# taz.de -- Grünen- und Verdi-Chef im Interview: „Ökologie braucht Mehrheiten“
       
       > Erreichen die Grünen nur die Gutverdiener oder auch Arbeiter? Ein
       > Gespräch mit Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter und Verdi-Chef Frank
       > Werneke.
       
 (IMG) Bild: Kommt aus einer Arbeiterfamilie: Anton Hofreiter (l.). Kämpft für Arbeiter: Frank Werneke (Verdi)
       
       taz am wochenende: Herr Hofreiter, Sie kommen aus einer Arbeiterfamilie.
       Ihr einer Großvater war Maurer, der andere stellte Strommasten auf, Ihr
       Vater wurde auf dem zweiten Bildungsweg Ingenieur. Im Regal standen Werke
       der Büchergilde Gutenberg. Wann wird Ihnen diese Herkunft heute noch
       bewusst? 
       
       Anton Hofreiter: Die rote Brecht-Ausgabe der Büchergilde ist immer noch
       eines meiner Lieblingswerke. Und ja, meine Herkunft wird mir bei vielen
       gesellschaftlichen Gelegenheiten bewusst.
       
       Weil Sie sich unsicher fühlen? 
       
       Hofreiter: Weil ich jedenfalls merke, dass ich in bestimmten Situationen
       immer noch kurz überlege, wie ich mich jetzt am besten verhalte. Das sind
       Kleinigkeiten. Mir fehlt die lässige Selbstverständlichkeit, die Menschen
       mit großbürgerlicher Herkunft oft haben. Wer Privilegien verinnerlicht hat,
       der definiert oft ganz subtil, wer dazugehört und wer nicht.
       
       Der Soziologe Pierre Bourdieu schreibt, dass sich Aufsteiger fremd in der
       neuen Schicht fühlen. 
       
       Hofreiter: Da ist was dran. Bei einem parlamentarischen Abend der
       Gewerkschaften habe ich dieses Gefühl übrigens nicht. Da fühle ich mich
       eher heimisch.
       
       Wie ist das bei Ihrer Partei? Auch dort herrscht ein bildungsbürgerlicher
       Habitus vor, oder? 
       
       Hofreiter: Uns als Grünen wird zumindest immer bewusster, dass wir das
       Thema Diversität noch viel stärker in den Mittelpunkt stellen müssen. Dass
       auch parteiintern Leute aus einkommensschwachem Elternhaus und mit anderen
       Perspektiven mehr Chancen brauchen. In der Partei haben wir jetzt eine
       Arbeitsgruppe für mehr Vielfalt gegründet, aber bisher teilen wir das
       Problem mit allen anderen Parteien. Mit dem Blick auf die soziale Herkunft
       hat Deutschlands politische Landschaft ein Repräsentationsdefizit. Und
       gleichzeitig hat sich kulturell etwas verschoben: Den Arbeiterstolz, den es
       früher einmal gab, den gibt es heute ja leider nicht mehr. Viele
       Arbeitersportvereine existieren nicht mehr, und die Büchergilde Gutenberg,
       die wurde auch verkauft.
       
       Tesla fahren, vegan essen, im Biomarkt einkaufen: das sind auch
       Lebensstilfragen. Viele Beschäftigte haben das Gefühl, dass solche
       Lebensgewohnheiten auch Abgrenzungsmerkmale sind. Sie denken, die Grünen
       halten sich für was Besseres. Da ist was dran, oder? 
       
       Hofreiter: Manchmal ja, manchmal nein. Mir gingen solche Lebensstilfragen
       schon immer auf die Nerven. Sogenannte einfache Leute, also solche mit
       weniger Geld oder klassischen Berufen, haben einen viel geringeren
       ökologischen Fußabdruck als viele Akademiker.
       
       Bourdieu sagt auch, dass sich Klassenkampf über Symbole vermittelt. Verdi
       hat beim letzten Gewerkschaftstag Buttons mit dem Slogan „Workers for
       Future“ verteilt. Ist das glaubwürdig oder der Versuch, sich an die
       Klimabewegung ranzuwanzen? 
       
       Hofreiter: Die Gewerkschaften sind in einer schwierigen Lage. Sie sind
       legitimerweise Interessenvertreter der heutigen Beschäftigten in heutigen
       Jobs – und damit auch für die Leute zuständig, die mit Kohle Geld
       verdienen. Aber ich bin froh, wie sich die meisten Gewerkschaften
       positionieren. Unsere Wirtschaft muss sich wandeln und sie tut das auch.
       Frank Werneke, Reiner Hoffmann vom DGB und Jörg Hofmann von der IG Metall
       blicken nach vorne und unterstützen die sozialökologische Transformation.
       Das hätte auch anders laufen können.
       
       Herr Werneke, springen Sie da auf einen Zug auf? Beim Verdi-Bundeskongress
       vor vier Jahren spielte das Klimathema noch keine so große Rolle. 
       
