# taz.de -- Campino und sein Buch „Hope Street“: „Fangesänge haben etwas Sakrales“
       
       > Der Frontmann der Toten Hosen über sein Verhältnis zu Großbritannien, die
       > Eigendynamik von Gassenhauern und Positives beim Kampf gegen rechts.
       
 (IMG) Bild: Campino im Stadion an der Anfield Road, Liverpool im Februar 2019
       
       taz: Campino, im Vorwort von „Hope Street“ schreiben Sie, Antrieb dafür sei
       der Tod Ihrer Mutter Jenny gewesen. Sie lebte über 50 Jahre als Engländerin
       in Westdeutschland. 2019 haben Sie die britische Staatsbürgerschaft
       angenommen. Den Brexit erwähnen Sie eher nebenbei. Hat er bei Ihrer
       Entscheidung keine Rolle gespielt? 
       
       Campino: Entscheidender war, dass mir seit dem Tod meiner Mutter im Jahr
       2000 eine konkrete Verbindung nach England fehlte. So schrecklich die
       Brexitentscheidung auch ist, es ist nur eine politische Momentaufnahme, es
       ändert nichts daran, dass Großbritannien zu Europa gehört. Mein Bekenntnis
       zu dem Land wird nicht vergehen, egal was für ein politisches System dort
       herrscht. Der Brexit ändert nicht meine Herkunft. Klar, ich bin sehr
       enttäuscht über die Brexit-Entscheidung, vor allem, weil es eine zweite
       Möglichkeit gegeben hätte, die Sache zu stoppen. Als alle Briten gewarnt
       waren, haben sie durch die Wahlentscheidung für [1][Boris Johnson]
       bestätigt, dass der Brexit durchgezogen werden soll.
       
       „Hope Street“ handelt von der Lebensgeschichte Ihrer Eltern, die sich 1947
       als binationales Paar kennengelernt hatten. Es geht um Ihre
       Kindheitserinnerungen auf der Insel, Ihre frühen Punkerlebnisse in London
       und – ganz aktuell um Ihre Sympathie für den FC Liverpool. Was bedeutet
       Ihnen das Land? 
       
       Als Jugendlicher konnte ich das gar nicht in Worte fassen, es war blinde
       Loyalität. Wahrscheinlich auch meiner Mutter gegenüber, weil sie England so
       sehr vermisste. Wir sechs Kinder haben gedacht, dass wir uns so englisch
       wie möglich benehmen müssten, um ihr Heimweh zu lindern. Unsere Mutter hat
       immer gesagt, in England ist es viel schöner. Sie hat alles verherrlicht
       und das hat auf uns abgefärbt. Abgesehen von der Frage, ob ich dort leben
       will oder nicht, ist es für mich wichtig, dass ich mich in England zu Hause
       fühlen kann. Und dieses Gefühl hatte ich, solange meine Großmutter dort
       gewohnt und meine Mutter gelebt hat. Das wollte ich durch meine britische
       Staatsangehörigkeit wieder einfangen.
       
       In dem frühen Tote-Hosen-Song „Reisefieber“ (1982) heißt es: „Das Meer
       rauscht / Du bist allein / Es riecht nach Fisch / Du willst zufrieden
       sein.“ Er handelt von jemand, der weg will, vielleicht nach England, aber
       nur bis zur deutschen Nordseeküste kommt. Wieso hat es so lange gedauert,
       diese Entscheidung zu treffen? 
       
       Das schwelte lange im Hintergrund. Es geht bei [2][„Reisefieber“] natürlich
       auch ums Wegrennen und Losrennen. Die Vergangenheit hinter sich lassen. Da
       ist auch ein Sehnsuchtsgefühl mit drin, nach dem, was man zu Hause vermisst
       hat. Ich kam sehr lange damit klar, mich einfach als Europäer zu
       definieren, ob englisch oder deutsch, das mochte ich für mich gar nicht
       genau beantworten. Mir gefiel in den letzten Jahrzehnten, dass
       Großbritannien und Deutschland näher zusammengerückt sind. So komisch sich
       das anhört, es hat meinen inneren Konflikt beruhigt. Hinzu kam, dass wir
       mit den Toten Hosen jahrelang durch die Welt getourt sind. Dadurch habe ich
       neue Orte kennengelernt und mein Verhältnis zu England hat sich
       relativiert. Es kommt noch ein anderer Aspekt hinzu, der meinem Älterwerden
       geschuldet ist. Denn ich habe den Wunsch, meine Familiengeschichte wirklich
       kennen und vernünftig schließen zu wollen.
       
