# taz.de -- Gespräch mit Autor Tom Kummer: Was man liebt, ist unsichtbar
       
       > Eine Begegnung mit dem Autor Tom Kummer. Er erzählt von der Trauer über
       > den Tod seiner Frau, die ihn nicht loslässt.
       
 (IMG) Bild: „Ich bin kein Autor, der Lösungen anbietet“, sagt Tom Kummer
       
       Von einer heiteren Melancholie geprägt sei sein Buch, sagt Tom Kummer. Auch
       eben, als er mit der fast leeren U-Bahn zur taz fuhr, habe er diesen
       gespenstisch-melancholischen Zustand genossen. Beinahe so, wie er und seine
       Freunde früher die Schwermütigkeit lebten, die sie aus den Songs von Joy
       Division und The Cure heraushörten. Die Melancholie, selbst die Trauer kann
       man genießen, aber das Leid und den Schmerz nicht. Da muss Tom Kummer doch
       einmal schlucken.
       
       „Unsere Gesellschaft befiehlt uns fast: Ihr könnt trauern, aber danach
       müsst ihr auch wieder funktionieren. Trauernd ist man nicht mehr produktiv.
       Mein Ding ist, dass mir das völlig egal ist. Ich will so lange in diesem
       Zustand bleiben, wie ich denke, dass es okay ist.
       
       Und vielleicht spiele ich auch mit dem Gedanken: Wenn man so eine intensive
       Liebe, diese Intensität der Beziehung hatte über dreißig Jahre, fragt man
       sich, wieso soll ich noch weiterleben, wenn meine geliebte Frau nicht mehr
       da ist. Das klingt altmodisch, aber ich habe das so empfunden.“
       
       Als die Leipziger Buchmesse ausfiel, beschlossen wir, einige der Gespräche
       mit Autoren ins taz-Café zu verlegen. Dann aber wuchs sich die Krise weiter
       aus und auch diese Gespräche fanden bald ohne Publikum statt. Trotzdem
       reiste Tom Kummer aus der Schweiz an, [1][um über seinen Roman „Von
       schlechten Eltern“ zu sprechen] (Tropen Verlag, 244 Seiten, 22 Euro).
       
       ## Markantes Gesicht, Punkfrisur
       
       Ich schaute immer wieder aus dem Fenster, um ihn abzuholen, und erkannte
       ihn gleich an seinem markanten Gesicht, als er die Friedrichstraße
       herunterkam. Seine Punkfrisur, über den Ohren beinahe kahl rasiert, hatte
       er unter einer Schiebermütze versteckt.
       
       Man hat das Gefühl, dass Tom Kummer lieber zu wenig als zu viel über seine
       Doppelrolle als Autor und Protagonist erzählen mag. Hat er doch das Medium
       des Romans gewählt, um über seine Gefühle und Gedanken zu reflektieren. Wie
       im Vorgängerroman „Nina & Tom“ heißt auch in diesem die Hauptfigur so wie
       ihr Autor: Tom Kummer.
       
       „Von schlechten Eltern“ ist ein Buch über die Trauer, über den Verlust
       eines geliebten Menschen und über die Anwesenheit der Toten. Wenn Tom
       Kummer über den Tom Kummer seines Buchs spricht, sagt er meist „ich“. Und
       doch wird nicht erst beim Gespräch klar, dass er sich für dieses Buch
       einmal mehr selbst fiktionalisiert hat.
       
       ## Keine Lösungen im Angebot
       
       „Ich bin kein Autor, der Lösungen anbietet“, sagt er. „Es gibt gerade in
       der Schweiz noch diese Hoffnung, dass der Autor die Gesellschaft
       weiterführt in die Zukunft. Der Autor ist jemand, der predigerhaft Lösungen
       anbietet. Für mich ist Literatur Ästhetik. Ich will Bilder entwerfen,
       Stimmungen erzeugen und den Leser mitnehmen.“
       
       Das gelingt Kummer mit jedem Satz, auf jeder Seite und ist nie kitschig.
       „Von schlechten Eltern“ ist ein Roman, der die Leserin vom ersten Satz an
       hypnotisiert und in eine Welt entführt, in der die Grenze zwischen
       Wirklichkeit und Fantasie auch im Kopf des fiktiven Tom Kummer ständig
       durchbrochen wird.
       
