# taz.de -- Welle großer alter Künstlerinnen: Die Kunst muss mehr Risiken wagen
       
       > Erst Geheimdienstanalystin, dann Pionierin schwarzer feministischer
       > Kunst: Lorraine O’Grady stellt in der Städtischen Galerie Wolfsburg aus.
       
 (IMG) Bild: Um sie geht es in Wolfsburg: Lorraine O'Grady
       
       Fast scheint es, als hätten sich drei niedersächsische Kunsthäuser
       verabredet, zum Jahresende den Akzent auf unbekannte, besser: verkannte
       weibliche Protagonistinnen fortgeschrittenen Alters zu legen. In Hannover
       zeigt das Sprengel Museum in Kooperation mit der Wiener Albertina noch bis
       in den Januar hinein das vielfältige und vor allem zeichnerisch
       umfangreiche Werk der Österreicherin Florentina Pakosta.
       
       In ihren Charakterköpfen etwa analysiert sie physiognomische Zustandsbilder
       des männlichen Überlegenheitsanspruchs. Und noch bis Februar widmet sich
       die hannoversche Kestner Gesellschaft zusammen mit dem Zürcher Migros
       Museum der Peruanerin Teresa Burga.
       
       Sie transformiert vermeintlich objektive Daten, wie die Vermessung der
       peruanischen Frau, was Bildung, Wahlverhalten, Körperproportionen und
       Arbeitsverhältnisse angeht, zu anspielungsreichen Objekten innerhalb großer
       Installationen. Für beide Künstlerinnen ist es die erste institutionelle
       Einzelausstellung in Deutschland überhaupt, für Teresa Burga war es zuvor
       die erste in der Schweiz – und das in der Mitte ihres neunten
       Lebensjahrzehnts.
       
       ## Die erste Einzelausstellung außerhalb der USA
       
       Nun folgt in der Städtischen Galerie Wolfsburg die kleine
       Kabinettausstellung einer weiteren Grande Dame der Kunstwelt, der
       US-Amerikanerin Lorraine O’Grady. Dieses Zusammentreffen ist aber Zufall,
       betont Susanne Pfleger, Leiterin in Wolfsburg. Anlass war für sie die
       Tatsache, dass in die kommende Neuaufstellung der Sammlung mit dem
       Schwerpunkt internationale Konzeptkunst eine neue Edition O’Gradys einfach
       bestens passt. Auch ihre Ausstellung ist, obwohl sie keine Retrospektive
       zeigt, sondern nur einen Einzelaspekt, die erste personale der mittlerweile
       84 Jahre alten Künstlerin in einem Museum außerhalb der USA.
       
       In den nun gezeigten 15 Haiku-Diptychen ihrer 2017 verfassten Textcollagen
       (die ganze Reihe umfasst 26 Doppelbilder) lässt sich das eigenwillig
       komplexe und multimediale Werk Lorraine O’Gradys natürlich allenfalls
       erahnen. Wie der Titel „Cutting Out CONYT“ jedoch erzählt, sind sie die
       Reprise einer früh begonnenen Auseinandersetzung mit Sprache und Medien,
       nämlich der Arbeit „Cutting Out the New York Times (CONYT)“ von 1977. Und
       somit der Zirkelschluss eines nicht nur künstlerischen Lebenswerkes.
       
       O’Grady wuchs als Kind karibischer Einwanderer in Boston auf und genoss
       eine Eliteausbildung an einer renommierten Privathochschule für Frauen. In
       den 1960er Jahren war sie fünf Jahre lang Geheimdienstanalystin im
       US-Außenministerium. Zu ihrem täglichen Pensum während der Kubakrise zählte
       die Lektüre von mehr als zehn Tageszeitungen, dazu kamen Agentenberichte
       und die Transkripte dreier kubanischer Radioprogramme.
       
       ## Kritikerin für Rockmusik
       
       In dieser Zeit erodierte für sie die Sprache, wurde ein unpersönliches,
       öffentliches System. Um sich ihre individuelle Diktion zurückzuerobern,
       kündigte sie, zog nach New York, wo sie als Übersetzerin sowie Kritikerin
       im Bereich der Rockmusik arbeitete.
       
