# taz.de -- Essay Diskussion um Integration: Linke in der Diskursfalle
       
       > Viele Linke scheuen die Debatte über Probleme mit der Integration. Sie
       > schaden damit der Demokratie und dem Kampf gegen Rechtsextremismus.
       
 (IMG) Bild: Nazi oder Heiliger? Dazwischen gibt es Abstufungen
       
       Opfer und Täter, moralisch und unmoralisch, christlich und nichtchristlich,
       gut und böse – entlang dieser Dichotomie verläuft die aktuelle Debatte über
       Rechtsruck, Migration und Integration. Die Emotionen kochen hoch, Vernunft
       steht im Abseits. Die polarisierten Positionen entwerfen entweder ein Land,
       das kurz vor der Übernahme durch Muslime steht, die per se als böse
       anzusehen seien.
       
       Oder eines, das sich kurz vor dem Versinken in den braunen Schlamm der
       Vergangenheit befindet. Beide Positionen sind falsch bis absurd. Und sie
       sind nicht produktiv. Wo ist die demokratische Streitkultur, die
       differenzierte, die ergebnisorientierte Debatte geblieben?
       
       Der polarisierte Streit tappt in eine Falle. Die einen wollen beweisen,
       dass sie aus der Geschichte gelernt haben, dass sie definitiv keine
       Rassisten sind, keine Nazis mehr und moralisch auf der richtigen Seite. Sie
       wollen sich reinwaschen von der NS-Vergangenheit, die fast alle deutschen
       Familien belastet.
       
       Ihre Botschaft: Stünden wir heute vor den gleichen Entscheidungen wie
       unsere Vorfahren – mitmachen, wegducken oder Widerstand leisten –, würden
       wir uns für die richtige Option entscheiden, quasi als „Deutsche 2.0“. Die
       anderen wiederum wollen so tun, als hätte es die Vergangenheit nicht
       gegeben oder als wäre sie nicht so schlimm gewesen, [1][„nur ein
       Vogelschiss“].
       
       ## Die Diskursfalle schnappt zu
       
       [2][In Chemnitz ist Schreckliches passiert.] Zuerst die Tötung eines
       Menschen, mutmaßlich durch Asylbewerber. Und danach haben sich rechte
       Kräfte solidarisiert, sie sind mit offenem Visier marschiert, ungehemmt:
       AfD, Pegida und andere rechtsradikale Gruppen im Schulterschluss. Da waren
       sie nicht nur virtuell im Netz aktiv, sondern analog und real, lautstark
       und zu Tausenden. Zum Glück hatten viele den Impuls, sich dagegenzustellen!
       
       Doch zugleich schnappt hier schnell die Diskursfalle zu. Zweifellos ist es
       richtig, sich schützend vor die Ziele rechter Angriffe zu stellen: vor
       Asylbewerber, Migranten, Muslime. Unschuldige müssen mit allen Mitteln
       verteidigt werden, auch und gerade von der Zivilgesellschaft. Doch
       Demokraten sollten auch nicht blind, taub und stumm sein im Angesicht
       veritabler Herausforderungen, Konflikte und Probleme, die mit Einwanderung
       und Integration einhergehen – und die ja keineswegs neu sind.
       
       Muslim zu sein, Flüchtling zu sein ist weder irgendein Makel noch ein Grund
       dafür, besonders unter Schutz gestellt und von rechtlichen Regelungen
       ausgenommen zu werden.
       
       Die Communitys der Muslime in Deutschland und Europa bestehen aus vielen
       Gruppen und Untergruppen, moderaten, extremen religiösen Strömungen oder
       auch areligiösen und agnostischen Gruppen. Dort, wo religiöser Fanatismus
       existiert und sich seit Jahren ausbreitet, sind diese Gruppen nicht
       freundlich, friedlich und kompatibel mit der Demokratie.
       
       ## Demokratie muss hellwach sein
       
       Daran ändert leider das Ausblenden der Fakten gar nichts – und erst recht
       nicht das Hetzen der Rechtsextremen, das Fundamentalismus nur bestärkt.
       Diesen Tatsachen muss eine demokratische Gesellschaft hellwach begegnen.
       
