# taz.de -- Der Fall Claas Relotius und Journalismus: Das Problem der Geschichten
       
       > Claas Relotius ist Produkt eines journalistischen Zeitgeistes, der
       > Schönschreiben feiert. Und Recherche und Quellen-Transparenz
       > vernachlässigt.
       
 (IMG) Bild: „Der Spiegel“ ist ein Hort der Wahrheit, Relotius ein Nestbeschmutzer. War es wirklich so?
       
       „Hört mal auf mit eurer Kischologie“, soll der langjährige US-Korrespondent
       der Zeit, Thomas Kleine-Brockhoff, vor 20 Jahren zu Kollegen gesagt haben.
       Kischologie bezieht sich auf den Egon-Erwin-Kisch-Preis, den wichtigsten
       Preis für schreibende Journalisten in Deutschland, der heute Nannen-Preis
       heißt. Der Begriff sollte also all jene verspotten, die Texte vor allem
       dafür schreiben, Preise zu gewinnen, die Schönschreiber.
       
       Ullrich Fichtner, künftiger Chefredakteur des Spiegels, erwähnt dieses
       Zitat am Mittwoch in einem Gespräch mit Journalisten. Er versucht damit zu
       erklären, was sich nur schwer erklären lässt: Wie konnte ein Reporter des
       Hauses, Claas Relotius, Edelfeder, Mehrfach-Preisträger, herausragendes
       Jungtalent, den Spiegel und wohl auch andere Medien über Jahre täuschen?
       Der Spiegel hatte den Betrug [1][am Mittwoch] öffentlich gemacht.
       
       Relotius, der vor allem aus dem Ausland berichtete, hat in mindestens 14
       seiner insgesamt knapp 60 für den Spiegel verfassten Texte Passagen
       erfunden. Er hat Protagonisten erdacht, hat ihnen Biografien angedichtet,
       hat sich Szenen und Zitate ausgedacht. Nachdem ein Kollege ihm
       hinterherrecherchiert und seine Ressortleiterin ihn zur Rede gestellt
       hatte, gab Relotius den Betrug zu. Er hat mittlerweile gekündigt.
       
       Es ist einer der größten Betrugsfälle im deutschsprachigen Journalismus.
       Die Spiegel-Redaktion ist geschockt, viele Kollegen in anderen Häusern sind
       es auch. Die AfD jubelt, weil sie glaubt, nun den Beweis für die verhasste
       „Lügenpresse“ zu haben. Der Imageschaden des Magazins und der ganzen
       Branche dürfte enorm sein.
       
       Wie konnte das passieren?
       
       Um das zu erklären, muss man gar nicht nur im Spiegel graben. Man muss sich
       einmal anschauen, welche Kriterien heute für journalistische Brillanz
       gelten, was an Journalistenschulen gelehrt wird und welchen Stellenwert
       Journalistenpreise haben. Das Portal [2][journalistenpreise.de] listet rund
       500 Preise auf, die aktuell vergeben werden. Nicht alle sind gleichermaßen
       angesehen. Aber die Zahl zeigt, dass sie heute eine Währung darstellen. Und
       die Redaktionen – auch die taz – bejubeln sich gern selbst.
       
       Der Spiegel hat, wie andere große Blätter auch, Standards gesetzt, wie
       heute journalistische Texte erzählt werden. Porträts und Reportagen leben
       von einer möglichst großen Nähe. Vom Nacherzählen, Nachfühlen, von
       Emotionalität und Details. An Journalistenschulen lernt der Nachwuchs, dass
       Reportagen beim Leser „Kino im Kopf“ erzeugen sollen, dass ein guter Text
       starke „Protagonisten“ braucht und einen „Konflikt“, dass die „Dramaturgie“
       des Textes wichtig ist. Man lernt, die Texte nicht Artikel zu nennen,
       sondern „Geschichten“. Journalistenschüler belegen „Storytelling“-Seminare,
       als schrieben sie für Netflix.
       