       Kummer schreibt elegant und in der Tat heiter, weil er Humor hat und zu
       seinem Protagonisten ein entspanntes Verhältnis pflegt. Obwohl er, wie er
       in unserem Gespräch sagt, keine ironische Haltung zum Trauern einnehmen
       wollte, finden sich in seinem Roman immer wieder ironische Stellen.
       
       Wir begleiten ihn durch seine Fahrten durch die Schweiz. Kummer ist
       Chauffeur bei einem Limousinenfahrdienst, und weil er alleinerziehender
       Vater ist, fährt er nur nachts. „Mein Job ist einfach: Passagiere auf der
       schnellsten und sichersten Route von A nach B fahren. Keine Fragen
       stellen.“
       
       ## Apokalyptische Szenen in der Nacht
       
       Wenn Kummer durch die Nacht gleitet, sieht er manchmal apokalyptische
       Szenen. Als sei eine Seuche oder ein Krieg ausgebrochen. Als würden sich
       die Szenen, die wir aus den Medien kennen, nun im saturierten Europa, in
       der reichen Schweiz abspielen. Vielleicht sind es Tote, die ihm in der
       Nacht vor die Augen treten. „Nahe Kilchberg sehe ich Umrisse von Menschen
       im eisigen Seewasser. Nackte Oberkörper, rudernde Arme. Sie bewegen sich
       westwärts.“
       
       Auf der Windschutzscheibe seines Mercedes S 560 4MATIC, auf der ansonsten
       nur in Grün die Informationen des Bordsystems und die Autobahn zu sehen
       sind, erscheint ihm auch immer wieder Nina. „Langsam löst sich mein Blick
       von der Windschutzscheibe. Wie lange habe ich in den versunkenen Bereich
       gestarrt?“, heißt es danach.
       
       Der versunkene Bereich ist der Ort, an dem die Tote mit dem Lebenden
       Kontakt aufnimmt. Tom Kummer freut sich über die Verbundenheit mit ihr und
       hat zugleich Angst vor der Rache der Toten. Muss sie ihn nicht hassen
       dafür, dass er nicht bei ihr ist, dass er noch lebt? Das wiederum erregt
       seinen Zorn. „In meinem Hirn trommelt plötzlich eine Wut. Wieso hat die
       tote Nina diesen Einfluss auf uns?“
       
       ## „Nina & Tom“
       
       In seinem vor drei Jahren erschienenen Roman „Nina & Tom“ hat Kummer die
       Geschichte seiner Liebe zu Nina erzählt. Nina und Tom sind Kinder der
       Achtziger. Sie sind vereint in einem unerklärlichen Schmerz. Ihre zur Schau
       getragene Coolness, ihre Radikalität ist ein Panzer. Sie passen nicht in
       die Welt, sie passen zueinander, weil sie ihren Platz finden, wenn sie
       miteinander schlafen. Dass sie Eltern werden, sogar zwei Kinder haben, zu
       viert gemeinsam in Los Angeles leben, erscheint ihnen selbst am
       unwahrscheinlichsten.
       
       Der Titel „Von schlechten Eltern“ nimmt ein Motiv von „Nina & Tom“ auf.
       Nina und Tom zweifeln, ob sie, die so sind, wie sie eben sind, je gute
       Eltern sein können. Nun erinnert sich Tom Kummer an einen Satz seiner
       Mutter: „Mit so einer Frau solltest du dich besser nicht einlassen, sagte
       meine Mutter, als sie Nina zum ersten Mal begegnet war. Die verheißt nichts
       Gutes, Tom. Nichts Gutes.“
       
       Nach dem Tod seiner Frau zog Tom Kummer aus den USA in die Schweiz zurück,
       aus der er stammt und die er als junger Mann Richtung Westberlin verlassen
       hatte, bevor er sich in Kalifornien niederließ. Kummer war Punk, und eine
       seiner spektakulärsten Aktionen war ein Brandanschlag auf die Berliner
       Mauer.
       