       Jon Savage, Autor von „England’s Dreaming“, der Kulturgeschichte des
       britischen Punk, hat formuliert, der Alltag im England der Siebziger fühlte
       sich an, als habe es gar nicht den Zweiten Weltkrieg gewonnen: Die
       Menschen, die einst die Nazis besiegt hatten, waren Mitte der Siebziger, am
       Vorabend von Punk, abgekämpft und arbeitslos. Wie haben Sie das als Kind
       wahrgenommen? 
       
       Wenn wir uns mit dem Zug von Dover nach Exeter durchgekämpft haben, war das
       abenteuerlich, oft streikten die Eisenbahner. An den Bahnhöfen war Chaos,
       es lag extrem viel Müll rum, die Armut war spürbar. Trotzdem kam es mir
       nicht bedrückend vor. Mit dem Betreten der Insel ist meine Mutter sofort
       aufgeblüht. Sie hat überspielt, wie hart es einem eigentlich ins Gesicht
       geschlagen ist.
       
       Und dann kam der Sommer 1976.
       
       Ich mochte schon als Kind harte Rockmusik: Bollerndes Schlagzeug,
       hysterischen Gesang. Mein Bruder lebte 1976 eine Zeit lang in Nordlondon.
       Ich besuchte ihn dort, er ist dann mit mir zu einem [3][Punkkonzert]
       gegangen, da war ich 14. Die Band war tight und laut, ich war wie
       verwandelt. Dann sind wir in den Tagen danach in die Plattenläden gegangen.
       Es gab noch keine LPs von den Punkbands, sie hatten gerade erst ihre ersten
       Singles veröffentlicht. Alles sehr zufällig, wie ich in Punk gerutscht bin
       und dann auch noch zu diesem frühen Moment.
       
       Wie ging es zurück in Düsseldorf weiter? 
       
       Ich lebte eine gefühlte Ewigkeit alleine mit meiner Begeisterung für Punk.
       Dann erzählte mir ein Freund, Anfang 1978, dass es einen Laden in der
       Altstadt gäbe, in dem sich Punks treffen würden. Das war der [4][Ratinger
       Hof]. Dort bin ich bald hingegangen. Am Flipper habe ich die Jungs von Male
       kennengelernt, man sagt, das sei die erste deutsche Punkband überhaupt
       gewesen. Das waren Teenager. Die haben mich in ihren Proberaum eingeladen.
       Wenn sie fertig waren, bin ich ans Mikro und habe mit ihnen Coverversionen
       von englischen Punkbands gesungen, The Lurkers, The Boys, solche Sachen.
       Musik hat uns mehr bedeutet als nur Soundtrack im Hintergrund, es ging um
       Haltung. Wir waren zwar alle elektrisiert von der Londoner Szene, aber wir
       wollten unbedingt was Eigenes ausprobieren, nicht nur nachmachen.
       
       In „Hope Street“ schreiben Sie davon, wie Sie allmählich gemerkt haben,
       dass die Hosen mehr seien als nur Musiker. War das eine Begleiterscheinung
       des Mainstreamerfolgs, als Sie Mitte der 1980er durch volle Hallen getourt
       ist? Damals haben Soldaten in den Fußgängerzonen ihr Ausscheiden aus der
       Bundeswehr gerne mit dem Gröhlen von „Eisgekühlter Bommerlunder“ gefeiert. 
       
       Auf einem kleineren Level ist uns nichts anderes widerfahren als der Band
       Nirvana, nachdem sie zu einem Majorlabel wechselten. Ihr Album „Never Mind“
       war zunächst Underground-Hit und wurde später zum Mainstream erklärt.
       Unsere Single „Eisgekühlter Bommerlunder“ von 1982 durfte zunächst gar
       nicht offiziell verkauft werden, weil eine Schnapsflasche dabei war. Es war
       eine Hymne in den besetzten Häusern, in denen wir 1982/83 gespielt haben.
       Das fanden die Punks großartig. Leider entwickeln Lieder oft eine
       Eigendynamik.
       
       Machen Sie es sich da nicht ein bisschen zu einfach? 
       
       Man kann darüber verzweifeln, nach dem Motto, das habe ich so nie gemeint.
       Andererseits finde ich, muss man Distanz haben. Bei einem Straßenfeger mit
       simplen Zeilen darf man sich nicht wundern, wenn er überall gesungen wird.
       Aber „Eisgekühlter Bommerlunder“ war von uns auch ironisch gemeint. Wir
       haben gedacht, der Text ist so Stulle, er unterbietet jedes Niveau. Unser
       Augenzwinkern spielte bald keine Rolle mehr.
       