       Das ist zum einen berechtigt, denn die Wirklichkeit ist komplex. Damit
       komplizierte Recherchen lesbar werden, müssen sie gut erzählt sein. Die
       „[3][Football Leaks]“, also die Skandale rund um Korruption im Fußball, die
       der Spiegel recherchiert hat, wurden vor allem deswegen von einer breiten
       Öffentlichkeit wahrgenommen, weil sie sich personalisieren ließen, weil
       darin auch vorkam, wie der Starfußballer Cristiano Ronaldo 2009 eine Frau
       vergewaltigt und Schweigegeld gezahlt haben soll.
       
       Die Inszenierung von Reportagen ist aber auch Teil des Problems. Der
       Begriff „Geschichte“ ist eben sehr nah an „Märchen“, es scheint
       verführerisch, hier und da ein bisschen auszuschmücken. Ein Detail zu
       erwähnen, das die Stimmung unterstreicht, ein Zitat so zu biegen, dass es
       stärker wird. Relotius soll, so schreibt es der künftige
       Spiegel-Chefredakteur Fichtner, gern bei der Musik dick aufgetragen haben:
       Ein einsames Kind singt ein trauriges Lied, Sträflinge singen im Waschraum
       Popsongs. Stimmte nur meist nicht.
       
       ## Kultur der Unfehlbarkeit und Intransparenz
       
       Es gab in den letzten Jahren immer wieder kleinere und größere
       Unwägbarkeiten bei Spiegel-Texten. Da war zum Beispiel, einer der größeren,
       René Pfister, der 2010 einen Text über Horst Seehofer schrieb. Der Text
       beginnt mit einer ausführlichen Beschreibung von Seehofers Modelleisenbahn.
       Pfister bekam dafür 2011 den schon angesprochenen Henri-Nannen-Preis. Als
       er die Auszeichnung entgegennahm, kam heraus, dass Pfister nie in Seehofers
       Keller gewesen war. Er habe lediglich Eindrücke Dritter
       zusammengeschrieben. Im Text hatte er das aber nicht kenntlich gemacht,
       [4][der Nannen-Preis wurde ihm später aberkannt]. Pfister leitet heute das
       Hauptstadtbüro des Spiegels.
       
       Dazu kommt Intransparenz: Im März dieses Jahres veröffentlichte der Spiegel
       einen Text über eine Frau, die im Berliner Techno-Club Berghain gestorben
       war, nachdem sie Drogen genommen hatte. Darin kam auch der Berliner
       Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) zu Wort, mit Zitaten, die
       nahelegten, für Lederer seien Tote ein etwas hässlicher, aber zu
       tolerierender Nebeneffekt einer bunten Partykultur.
       
       Lederer reagierte empört. Er sah sich getäuscht, weil er, wie er twitterte,
       mit dem Reporter Alexander Osang nie über die Tote gesprochen habe.
       Stattdessen habe er mit dem Reporter allgemein über die Clubkultur der
       Stadt gesprochen. Später meldete sich auch ein im Text zitierter
       Polizeibeamter auf dem Medienblog Übermedien [5][und behauptete], mit Osang
       nur im Hintergrund gesprochen zu haben, aber dennoch ungefragt zitiert
       worden zu sein. Auf taz-Nachfrage wollte sich Osang damals nicht dazu
       äußern.
       
       Ähnlich lief es auch im Mai dieses Jahres. Da veröffentlichte der Spiegel
       einen Text über den damaligen Fernsehfilmchef des WDR, dem [6][mehrere
       Frauen sexuelle Übergriffe vorwarfen]. Der Text brachte die #MeToo-Affäre
       im WDR erst richtig ins Rollen. Der Fernsehfilmchef beschwerte sich, er sei
       vom Spiegel nicht fair mit den Vorwürfen konfrontiert worden. Auf damalige
       taz-Nachfrage wollte eine der Autorinnen des Spiegel-Textes nicht
       antworten. Heute begründen die Autorinnen das mit einem laufenden
       Rechtsstreit.
       
