# taz.de -- Mordfall Walter Lübcke in Hessen: Die Stille nach dem Schuss
       
       > Der CDU-Politiker Walter Lübcke ist erschossen worden. Nicht nur die
       > Politik weiß nicht so recht, wie sie mit dem Fall umgehen soll.
       
 (IMG) Bild: Das Haus von Walter Lübcke in Istha bei Kassel. Seit Tagen geht die Spurensicherung ein und aus
       
       Wolfhagen-Istha taz | Ein halbes Dutzend Kegelberge erhebt sich aus den
       Wiesen rund um das kleine Istha, 850 Einwohner, viele Bauernhöfe, viel
       Fachwerk. Istha, 20 Kilometer westlich von Kassel, ist ein Ortsteil von
       Wolfhagen, das sich als „Fachwerkstadt im Märchenland der Gebrüder Grimm“
       präsentiert.
       
       Ein Idyll, und mittendrin ein weißes Wohnhaus mit runtergelassenen
       Rollläden und rot-weißem Flatterband davor. Am Donnerstag ist es von
       Polizeibeamten bewacht, Kamerateams stehen davor. Seit Tagen schon gehen
       Ermittler der Spurensicherung in dem Haus ein und aus. [1][Hier wurde ein
       Mensch erschossen]: Walter Lübcke, 65 Jahre, der beliebte Kasseler
       Regierungspräsident, ein CDU-Mann.
       
       In der Nacht auf den Sonntag fiel der tödliche Schuss. Ein Unbekannter
       drückte mit einer Pistole oder einem Revolver ab, ein Kopfschuss aus
       nächster Nähe. Zur gleichen Zeit feierten auf dem nahegelegenen Dorfplatz
       Hunderte ausgelassen auf der „Weizenkirmes“, einem Fest mit Partybands in
       einem Großzelt. Womöglich übertönten die wummernden Bässe den Schuss. Um
       0.30 Uhr fand ein Sohn Lübcke auf der Terrasse, holte einen befreundeten
       Sanitäter herbei. Es half nichts mehr: Laut Polizei starb Lübcke um 2.35
       Uhr im Krankenhaus. Der Täter entkam unerkannt.
       
       Ein Politiker wurde ermordet, der Schock sitzt nun tief. Als „wichtigsten
       Tatort in Hessen seit Jahren“ bezeichnet das Landeskriminalamt den Fall
       Lübcke. Und gesteht: Eine „heiße Spur“ habe man nicht. Aber galt der Schuss
       überhaupt dem Politiker Lübcke? Oder war das Motiv ein ganz anderes? Ein
       persönlicher Streit? Eine versuchte Raubtat?
       
       ## Suizid ausgeschlossen
       
       Auf einer Pressekonferenz Anfang der Woche bat LKA-Präsidentin Sabine
       Thurau, „nicht zu spekulieren“. Es gebe bisher keine Hinweise auf ein
       Motiv. Ein Suizid könne ausgeschlossen werden. Denn eine Waffe neben Lübcke
       fanden die Ermittler nicht. Nun werde mit Hochdruck „in alle Richtungen
       ermittelt“, so Thurau. Dies tut eine 50-köpfige Sonderkommission
       „Liemecke“, benannt nach einem Fluss bei Istha, auch das BKA unterstützt.
       
       Aber in Istha wird spekuliert.
       
       Wolfgang Hensel führt viele Gespräche dieser Tage. Der 72-Jährige ist
       Ortsvorsteher von Istha, ein SPD-Genosse seit 36 Jahren. „Alle wünschen
       sich, dass die Tat bald aufgeklärt wird und die Ungewissheit ein Ende hat“,
       sagt Hensel. „Ich bin auch persönlich betroffen, weil ich ihn sehr
       geschätzt habe.“ Lübcke sei im Dorf „nicht der Herr Regierungspräsident,
       sondern Mitbewohner, Nachbar oder Freund“ gewesen. „Für die Tat hat hier
       keiner eine Erklärung.“
       
       Auch der Pressesprecher des Landeskriminalamts, Dirk Hintermeier, ist vor
       Ort. Er antwortet den Kamerateams geduldig, obwohl es nichts Neues gibt.
       Zunächst muss er allerdings Hand anlegen. Die Bauzäune, die am Sonntag auf
       Bitte der Polizei die Feuerwehr aufgestellt hatte, um den Tatort
       abzuriegeln, sollen auf einen Lkw geladen werden. Dabei braucht
       Feuerwehrmann Dominik Bachmann Unterstützung. Er sei noch immer erschüttert
       von der Tat, sagt auch er. „Man will wissen, wer das getan hat.“ Dann fährt
       er die Absperrgitter ins Depot.
       