       Frank Werneke: Die damaligen Beschlüsse unterscheiden sich nicht wesentlich
       von den heutigen. Nur war die Aufmerksamkeit damals nicht so hoch. Großen
       Teilen unserer Mitgliedschaft ist nachhaltiges Wirtschaften wichtig und
       emotional sehr nah. Etwa Menschen aus sozialen Berufen, aus dem
       Gesundheitswesen, aus der Wissenschaft – und nicht nur denen.
       
       Wie ist die Stimmung bei den Mitarbeitern von Kohlekraftwerken? 
       
       Werneke: Auch Kraftwerksmitarbeiter sagen: Ja, die Klimadiskussion ist
       richtig. Aber sie fügen hinzu: Denkt bitte auch an uns. Für diese Leute ist
       der Pfad, mit dem CO2-Emissionen gesenkt werden, für die eigene
       Lebenssituation elementar. Mit dem, was wir in der Kohlekommission erreicht
       haben, sind wir auf einem guten Weg. Die dort erzielte Einigung versöhnt
       und verhindert Spaltung.
       
       Sind die Grünen für Sie eine Arbeiterpartei? 
       
       Werneke: Sie sind eine Partei, deren Mitglieder und Wähler zu großen Teilen
       erwerbstätig sind. Eine Trennlinie zwischen Angestellten und Arbeitern
       lässt sich ja kaum noch scharf ziehen. Bei den Grünen beobachte ich seit
       drei, vier Jahren eine Profilierung in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
       Sie fordern einen Mindestlohn von 12 Euro, die Regulierung von Leiharbeit
       inklusive der Erschwerniszuschläge für Leiharbeiter. Das sind eins zu eins
       Verdi-Positionen. Dieser Kurs freut mich.
       
       Herr Hofreiter, wollen die Grünen die SPD als Arbeiterpartei beerben? 
       
       Hofreiter: Uns geht es nicht um Parteitaktik.
       
       Ach? Sie zielen mit Ihrer Politik nicht auf ehemalige SPD-Wähler? 
       
       Hofreiter: Der ökologische Umbau der Wirtschaft wird nur gelingen, wenn er
       sozial gerecht gestaltet wird. Das heißt auch, dass die Kosten genauso wie
       die Gewinne gerecht verteilt werden müssen und starke Schultern mehr
       tragen. In gespaltenen Gesellschaften lässt sich ökologische Politik nicht
       verwirklichen.
       
       Warum nicht? 
       
       Hofreiter: In Brasilien unter Bolsonaro fliegen die einen mit dem
       Hubschrauber, die anderen können sich überhaupt nichts leisten. Dann ist
       alles wurscht, dann braucht’s auch keinen CO2-Preis. Der funktioniert nur,
       wenn er eine sinnvolle ökologische Lenkungswirkung entfaltet, nicht wenn er
       für die einen gar keine Rolle spielt und bei anderen Mobilität verhindert.
       Ökologie braucht Mehrheiten und die bekommt sie nur, wenn sie auch für
       soziale Gerechtigkeit streitet.
       
       Herr Werneke, die Grünen wollen „die führende Kraft der linken Mitte“ sein.
       Werden sie das auf Dauer schaffen? 
       
       Werneke: Welches Größenverhältnis sich zwischen Grünen und SPD ausbildet,
       wird sich zeigen. Für uns sind Parteien der linken Mitte Bündnispartner für
       eine progressive Politik. Am liebsten in einer Regierung zusammen.
       
       Verdi organisiert viele Berufsgruppen, die wenig verdienen. Verkäuferinnen,
       Altenpfleger oder Wachschützerinnen. Schauen Niedrigverdiener anders auf
       Klimaschutz als Gutverdiener? 
       
       Werneke: Unabhängig vom Einkommensniveau ist vielen Menschen klar, dass wir
       vor einer Überlebensfrage stehen. Diese Einsicht hat nichts mit der
       Einkommenssituation zu tun. Es gibt sicher auch Menschen, die sagen, für
       mich in meiner Lebensspanne wird es noch reichen. Aber das ist eine
       Minderheit.
       
       Hofreiter: Es wird manchmal so getan, also ob es Menschen mit geringen
       Einkommen egal wäre, dass wir die Klimakrise in den Griff kriegen. Das
       finde ich anmaßend. Für Leute mit wenig Geld ist Klimaschutz genauso
       wichtig wie für Gutverdiener. Gleichzeitig haben sie aber auch das Recht,
       sich zu Wort zu melden, wenn das Gefühl besteht, ihre Lebensrealität wird
       nicht mitgedacht.
       
       Aber wer viel verdient, kann Klimaschutz ignorieren, oder? 
       
       Werneke: Die Politik muss verhindern, dass man sich von notwendigen
       Veränderungen freikaufen kann. Die von der Großen Koalition vorgesehene
       CO2-Bepreisung ist mutlos. Sie setzt zu gering ein, und es gibt keine
       ausreichende soziale Komponente. Die Einnahmen müssten der Bevölkerung
       zurückgegeben werden, und zwar sozial gestaffelt. Der Kollege aus dem
       Wachschutz, der zur Arbeit muss, wenn der letzte Bus schon gefahren ist,
       bekäme mehr Geld zurück als Wohlhabende mit hohem Einkommen.
       