       All diese Fälle sind sehr unterschiedlich und nicht vergleichbar mit einem
       Reporter, der sich über Jahre Protagonisten und ganze Textpassagen
       ausgedacht hat. Der, so wie es aussieht, vermutlich Unwahres nicht nur im
       Spiegel, sondern auch bei Zeit Online und im Magazin der Neuen Zürcher
       Zeitung [7][untergebracht hat]. Aber sie zeigen eine bestimmte
       journalistische Kultur der Unfehlbarkeit und der Intransparenz. Die gute
       Geschichte, die richtige Zuspitzung oder die steile These scheint im
       Zweifel manchmal wichtiger zu sein als Fakten und journalistische Fairness.
       
       ## Quellen offenlegen
       
       Und das nicht nur beim Spiegel. Es sei hier nur kurz erinnert an Heribert
       Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung. Er schrieb
       2012 ein Porträt über Andreas Voßkuhle, Präsident des
       Bundesverfassungsgerichts. Prantl beschrieb detailliert, wie Voßkuhle in
       seiner Küche Gäste bekocht, wie Voßkuhle selbst das Dressing anrührt.
       Prantl schrieb, als sei er dabei gewesen. [8][War er aber nicht]. Er war
       damals nicht in Voßkuhles Küche.
       
       Das Stilmittel der „szenischen Rekonstruktion“ dessen, was „hinter
       verschlossenen Türen passiert“, sei im „politischen Journalismus“ legitim,
       sagte der stellvertretende Spiegel-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit am
       Mittwoch im Zusammenhang mit Relotius. Man müsse aber dieses Verfahren und
       die Quellen offenlegen.
       
       Auch der Spiegel-Text, [9][der den Fall Relotius rekonstruiert], bedient
       sich solch szenischer Rekonstruktionen. Er liest sich wie ein Krimi, ist
       geschrieben in dem Stil, mit dem Relotius groß geworden ist. Der Kollege,
       der ihn zu Fall gebracht habe, sei wochenlang „durch die Hölle“ gegangen,
       durch „tiefe Täler“. Relotius, so beginnt der Text, sei kurz vor dem Ende
       seiner Karriere „Glanz und Elend“ noch „einmal ganz nah“ gekommen. Relotius
       sei „ein journalistisches Idol seiner Generation“, und das lässt sich
       natürlich nicht leicht widerlegen, denn man kann die Generation ja nicht
       mal eben anrufen und nachfragen, ob das stimmt. Der Text strotzt nur so vor
       Pathos. Am Ende bleibt hängen: Der Spiegel ist ein Hort der Wahrheit,
       Relotius ein Nestbeschmutzer. Selbstkritik räumt der Autor des Textes und
       künftige Spiegel-Chefredakteur Ullrich Fichtner kaum ein.
       
       Dabei stünde sie dem Spiegel gut. Das Magazin hat über viele Jahre seine
       Kernkompetenz, die Recherche, vernachlässigt. So empfinden es zumindest die
       Rechercheure im Haus. 1999 startete der Verlag Spiegel Reporter, ein
       Magazin für Reportagen, Essays, Interviews, geschrieben und geführt von
       brillanten Autoren. Es war der Versuch des Spiegels, in der Liga der großen
       Geschichtenerzähler mitzuspielen. Er scheiterte, nach nur 18 Ausgaben wurde
       das Heft 2001 eingestellt, die Reporter vom Mutterhaus übernommen und das
       Ressort „Gesellschaft und Reportage“ gegründet. Personell gehört es heute
       zwar eher zu den kleineren, dafür war es lange das mit dem höchsten Anteil
       an Redakteuren mit besonderen Privilegien.
       