       Dabei sollte uns klar sein, dass es kein Zeichen von gelungener Integration
       ist, wenn Frauen dafür kämpfen, auch [3][mit Kopftuch] als Lehrerin,
       Richterin oder Polizistin arbeiten zu dürfen. Für die Neutralität unseres
       Staates zu sein ist nicht islamfeindlich, nicht rechts, sondern
       demokratisch legitim.
       
       Ebenso ist es absolut in Ordnung, die Flüchtlingspolitik der aktuellen
       Regierung, die Nichtabschiebung Ausreisepflichtiger zu kritisieren oder für
       stärkere rechtsstaatliche Konsequenz einzustehen – sachlich und
       differenziert. Damit stellt man sich nicht automatisch auf eine Ebene mit
       AfD und Pegida. Auch auf die Bringschuld der Migranten bei der Integration
       zu pochen ist nicht rassistisch, sondern realistisch.
       
       Es ist für Demokratien wichtig – sogar überlebenswichtig! –, sich so direkt
       wie irgend möglich gegen Rechtsextremismus zu positionieren. Doch das darf
       nicht bedeuten, sich in Relativierungen zu verlieren. Besonders jene, die
       sich in der Mitte der Gesellschaft sozialdemokratisch bis links einordnen,
       tun sich allerdings schwer, sich mit der zum Schutz der Demokratie
       gebotenen Deutlichkeit ganz genauso gegen Islamismus und gewalttätige,
       patriarchale Strukturen zu positionieren wie gegen Rechtsextremismus.
       
       ## Das Grundgesetz gilt für alle
       
       Nein, ein verschleiertes Kind in der Grundschule ist nie und nirgends
       Ausdruck von Emanzipation oder Religionsfreiheit. Ja, die Schulpflicht
       enthält auch Sexualkunde und Schwimmunterricht für Mädchen wie Jungen. Und
       ja, körperliche Gewalt in der Erziehung ist verboten, genau wie Gewalt
       gegen Ehefrauen.
       
       Nein, das Unterbinden der persönlichen und sexuellen Selbstentfaltung ist
       keine schützenswerte kulturelle Eigenheit, sondern widerspricht unserem
       Grundgesetz. Antisemitismus ist keine hinzunehmende „orientalische
       Folklore“, die mit Nahostpolitik zu entschuldigen ist, sondern eine
       gefährliche, menschenfeindliche Haltung.
       
       Das Grundgesetz gilt für alle – für Muslime ebenso wie für Neonazis.
       „Verständnis“ für Antisemitismus sollte es weder im Fall der einen noch im
       Fall der anderen geben. Oder wollen Linke wirklich in Kauf nehmen, dass
       Juden von Muslimen attackiert, kleine Mädchen durch Kopftücher
       sexualisiert und Islamkritiker bedroht werden, nur um rechte Kritik
       „nicht zu bedienen“? Das wäre ein fataler Kollateralschaden, ein Opfer auf
       dem Altar falsch aufgefasster „Korrektheit“.
       
       Sollen Alice Weidel und Alexander Gauland uns diktieren, dass wir Frauen
       und Kinder nicht vom Grundgesetz schützen lassen? Das wäre reine Idiotie.
       Denn weder der AfD noch Pegida geht es jemals um das Kindeswohl und die
       Menschenrechte der Mitglieder muslimischer Communitys. Aber dem
       demokratischen Teil der Gesellschaft muss es darum gehen. Immer. Egal ob
       Kinder oder Frauen oder Männer arabischer, deutscher, russischer oder
       türkischer Herkunft sind.
       
       ## Es geht darum, das Richtige zu tun
       
       Es kommt darauf an, die Augen nicht zu verschließen vor dem, was real in
       Familien und Gemeinschaften vor sich geht. Es geht hier nicht um das schöne
       Gefühl, zu den Guten zu gehören, sondern darum, das Richtige zu tun.
       