       ## Gefakte Interviews mit Hollywoodstars
       
       Bekannt wurde er als Interviewer von Hollywoodgrößen, denen er
       interessantere Sätze in den Mund legte, als diese sich je hätten ausdenken
       können. Den Redakteuren gefielen diese Gespräche gut, den Lesern auch, bis
       die Sache aufflog.
       
       Einer seiner Söhne blieb in Los Angeles. Der andere kam mit seinem Vater in
       die Schweiz. Sie leben in Bern, in der Realität wie im Roman. Doch tragen
       die beiden Söhne im Roman, anders als der Vater, andere Namen, womit das
       Spannungsverhältnis zwischen Wirklichkeit und Literatur einmal mehr
       angedeutet ist.
       
       Kummers Passagiere sind unter anderen eine Managerin, ein Politiker, ein
       Arzt, eine Journalistin. Es sind vor allem Männer, seltener Frauen. Viele
       seiner Fahrgäste stammen aus Afrika. Es passiert nicht viel von dem, was
       man „Handlung“ nennt. Neben Trauer und Tod geht es um die sich wegen der
       Klimakrise verändernde Landschaft der Berge, um alte und neue
       Männerbilder, um die Lebenskrise von Männern jenseits der 50, um
       narzisstische Störungen, um die Nähe zu den Kindern und ihre Fähigkeit, als
       Menschen von morgen ihre Eltern an die Hand zu nehmen. Aber das sind am
       Ende allesamt Nebenschauplätze.
       
       ## Im Dialog mit den Fahrgästen
       
       Die Essenz dieses Texts steckt in den inneren Monologen des fahrenden
       Kummer und den Dialogen mit den Menschen, die hinter ihm im Wagen sitzen.
       Anlass der Gespräche ist das Foto von Nina und den Söhnen, das der
       Chauffeur am Armaturenbrett befestigt hat. Die Liebe zu seiner Frau hat der
       Tod nicht beendet. „Was man liebt, ist unsichtbar“, formuliert der Sohn
       einmal als These und Frage zugleich. Ja, antwortet der Vater.
       
       Gleich der erste Dialog mit einem Geschäftsmann aus Dakar macht deutlich,
       was die Fragen dieses Buchs sind: Wie gehen wir mit den Toten um? Welche
       Rolle spielen sie in unserem Leben? Welchen Platz weisen wir ihnen zu?
       Warum suchen sie uns heim? Das sind Fragen, die sich Menschen immer
       gestellt haben, die aber in einer christlichen Gesellschaft, die ihren
       Glauben verloren hat, vielen abwegig erscheinen mögen.
       
       „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod? Ich blicke in den Rückspiegel.
       Daran glaube ich nicht, Monsieur. Wieso glauben Sie nicht daran? Menschen
       sind biologische Maschinen. Wir funktionieren. Nach dem Tod verrotten wir.
       Das ist alles. Das glauben Sie? Ich lüge ihn an. Ich lüge sie alle an.“
       Denn insgeheim sympathisiert Chauffeur Kummer mit den Afrikanern, die in
       seinem Wagen sitzen und an die Präsenz der Toten glauben. „Natürlich kennt
       der Senegalese die Wahrheit: Die Toten kehren zurück. Sie kontrollieren
       dein Leben.“
       
       Am Ende dieses glitzernden Romans ist man versucht, eine These
       aufzustellen: Eine Gesellschaft, die keinen Platz für die Toten hat, hat
       auch keinen für die Lebenden. Und man fühlt sich wie ein Psychoanalytiker,
       der nicht danach fragt, was Tom Kummer über sich erzählt, sondern was sein
       Familienroman nicht erzählt.
       
       27 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.facebook.com/taz.kommune/videos/637547707070537
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ulrich Gutmair
       
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