       Sie entdeckte die Konzeptkunst für sich, deren Ideen und Techniken sie als
       schon lange in sich schlummernd empfand. 1977, genauer: zwischen dem 5.
       Juni und dem 20. November, schnitt sie aus den Sonntagsausgaben der New
       York Times Überschriften und Textpartikel aus und erstellte daraus
       lakonische kleine Gedichte.
       
       „Cutting Out the New York Times (CONYT)“ wurde eine ihrer ersten
       künstlerischen Arbeiten, mit der sie gleich noch ein Prinzip
       surrealistischen Sprachhandelns umdrehte: nicht mehr der Zufall lenkte den
       Prozess, sondern eine neue, subjektive Kontrolle über das per Zufall
       akquirierte Material diente dessen neuer Sinnstiftung.
       
       ## Die erneute Literarisierung ihres Werks
       
       Die korrigierende Wiederaufnahme nach 40 Jahren führte zur Reduktion und
       Pointierung des damals ausgeuferten Werks, das O’Grady als Schreibende
       begann und als bildende Künstlerin beendete, wie sie sagt. Wenn man so
       will, erfolgte jetzt die Reliterarisierung in eine offene Textform ähnlich
       des japanischen Haiku, die erst vom Leser assoziativ vervollständigt werden
       will.
       
       In der New Yorker Kunstwelt der 1970er Jahre lernte O’Grady, die sich bis
       dahin immer professioneller Anerkennung sicher war, die Marginalisierung
       schwarzer und weiblicher Positionen kennen. Daraus entwickelte sie Formen
       einer interventionistischen Kritik an der gesellschaftlichen Rolle der
       Kunst, die willfährig den Mainstream einer weißen Mittelstandsästhetik
       bediente. Als ihr Alter Ego schuf O’Grady nun die Figur „Mlle Bourgeoise
       Noire“, die schwarze Mittelstandsfrau, das Gewissen jeder schwarzen
       Künstlerin.
       
       Ab 1980 fuhr sie auf einschlägigen Vernissagen in der schwarzen Limousine
       vor, das Kleid, das sie trug, war aus den weißen Handschuhen schwarzer
       Dienstboten genäht. Nach friedfertigem Akklimatisieren mit Blumengaben
       legte sie mit ihrer Schrei-Performance los, geißelte sich mit einer weißen
       Peitsche, wie sie die Plantagenbesitzer einst gegen die Sklaven einsetzten.
       Ihre Entrüstung galt dem Stiefellecken, Arschkriechen und
       „super-ass…imilates“ schwarzer Kunst und Künstler*innen und endete mit dem
       Imperativ „black art must take more risks!“.
       
       Diesen Aktionismus hielt sie drei Jahre durch, er begründete ihren Ruf als
       Pionierin feministischer schwarzer Kunst. Gut, wenn in Zeiten der
       politischen, ethnischen oder sonstig moralisierenden Sittenwächtern
       geopferten Kunstfreiheit einmal neuerlich an die Selbstermächtigungskraft
       der Kunst appelliert wird.
       
       15 Jan 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bettina Maria Brosowsky
       
       ## TAGS
       
 (DIR) zeitgenössische Kunst
 (DIR) Lorraine O'Grady
 (DIR) Konzeptkunst
 (DIR) Frauenkampftag
 (DIR) Kunst
 (DIR) Fotogeschichte
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Zum Tod der Künstlerin Teresa Burga: Vom Pop zum Konzept
       
       Die peruanische Künstlerin Teresa Burga ist gestorben. In ihrem Werk nahm
       sie die Dekolonisierung der Kunst vorweg.
       
 (DIR) Künstlerinnen stellen in Leipzig aus: Verpuffte Frauenpower
       
       Die Ausstellung des MalerinnenNetzWerks Berlin-Leipzig zeigt 28
       Künstlerinnen. Allerdings verzichtet das Museum auf ein diskursives
       Programm.
       
 (DIR) Herbstausstellung in Hannover: Die Heilige Anna in Alditüten
       
       Fingierte Künstlerbiografien, Annenkult und Konzeptionelles: Der
       Kunstverein Hannover zeigt in seiner Herbstausstellung die Vielfalt der
       Kunstszene in Niedersachsen und Bremen
       
 (DIR) Ausstellung Dokumentarfotografie: Verantwortungsvolle Fotos
       
       Das Museum für Photographie in Braunschweig zeigt preisgekrönte
       Dokumentar-Fotografie, die das Genre sehr weitläufig auslegt.