       Walter Lübcke war der bekannteste Bewohner Isthas. Zehn Jahre gehörte er
       als CDU-Abgeordneter dem hessischen Landtag an. Dann leitete er zehn Jahre
       lang, bis zuletzt, in Kassel als Präsident die nordhessische
       Bezirksregierung. Gleichzeitig bewirtschaftete er mit seiner Frau und den
       zwei Söhnen bis zuletzt einen landwirtschaftlichen Betrieb, einen der
       wenigen, die den Strukturwandel überstanden haben.
       
       ## Engagement für Windenergie
       
       Früh hatte der promovierte Wirtschaftswissenschaftler und Selfmademan
       erkannt, welche neue Chancen erneuerbare Energien für den ländlichen Raum
       bieten könnten. Er brachte Investoren, Grundstückseigner und Landwirte für
       erste Windparkprojekte zusammen, als seine Partei, die hessische CDU, noch
       vehement gegen die „Verspargelung der Landschaft“ zu Felde zog.
       
       Mit Rücksicht auf sein Amt als Regierungspräsident übergab er vor zehn
       Jahren sein Unternehmen an seine beiden Söhne und einen Neffen. Die machten
       die Firma zu einer ersten Adresse für die Projektierung, den Bau und die
       Wartung von Solarenergieanlagen. „Wir sind stolz, dass ein so junges Team
       eine so tolle Firma aufgebaut hat“, sagt Ortsvorsteher Hensel.
       
       Lübckes Engagement für die Windenergie sorgte allerdings auch für Kritik.
       Bei seiner Ernennung zum Regierungspräsidenten beklagte die FDP Lübckes
       Nähe zur Windenergie: Das Regierungspräsidium müsse die Anträge für solche
       Projekte fachlich und neutral prüfen. Auch Umwelt- und Vogelschützer übten
       heftige Kritik am Regierungspräsidium.
       
       Dort würden von der Industrie bezahlte Gefälligkeitsgutachten herangezogen,
       um Windkraftanlagen im schützenswerten Reinhardswald durchzudrücken, sagte
       ein Ex-Mitarbeiter der Behörde dem ZDF-Magazin Frontal. Lübcke wehrte sich
       gegen solche Angriffe. Er verwies stets darauf, dass die Vorrangflächen für
       Windenergie nicht von ihm, sondern durch überparteilichen Beschluss von der
       Regionalversammlung Nordhessen festgelegt worden seien.
       
       ## „Verschwinde!“
       
       Aber es gibt einen weiteren Vorfall, über den dieser Tage wieder geredet
       wird. Einen vom Oktober 2015. Lübcke war damals für die Unterbringung von
       Geflüchteten in Nordhessen verantwortlich. Bei einer Bürgerversammlung in
       Calden konterte der Regierungspräsident rassistische Zwischenrufe. Er sei
       stolz auf die Werte dieser Republik, sagte Lübcke. „Wer diese Werte nicht
       vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen, wenn er nicht einverstanden
       ist.“ Einen Raunen ging durch die Halle, dann „Buh“- und „Pfui“-Rufe. Ein
       Mann schrie: „Verschwinde!“
       
       Ein Video des Auftritts verbreitete sich bundesweit unter Rechtsextremen.
       Damals folgten monatelang Hassbotschaften, auch Morddrohungen. Ein rechtes
       Hetzblog veröffentlichte Lübckes Privatadresse, laut CDU bedrohten ihn auch
       Reichsbürger. Der Politiker stand zeitweilig unter Polizeischutz.
       
