig? Natürlich ist es das. Ich glaube, da wurde die Pandemie nur
       vorgeschoben.
       
       Das hat ein Schema in Deutschland. Wenn die Politik Gedenken abhält, werden
       die Familien kaum einbezogen. Man will zeigen, dass man etwas unternimmt,
       es tut uns leid, aber das ist nur Show für die Presse. Die Betroffenen
       dürfen sich da einfügen. Der Umgang mit dem Brandanschlag von Mölln 1992
       ist das beste Beispiel: Da gibt es inzwischen zwei Gedenken: eines von der
       Stadt und eines von den Angehörigen.
       
       Als ich nach dem Anschlag in Hanau auf der Bühne gesprochen und Deutschland
       vorgeworfen habe, beim Thema Rassismus zu versagen, habe ich danach so
       viele Drohungen bekommen, dass ich meine Social-Media-Profile bis heute
       deaktivieren musste. Das war wirklich extrem. Und das sagt doch schon
       alles. Wenn es hier nicht mal möglich ist, Rassismus zu benennen, dann
       läuft richtig etwas schief. Diese Anschläge passieren in eurem Land, es
       gehört zu eurer Geschichte. Wir integrieren uns, weil ihr das verlangt.
       Also tut es auch, befasst euch mit eurer beschämenden Geschichte und lernt
       aus unseren Erlebnissen, die durch euer Vaterland entstanden sind.“
       
       19 Feb 2021
       
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