       Hofreiter: Wir setzen aus genau diesem Grund auch auf Ordnungsrecht. Wenn
       die Autoindustrie ab 2030 nur noch emissionsfrei fahrende Wagen produzieren
       dürfte, macht das den gesamten Verkehr sauberer, nicht nur ein paar
       hochpreisige Modelle. Mir hat mal ein Stahlarbeiter gesagt: Was bringt es,
       wenn unsere Stahlwerke teuer und CO2-frei produzieren, dafür aber billiger
       und schmutziger Stahl aus China importiert wird? Dann bin ich meinen Job
       los und das Klima wird nicht gerettet. Davon haben meine Kinder nichts.
       Damit hat er recht. Klimapolitik muss nicht nur ambitioniert sein, sondern
       auch in der Umsetzung funktionieren. Bei der Stahlindustrie braucht es
       deswegen neue Regelungen, etwa Klimazölle.
       
       Die Grünen fordern einiges, was das Leben teurer macht. Einen höheren
       CO2-Preis, teurere Flüge, einen Cent für Tierschutz auf günstiges Fleisch.
       Das geht nicht zulasten von Niedrigverdienern, Herr Werneke? 
       
       Werneke: Niedrigverdiener belastet weniger, dass Flüge 10 Euro teurer
       werden, sondern eher, dass die Mieten enorm steigen, und zwar längst auch
       in mittelgroßen Städten.
       
       Man kann doch gute Mietenpolitik machen und trotzdem höhere Preise
       problematisieren. 
       
       Werneke: Klimaschädliche Produkte teurer zu machen ist nötig. Aber man muss
       natürlich gleichzeitig die Einkommenssituation der Menschen verbessern.
       Durch einen höheren Mindestlohn, durch eine stärkere Tarifbindung der
       Unternehmen, durch gute Tarifabschlüsse.
       
       Herr Hofreiter, Verbote sind egalitärer als hohe Preise, weil sie jeden
       treffen. Warum verbieten Sie zum Beispiel innerdeutsche Flüge nicht
       einfach? 
       
       Hofreiter: Wir wollen ja Flüge innerhalb Deutschlands bis 2035 überflüssig
       machen. Aber dafür muss man erst mal die Bahn entsprechend ertüchtigen.
       
       Man kann jetzt schon mit der Bahn von Berlin nach München fahren. 
       
       Hofreiter: … aber die Züge sind knallvoll. Die Bahn hat im Moment ja kaum
       Kapazitäten, noch mehr Fahrgäste zu übernehmen.
       
       Viele Menschen fürchten sich vor anstehenden Umbrüchen, ob es nun die
       Globalisierung, die Digitalisierung oder die ökosoziale Wende ist. Wie
       nimmt man diesen Menschen die Angst? 
       
       Hofreiter: Indem man ihnen zeigt: Diese Herausforderung lässt sich
       bewältigen. Und zwar, indem wir gemeinsam optimistisch und konstruktiv nach
       vorne schauen. Das mag sich banal anhören, ist es aber nicht. Berechtigte
       Sorgen muss man ernst nehmen. Aber wenn man Angstparolen sät wie die AfD,
       drängt man Menschen aus dem demokratisch-konstruktiven Spektrum heraus. Das
       hat die CSU bei der letzten Landtagswahl in Bayern bitter erfahren müssen.
       
       Werneke: Eine positive Idee von der Arbeitswelt von morgen ist wichtig. Es
       gibt viele Arbeitsplätze mit monotonen oder belastenden Abläufen. Neue
       Technologien haben das Potenzial dazu, für eine Entlastung der
       Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und eine Aufwertung vieler Tätigkeiten
       zu sorgen.
       
       Aber die Kassiererin denkt doch: Selbstscanner-Kassen sind auf dem
       Vormarsch, durch sie werde ich überflüssig. 
       
       Werneke: Diese Angst müssen wir ihr nehmen. Das ist eine Frage der
       Gestaltung. Das wichtigste Ziel von Verdi ist, dass durch den
       technologischen Wandel keine neue Arbeitslosigkeit entsteht.
       
       Ist das denn realistisch? Die Lebensmittelbranche steht unter einem enormem
       Kostendruck, sie wird sparen, wo sie kann. 
       
       Werneke: Ich erwarte von den großen Handelskonzernen, den Umbauprozess so
       zu organisieren, dass es nicht zu Entlassungen kommt. Die Weiterbildung ist
       in allen Bereichen wichtig, auch in Berufen über bestehende Branchengrenzen
       hinweg. Und das, bevor es zu Erwerbslosigkeit kommt. Die Herausforderung
       bei der Digitalisierung ist, dass sie sich ungleich auswirkt. In manchen
       Branchen wird Beschäftigung abgebaut werden, anderswo entsteht viel – etwa
       in Sozial-, Erziehungs- oder Gesundheitsberufen.
       
       Hofreiter: Deshalb wollen wir ein Recht auf Weiterbildung und die
       Arbeitslosenversicherung entsprechend umbauen, damit die schon im Job
       greift. Die Menschen brauchen in Umbrüchen Schutz. Und zwar mehr, nicht
       weniger.
       
       9 Feb 2020
       
       ## AUTOREN
       
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