       Das zeigt der Innovationsbericht, den einige Mitarbeiter 2015 erstellt
       haben. Die Geschichtenerzähler beim Spiegel, intern werden sie
       „Märchenfraktion“ genannt, bekamen auch personell über die Jahre mehr
       Einfluss. Klaus Brinkbäumer, der im Sommer abgesetzte Chefredakteur, stand
       für das große Erzählen. Auch Ullrich Fichtner gehört zur Reporterfraktion.
       So sei über Jahre das Schönschreiben hausintern mehr prämiert worden als
       die Recherche, bemängeln einige im Haus. Dafür gab es Journalistenpreise –
       aber mit dem Fall Relotius jetzt vielleicht auch die Quittung.
       
       ## Größer als der Fall Kummer
       
       Steffen Klusmann, der künftige Chefredakteur, erklärte am Mittwoch, dass
       noch unklar sei, ob der Betrug von Relotius personelle Konsequenzen haben
       wird. Ob also etwa die Ressortleiter, die Relotius eingestellt und gestützt
       haben, werden gehen müssen.
       
       Der Fall Relotius weckt Erinnerungen an Tom Kummer, den freien Reporter,
       der im Jahr 2000 damit aufflog, Interviews mit Hollywood-Promis gefälscht
       zu haben. Er veröffentlichte die zum Teil komplett erfundenen Gespräche im
       SZ-Magazin und im Magazin des Schweizer Tages-Anzeigers. Die damaligen
       Chefredakteure des SZ-Magazins mussten gehen, es wurde einer der größten
       Fälschungsskandale im deutschsprachigen Journalismus.
       
       Der Fall Relotius ist noch größer als der Fall Kummer. Kummer hat
       Promi-Gespräche gefälscht, er hat betrogen in einer Welt, in der die
       Fassade sowieso oft heller leuchtet als die Wahrheit. In der Glanz und
       Glamour oft mehr zählen als Tatsachen.
       
       Relotius hat Geschichten gefälscht, in denen es um Leben und Tod geht. Um
       Kriege, um Menschheitsverbrechen, um politisches Zeitgeschehen, um das
       Elend von Kindern. Er hat manipuliert, was wir über Kriege und Krisen
       wissen und denken, wie wir uns die oft elende Wirklichkeit vorstellen.
       
       Die Frage ist nun, was aus Relotius folgen wird. Der Spiegel setzt eine
       Kommission ein, die seine Texte durchleuchten soll und Strategien
       erarbeiten soll, die solche Fälle künftig verhindern können.
       
       Aber was passiert mit der Branche? Führt der Fall Relotius, wie es jetzt
       einige vermuten, wirklich zu mehr Demut im Journalismus? Zu weniger großen
       Reporter-Egos, zu weniger Journalistenpreisen, zu weniger Kischologie?
       
       Nach den Skandalen um Kummer, Voßkuhle und Seehofer änderte sich in der
       journalistischen Kultur wenig.
       
       Offenlegung: Von August bis September 2008 war Claas Relotius Praktikant
       der taz in Hamburg. Aus dieser Zeit finden sich im Archiv unter seinem
       Namen zehn Texte. Dazu kommt eine Buchbesprechung im Jahr 2011. Die
       Beiträge [10][werden geprüft].
       
       20 Dec 2018
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Faelschungsskandal-beim-Spiegel/!5560301
 (DIR) [2] http://www.journalistenpreise.de/
 (DIR) [3] http://www.spiegel.de/thema/football_leaks/
 (DIR) [4] /Henri-Nannen-Preis-aberkannt/!5121012
 (DIR) [5] https://uebermedien.de/26268/berliner-kultursenator-sieht-sich-von-spiegel-reporter-getaeuscht/
 (DIR) [6] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/wdr-sechs-frauen-erheben-belaestigungsvorwuerfe-gegen-filmchef-gebhard-henke-a-1206194.html
 (DIR) [7] /Der-Fall-des-Journalisten-Relotius/!5560718
 (DIR) [8] /Journalistisches-Ethos/!5087808
 (DIR) [9] http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-spiegel-legt-betrug-im-eigenen-haus-offen-a-1244579.html
 (DIR) [10] https://blogs.taz.de/hausblog/relotius/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anne Fromm
 (DIR) René Martens
       
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