# taz.de -- Herbstausstellung in Hannover: Die Heilige Anna in Alditüten
       
       > Fingierte Künstlerbiografien, Annenkult und Konzeptionelles: Der
       > Kunstverein Hannover zeigt in seiner Herbstausstellung die Vielfalt der
       > Kunstszene in Niedersachsen und Bremen
       
 (IMG) Bild: Von poetisch bis laut und aktivistisch: Installationsansicht im Kunstverein Hannover.
       
       Es ist wieder Herbstausstellung in Hannover, die Leistungsschau
       niedersächsischer und bremischer Kunstproduktion. Zum 88. Mal findet diese
       seit 1907 gepflegte Traditionsveranstaltung statt. Aus dem ursprünglich
       jährlichen Turnus ist ab 1990 ein nicht ganz stringenter Zweijahresrhythmus
       geworden. Nun wurde wieder ein dreijähriges Intermezzo eingelegt, denn 2017
       fand mit [1][„Made in Germany Drei“], der kleinen Gegendocumenta zur
       Kasseler Großkunstschau, erneut ein kollektiver Kraftakt in Hannover statt,
       der auch den Kunstverein, Organisator der Herbstausstellung, gefordert
       hatte.
       
       Während frühere Herbstausstellungen durchaus eine Sinnkrise nach der
       Aussagekraft ihres Querschnittformates umtrieb, scheint derzeit niemand an
       Profil oder Notwendigkeit zu zweifeln. Im Gegenteil: Es scheint zum guten
       Ton auch unter gesetzteren Künstler*innen zu gehören, sich regelmäßig um
       eine Teilnahme zu bewerben. So gab es dieses Mal 475 Aspirant*innen, die in
       den beiden Bundesländern leben und arbeiten oder dort geboren sind, so die
       Zulassungskriterien. 53 von ihnen wurden schließlich ausgewählt.
       
       ## Diskutiert wird immer
       
       Der älteste, Hans Karl, ist 1935 geboren, der jüngste, Tarik Kentouche,
       1994. Einige, wie das Hannoveraner Duo Lotte Lindner & Till Steinbrenner
       oder die Fotokünstler*innen Petra Kaltenmorgen und Samuel Henne, sind neu,
       Altmeister Timm Ulrichs sowie seine Kollegin Christiane Möbus gefühlt immer
       dabei. Gleichwohl wird nach jeder Auswahl die Entscheidung der stets
       wechselnden Jury von allen Bewerber*innen heftig diskutiert, weiß
       Kunstvereinsdirektorin Kathleen Rahn.
       
       Im Treppenhaus des Kunstvereins geht es los. Man sollte also aufpassen,
       beim Hereinschlendern nicht die ersten Arbeiten zu ignorieren, etwa die „4
       Fallrohre“ von Heiko Wommelsdorf. Er hat, unüberhörbar, die Braunschweiger
       Klangkunstklasse bei Ulrich Eller absolviert. Die Regenrohre, die aus dem
       baukonstruktiven Programm der Dachentwässerung entlang der Außenfassade
       stammen, sind im Innenraum nun assoziativer Ausgangspunkt für eine
       akustische Kulisse tropfenden Wassers.
       
       ## Großzügig durch alle Gattungen
       
       In den Sälen des Kunstvereins erwartet einen dann ein großzügig
       arrangierter Parcours quer durch alle Gattungen und Medien. Da ist gleich
       zu Beginn eine konzeptionelle Arbeit von Rolf Bier, Ex-Braunschweig-Student
       und Professor an der Akademie in Stuttgart. Er zeigt eine blaue und eine
       rote Kiste, beide sind wie Spielwürfel mit Punkten bemalt.
       
       Sie gehörten in Kindestagen seinen Brüdern, in ihnen sollte der tägliche
       Krimskrams verstaut werden. Eine gelbe, die dritte Primärfarbe, aber fehlt.
       Sie soll Rolf Bier selbst gehört habe, dem dritten Geschwisterpart – aber
       wo ist sie geblieben, hat sie je existiert? Eine erhöhte Sensibilität für
       die Farbe Gelb jedenfalls habe sie beim Künstler ausgelöst, stellt er
       selbst fest.
       