       War Stumpfsinn eine Antwort auf die politische Verhärtung der westdeutschen
       Linken? 
       
       Ja, auch. Es war lästig. In Düsseldorf, wenn ich als Schüler den Bus
       genommen habe, stiegen an einer Haltestelle öfter schwer [5][bewaffnete
       Polizisten] ein und kontrollierten Ausweise der Fahrgäste, auf der Suche
       nach RAF-Sympathisanten. Die Verunsicherung der Behörden war auch gegenüber
       der Punkszene groß; nur deshalb ist es zu erklären, dass angefangen wurde,
       Punks erkennungsdienstlich zu behandeln und Akten über sie anzulegen.
       
       Punkerdateien gab es in jeder westdeutschen Stadt. 
       
       Das scheint längst vergessen, dass es in Hannover Chaostage gab, und zwar
       genau aus dem Grund, um gegen diese Dateien zu protestieren. Wir fuhren da
       aus Solidarität zur Hannoveraner Szene hin, nach dem Motto: Wenn die von
       der Polizei fotografiert werden, wollen wir auch erfasst werden. Auch in
       Düsseldorf gab es eine Datei. Der Verfassungsschutz kam sogar in die
       Proberäume und hat Songtexte konfisziert. Uns hat das natürlich befeuert.
       Nachher kam auch raus, dass es Leute aus dem Umfeld der mittleren
       RAF-Generation gab, die in besetzten Häusern Unterschlupf gefunden hatten.
       Auch hier in Düsseldorf in der Kiefernstraße. Ja, es gab gewisse Kontakte
       von Punks zur linksextremen Szene.
       
       In „Hope Street“ flechten Sie viel Familiengeschichte ein, etwa über Ihren
       Großvater, der in der NS-Zeit Richter in Berlin war. Sie sind am 3.
       September 2018 in Chemnitz beim Festival #wirsindmehr aufgetreten, aus
       Protest gegen die rechtsradikalen Umtriebe. 
       
       Dass wir mitmachen, war sofort klar. Erstens haben wir die Diskussionen um
       die Rechten im Osten immer mitbekommen, zweitens fanden wir wichtig, dass
       Chemnitzer diese Gegenbewegung gestartet haben und nicht BAP oder
       Grönemeyer oder wir. Und drittens kommen alle an der Aktion Beteiligten aus
       einem Umfeld, das wir sehr respektieren. Die Leute in Chemnitz gehören zu
       einer jungen Künstlergeneration. War uns eine Ehre, dass wir sie
       [6][unterstützen] konnten.
       
       Wie erinnern Sie den Umgang mit Nazis im Westdeutschland der 1970er und
       1980er? Unterscheidet er sich vom heutigen Umgang? 
       
       In den Siebzigern wurden viele Dinge vertuscht. Nazis wurde noch nicht
       wirklich hart angefasst. An einer ehrlichen Aufklärung war man nicht
       interessiert. In den höheren Rängen der Polizei, beim Verfassungsschutz, in
       den Gerichten saßen noch viele Leute aus der NS-Zeit. Da hat man einfach
       den Deckel draufgemacht. Inzwischen sind viele Leute aus der Zeit längst
       gestorben, deswegen ist wahrscheinlich bei den Jüngeren eine andere
       Reflexion über diese Zeit möglich.
       
       Und die jungen Nazis? 
       
       Nach 1989 wurde Rechtsextremismus im Osten mit neuem Stroh versorgt und
       fing an, flächendeckend zu brennen. Das ist bis heute nicht richtig im
       Griff. Auch wenn es einen Rechtsrutsch gibt, kann man sich sicher sein,
       dass es in der Bundesrepublik noch nie so viele Menschen gegeben hat wie
       heute, die sich dem aktiv entgegenstellen und dafür auch auf die Straße
       gehen. Das gab es in den Siebzigern nicht. Die Entschlossenheit, sich dem
       entgegenzustellen, ist viel größer als früher.
       
       Bei den Recherchen bin ich auf ein Interview von Ihnen gestoßen, dass Sie
       1994 mit Angela Merkel geführt haben. Sie wirken ganz Rockstar und drängen
       ihre Gesprächspartnerin in die Defensive. An einer Stelle fragt sie Sie
       zurück, warum bei den Hosen keine Frauen spielen? Gute Frage! 
       