       LKA-Chefin Thurau aber sagt: Für einen Zusammenhang zwischen diesen
       Vorfällen und dem Mord gebe es bislang keine Erkenntnisse. Nur
       bruchstückhaft dringt an die Öffentlichkeit, was in dieser Nacht geschehen
       sein könnte. Lübcke soll an dem Samstagabend mit seiner Frau, der
       Schwiegertochter und dem einjährigen Enkelkind zu Hause gewesen sein,
       erzählt man sich in Istha. Dass Lübcke auf der Kirmes war, gilt als
       widerlegt. Dafür soll er bis etwa 23 Uhr Besuch bei sich gehabt haben, dann
       ging die Familie zu Bett. Der 65-Jährige aber sei noch auf der Terrasse
       geblieben, zum Rauchen. Dann habe ihn sein Sohn gefunden, sterbend.
       
       Das LKA will sich zu all diesen Details nicht äußern, Hintermeier spricht
       von „Gerüchten“. Die Ermittler setzen nun auf die Kirmesbesucher. Auch über
       die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“ rief sie Teilnehmer auf, Fotos
       und Videos zu übersenden. Mehr als 80 Hinweise gingen danach ein, erneut
       indes ohne „heiße Spur“. Im Dorf herrscht weiter Unruhe: Wo ist der Täter
       jetzt? Und: War es gar einer von uns?
       
       ## Ermittlung gegen Kommentatoren
       
       Die Polizei ermittelt nun auch in anderer Sache: Weil der Hass gegen Walter
       Lübcke erneut aufbrach. „Die Sau ist endlich tot“, heißt es nun in
       Onlinekommentaren nach dem Mord. „Zum Glück ist dieses Arschloch erledigt“,
       schreibt ein anderer. „Aber leider laufen von diesen Verrätern noch viele
       rum.“ Die AfD Dithmarschen kommentierte: „Mord??? Er wollte nicht mit dem
       Fallschirm springen …“ Auch gegen einzelne Kommentatoren wird nun
       ermittelt.
       
       Zu diesem Hass ergriff auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das
       Wort, so klar wie selten. Der Tod Lübckes mache ihn „fassungslos“. Noch
       wisse man nichts über den Hergang. Aber die Kommentare seien „einfach nur
       zynisch, geschmacklos, abscheulich, in jeder Hinsicht widerwärtig“. Auch
       Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) sagte dem Tagesspiegel, die Hetze
       gegen Lübcke sei ein „Niedergang der menschlichen Moral“.
       
       Sonst aber blieb es außerhalb von Hessen sehr still zum Fall Lübcke. Auch
       in der Politik herrschte Ratlosigkeit. Ganz einzigartig aber ist der Fall
       Lübcke nicht. 1990 schoss ein Verwirrter auf Wolfgang Schäuble, der
       CDU-Mann sitzt seitdem im Rollstuhl. 2013 erschoss in Hameln ein Rentner
       den SPD-Stadtrat Rüdiger Butte und dann sich selbst. Der Rentner hatte mit
       der Behörde verbittert über einen Zaun gestritten. Und in Köln attackierte
       2015 ein Rechtsextremer die Bürgermeisterkandidatin Henriette Reker mit
       einem Messer, sie überlebte.
       
       Auch der NSU kommt nun in den Sinn, jedenfalls was den Modus Operandi
       angeht. Die Rechtsterroristen töteten ihre zehn Opfer mit Kopfschüssen,
       einen Mann auch in Hessen, 2006 in Kassel. Dort am Tatort war auch ein
       Verfassungsschützer, Andreas Temme. Dieser wurde danach ins
       Regierungspräsidium nach Kassel versetzt – das später Lübcke leitete. Ein
       Zusammenhang mit dem Mord ist nicht ersichtlich.
       
       Am Donnerstag soll Lübcke nun auch noch mal offiziell gewürdigt werden. Auf
       der Trauerfeier in der Kasseler Martinskirche wollen Ministerpräsident
       Bouffier und der Landesbischof sprechen. Polizisten und Soldaten werden
       eine Ehrenwache halten.
       
       Die Frage nach dem Warum aber, sie bleibt vorerst.
       
       8 Jun 2019
       
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