       Ein theoretisches Konzept verfolgt auch Dirk Dietrich Hennig aus Hannover.
       Er hat schon mal eine vollständige Künstlerbiografie erfunden, die des
       belgischen Fluxus-Grenzgängers Jean Guillaume Ferrée. Hennig
       „rekonstruierte“ jenen Klinik-Pavillon, in dem der exzentrische Künstler
       immer wieder Lebensphasen verbrachte, und die mediale Rezeptionsgeschichte
       mittels fingierter Zeitungscover.
       
       ## Kunstgeschichte wird „gemacht“
       
       In einem großen Tableau zeigt er nun Artefakte und Dokumente weiterer
       fiktiver Künstler, um so aufzuzeigen, wie Kunstgeschichte „gemacht“ wird.
       Bis Jahresende ist Hennigs auch im Sprengelmuseum im Rahmen der kritischen
       Sammlungsinspektion „Fake News“ vertreten. Dort sind es drei kongeniale
       Werke des von ihm erfundenen Kurt-Schwitters-Fälschers C. G. Rudolf
       (1912–2012): hingehen!
       
       Eine auf den ersten Blick spielerische Arbeit steuert der in Hannover
       lebende Spanier Enric Fort Ballester bei, auch er Braunschweig-Absolvent.
       Eine aufgehängte Apparatur sortiert 1- oder 2-Cent-Kupfermünzen nach dem
       Grad ihrer Verschmutzung. Dafür werden sie digital erfasst, der Grauwert
       ihrer Patina wird errechnet und bestimmt den Ausgabeschacht. Ursprünglich
       hatte er die Aktion als Performance aufgeführt, die Münzen per Hand
       sortiert, sagt der Künstler. Aber die mechanische Sortierung ist vielleicht
       die passendere Parabel für den virtuellen Geldfluss moderner Ökonomien, von
       Realwirtschaft und Landeswährung entkoppelt, gepaart mit einer
       Geringschätzung des Kleingeldes.
       
       Integriert in den Rundgang sind auch Arbeiten der neuen Stipendiaten und
       des diesjährigen Preisträgers, Dieter Froelich. Bekannt durch seine
       künstlerische Auseinandersetzung mit Nahrungsmitteln, dem Zubereiten und
       gemeinsamen Verzehr als sozialem, auch rituellem Akt, hat Froelich in der
       sonst dem Publikum vorenthaltenen Bibliothek des Hauses seine Schriften und
       Textarbeiten installiert. Aber auch Bereiche des Mystischen, Spirituellen
       und Religiösen bewegt er.
       
       So hat er etwa eine kleine Reihe von „Annenkleidern“ geschaffen. Die
       Heilige Anna, Magna Mater und Mutter der Maria, wurde besonders in
       vorreformatorischen Zeiten verehrt. Zu Ehrentagen wurden Skulpturen der
       Mutter-Kind-Gruppe festlich eingekleidet. Froelich ersann nun politisch
       nicht ganz korrekte, modern konnotierte Varianten, etwa das formal
       reduzierte Aldi-Tüten-Gewand oder eine blaue Burka mit den notwendigen zwei
       Sichtfeldern.
       
       ## Alte und neue Orte
       
       Weiter geht es im Hof, hier sind illusionistische Figuren von Patricia
       Lambertus platziert, und rüber zum Verwaltungsgebäude der Haus- und
       Grundeigentümer-Lobby. Das bescheidene 50er-Jahre-Treppenhaus hat Anja
       Gerecke in einen geschossübergreifenden Farbklang verwandelt. Dieser
       Austragungsort ist neu im Programm, ebenso ein Apartmenthotel in der
       Innenstadt.
       
       Wie immer sind dabei: die Städtische Galerie Kubus und die Galerie „Vom
       Zufall und vom Glück“. Hier prangt etwa das große „Hochzeitsfoto“ von
       Christian Retschlag im Schaufenster. Antiquierte Bildmanier und moderne
       Reproduktionstechnik spielen mit Authentizität und Wahrheitsgehalt der
       Fotografie.
       
       Von poetisch bis laut und aktivistisch reiche der diesjährige Querschnitt,
       sagt Kathleen Rahn, vom Einzelkämpfer bis zum künstlerischen Kollektiv.
       Eindrucksvoller Nachweis norddeutscher Kreativität, zweifelsohne,
       wenngleich nicht alles zum Nachdenken auffordert, einen produktiv
       „verstört“.
       
       18 Aug 2018
       
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 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
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