       Warum bei uns keine Frauen spielen? Das liegt zum Großteil daran, dass nur
       Jungs zu finden waren, die mitziehen wollten. Auch in der Punkszene gab es
       nicht viele [7][Musikerinnen]. Bei ZK hat eine Zeit lang eine Gitarristin
       gespielt, aber das ging ziemlich schief, weil sie die Sache nicht so ernst
       genommen hat wie wir. Ich bin auch vielen Musikern begegnet, die die Sache
       nicht so ernst genommen haben wie wir. Die Band [8][Östro 430], Freundinnen
       von mir, hat sich ganz bewusst als Frauenband formiert. Das war denen
       wichtig, keinen Mann dabeizuhaben. ZK und auch Tote Hosen waren eng
       befreundet mit Kleenex, später hießen sie Liliput, Frauenband aus Zürich.
       Ich fand Frauen im Punk oftmals genial, Siouxsie Sioux, [9][X-Ray Spex]
       oder Modettes. Im Rückblick muss ich sagen, ich bin immer wieder
       Künstlerinnen begegnet, mit denen ich gerne arbeite. Im Theater etwa mit
       [10][Birgit Minichmayr]. Seit vielen Jahren begleitet uns Esther Kim auf
       der Bühne am Piano. Insofern wähle ich musikalische Begleitung nach dem
       Vibe und der Qualifikation aus. Das Geschlecht ist dabei völlig sekundär.
       
       Liverpool ist für das neue Hosen-Album „Learning English: Lesson 3“
       Aufhänger, Sie covern Merseybeatsongs. Lieder, die auch im Stadion vom FC
       Liverpool gesungen werden. Warum ist Fußball immer noch männlich dominiert? 
       
       Gerade in England hat sich viel getan, seit die Stadien in Sitzarenen
       verwandelt wurden. Die Vorgeschichte ist bekannt, die üblen
       Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Fans und die Umstände bei der
       Katastrophe von Hillsborough in Sheffield. Heute gehen in England viel mehr
       Frauen und Familien ins Stadion. Aber, ich muss zugeben, bei
       Auswärtsspielen ist die Quote eine Frau zu 20 Männern.
       
       Als Finale covern Sie „Ferry cross the Mersey“ von Gerry & the Pacemakers,
       ein Hit in Anfield Road. Englische Fangesänge spielen im Vergleich zum
       deutschen Gegröhle in einer anderen Liga. Wie sind da Ihre Erfahrungen? 
       
       Den ersten englischen Fangesang habe ich im Düsseldorfer Rheinstadion
       wahrgenommen, als [11][Liverpool 1978 gegen Gladbach] gespielt hat. Da
       waren 5.000 Briten vor Ort und haben ihre Hymnen rausgehauen. Wenn in
       Anfield Tausende inbrünstig mitsingen, hat das etwas Sakrales. Mich
       erinnert das in manchen Momenten an einen [12][Gottesdienst], eine
       wahnsinnige Energie, die sich auch auf die Spieler überträgt. Der Gesang
       fehlt, seit Corona sind die Ergebnisse in der Liga kapriolenhaft.
       
       Am Ende Ihres Buches bricht auch in England die Coronapandemie aus. Wie
       haben Sie diese Zeit im Frühjahr wahrgenommen? 
       
       Ich kann ja den Fakten nicht widersprechen und es ist tatsächlich so, dass
       England in Europa mit am härtesten von Corona getroffen wurde. Ich glaube,
       die Linie, wie man die Pandemie zu bekämpfen hat, ist dort bei weitem nicht
       so konsequent gezogen worden, wie das bisher hier der Fall war.
       
       Corona trifft Sie als Fußballfan, der nicht mehr ins Stadion darf, und als
       Künstler, der keine Konzerte mehr spielt. Was stimmt Sie optimistisch? 
       
       Wenn wir live spielen, geht es um uns fünf Musiker, aber auch um 200
       weitere Menschen, die bei uns beschäftigt sind. Stagehands, Licht- und
       Tontechniker und so weiter. Viele haben jetzt Existenzängste. Nicht nur
       unsere komplette Tournee musste abgesagt werden, auch meine Lesereise wurde
       beendet. Wir kommen natürlich durch, aber das heißt nicht, dass uns das
       Thema nicht interessiert. Wir sind bestürzt über die Gesamtsituation und
       ich bin auch enttäuscht über die Tatsache, dass Theater, Kinos und Kneipen,
       die sich alle Hygienekonzepte mit viel Eigeninitiative ausgedacht haben,
       durch das generelle Veranstaltungsverbot gefährdet sind. Ich hatte mir nach
       acht Monaten im Umgang mit der Pandemie erhofft, dass es differenzierter
       zugeht.
       
       13 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
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