       Mich schaudert es, wenn ich höre, wie Nachbarinnen und Nachbarn,
       Helferinnen und Helfer Formulierungen verwenden wie „mein syrischer
       Flüchtling“ oder „mein Türke aus dem Dönerladen“. Sie machen sich nicht
       bewusst, wie sie hier jegliche Begegnung auf Augenhöhe ausschließen und wie
       wenig echte Gleichberechtigung solche Bezeichnungen beinhalten.
       
       Übrigens sind es oft diese Art von „Guten“, die es eben noch hip fanden,
       mitten im Multikulti zu leben, aber ganz schnell nach Berlin-Zehlendorf
       oder -Prenzlauer Berg umziehen, damit ihre Charlotte oder ihr Leonhard
       nicht mit lauter Fatimas oder Hassans in Kita oder Grundschule gehen muss.
       Sie beobachten Integration aus sicherer Entfernung ihrer Filterblase
       heraus.
       
       Die Folgen solcher Haltungen sind destruktiv. Wo immer innerhalb der
       deutschen muslimischen Community Stimmen in Richtung Liberalisierung,
       Aufklärung und Demokratisierung ertönen, werden sie als „muslimfeindlich“
       oder sogar „rassistisch“ denunziert. Ob es sich um Seyran Ateş handelt oder
       auch um mich, wir gelten unter Linken als verdächtig, als Renegaten – wir
       werden gleichermaßen von links angefeindet wie von der islamistischen
       Seite. Darf es wirklich sein, dass ein Mob wie in Chemnitz das noch
       verschärft?
       
       ## Moralapostel zu sein ist leicht
       
       Dabei ist die Debatte in der Zivilgesellschaft die Essenz von Demokratie
       und der wichtigste Schutzmechanismus vor Extremismus und Faschismus. Wird
       aber geschwiegen aus Furcht, „uncool“ oder nicht links genug zu wirken,
       schadet genau das dem Kampf gegen rechts. So spielen wir AfD, Pegida und
       anderen Nazigruppen in die Hände.
       
       Es ist leicht, Moralapostel und Realitätsverweigerer zu sein. Man muss nur
       die Augen schließen und wie ein Mantra den Zusammenhang leugnen zwischen
       islamistischer Radikalisierung, fundamentalistischen Islamverständnissen
       und einem patriarchalischen Rollenverständnis, das Gewalt gegen Frauen und
       Kinder für legitim hält.
       
       „Die Muslime“ oder „die Flüchtlinge“ werden behandelt wie bedrohte
       Tierarten, die vor Assimilation und Rechten beschützt werden müssen. Doch
       Migranten brauchen keinen „Artenschutz“, sondern Menschenrechte. Für uns
       gilt Artikel 1 des Grundgesetzes genauso wie für alle anderen auch.
       
       Rassistisch und in besonderem Maß unverschämt gegenüber Zugewanderten ist
       es daher, wenn deutsche Linke in der Meinungsfreiheit, im Recht auf
       sexuelle Selbstbestimmung oder in der Gleichberechtigung von Mann und Frau
       offenbar „weiße“ Werte sehen, die zu stärken einem Kulturkolonialismus
       gleichkäme.
       
       ## Zwei verschiedene Republiken
       
       Die Debatte ist so emotional, so wütend geworden, dass man beinahe das
       Gefühl bekommt, zwei verschiedene Republiken hätten sich gebildet, deren
       Narrative, Denk- und Handlungsweisen miteinander wenig zu tun haben. Und
       dazwischen steht eine verunsicherte Mitte.
       
       Um Rechtsradikalismus zu bekämpfen und um der Jahrhundertaufgabe
       Integration zu begegnen, braucht die Gesellschaft die Courage für eine
       offene Streitkultur jenseits grob geschnitzter Kategorien von „gut“ und
       „böse“. Was uns fehlt, ist eine Debatte jenseits von falscher Toleranz auf
       der einen Seite und Panikmache auf der anderen.
       
       22 Sep 2018
       
       ## LINKS
       
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