# taz.de -- Ein Jahr nach dem G-20 Gipfel in Hamburg: Der Schock sitzt
       
       > Bei der G20-Aufarbeitung stehen sich zwei Wahrheiten gegenüber: Der Senat
       > sieht einen Erfolg, die Gipfel-Gegner die Demokratie suspendiert.
       
 (IMG) Bild: Die Staatsmacht setzt sich durch: Polizeieinsatz bei G 20
       
       Hamburg taz | Der G20-Gipfel war ein Erfolg. In der Hamburger Innenstadt
       haben 30.000 PolizistInnen aus ganz Deutschland unter enormem Einsatz die
       Sicherheit der Gipfelteilnehmer garantiert. Es gab weder Terror noch Tote.
       Zwar hat das Ausmaß an Gewaltbereitschaft der internationalen linken Szene
       überrascht, wie auch deren Gerissenheit, wenn Vermummte sich in Windeseile
       wenige Meter von den Gefahrenpunkten umzogen und sich in scheinbar
       harmlose, bunt gekleidete Passant*innen verwandelten.
       
       Olaf Scholz sagte nach dem Gipfel, er wünsche sich harte Strafen, und die
       hat er bekommen. Die politisch Verantwortlichen haben bewiesen, dass ein
       politisches Großereignis in einer europäischen Metropole, auch mit starker
       linker Szene, durchführbar ist. „Ich würde es wieder tun“, hat Scholz
       jüngst erneut im G20-Sonderausschuss gesagt.
       
       Man würde heute anders darüber reden, sagte Innensenator Andy Grote (SPD)
       und wohl zu vorsichtigeren Einschätzungen kommen. Eine kleine gewaltbereite
       Minderheit dürfe den Staat aber nicht erpressen und entscheiden, wo
       Veranstaltungen stattfinden.
       
       Das ist die eine Erzählung, die es über die Gipfeltage gibt. Es ist die
       Version des Senats, allen voran der Innenbehörde, und die der
       Polizeiführung. Schwere Fehler sind demnach nicht passiert, Polizeigewalt
       hat es höchstens vereinzelt – oder „gar nicht“ gegeben, wie Scholz direkt
       nach dem Gipfel behauptete.
       
       ## Die andere Sicht
       
       Ganz anders hört es sich an, wenn Aktivist*innen, Bürgerrechtler*innen,
       linke Anwält*innen aber viele der Bürger*innen aus den betroffenen,
       alternativen Stadtteilen über das G20-Treffen sprechen. Für sie war der
       Gipfel ein Desaster: Die Demokratie wurde schon vor dem Gipfel suspendiert,
       als die Polizei eine 38 Quadratkilometer große Demoverbotszone einrichtete.
       
       Die Tage selbst waren ein einziger Ausnahmezustand, von dem viele
       Hamburger*innen noch immer traumatisiert sind. Auf der Straße
       Polizeitruppen, am Himmel Hubschrauber. Tag und Nacht. Die Schulen und
       Kitas im Zentrum: geschlossen, Schwimmbäder, Sparkassen und Supermärkte:
       verrammelt. Zeltlager, die das Gericht genehmigt hatte, verhinderte die
       Polizei. Sie missachtete das Recht, betrachtete auch friedlichen Protest
       als Störung, machte aber wenig Gefangene, sondern prügelte auf
       Blockierer*innen ein.
       
       Bis heute, ein Jahr nach dem Ereignis, stehen sich diese beiden Erzählungen
       immer noch diametral gegenüber. Versuche, beide Sichtweisen in ein
       Gesamtbild zu bringen, gibt es wenig. Die Vertreter*innen beider Seiten
       begegnen sich höchstens vor Gericht.
       
       61 G20-Gegner*innen wurden bisher verurteilt. Das Strafmaß reicht von
       Geldstrafen und geringen Bewährungsstrafen bis zu Haftstrafen von drei
       Jahren und drei Monaten. Der Hamburger Rechtsanwalt Matthias Wisbar vom
       Republikanischen Anwaltsverein spricht auf der Pressekonferenz der
       G20-Gegner zum ersten Jahrestag von „Feindstrafrecht“: Ein Begriff des
       Strafrechtlers Günther Jakob, wonach bestimmte Gruppen zu Feinden des
       Staates erklärt werden und ihnen die Bürgerrechte versagt werden.
       
       ## Rechtswidrig weggesperrt
       
       Ein paar Niederlagen musste die Staatsanwaltschaft vor Gericht allerdings
       einstecken. Anfang Juni gewann ein italienischer G20-Gegner gegen die
       Stadt, der zusammen mit sieben anderen in Gewahrsam genommen worden war –
       nur aufgrund ihres „südländischen Aussehens“. Es sei „schweres Unrecht“
       geschehen, sagte der Richter, „das Einzige, was an diesem ganzen Prozedere
       rechtmäßig war, war die Freilassung.“
       
       Das war kein Einzelfall. Mitte Juli erklärte das Gericht in einer
       Überprüfung mehrere Ingewahrsamnahmen für rechtswidrig, da sie zu lange
       gedauert hatten. Bis zu 40 Stunden mussten einige G20-Gefangene in den
       winzigen Stellen der Sammelstelle verbringen, ohne Matratzen, ohne warme
       Mahlzeiten und ohne Schlaf.
       
       Doch die juristische Aufarbeitung ist noch lang nicht beendet. Laut
       Staatsanwaltschaft laufen aktuell noch 687 Ermittlungsverfahren gegen
       insgesamt 854 Beschuldigte sowie weitere 1.319 Verfahren gegen Unbekannte.
       
       Die eine Materialschlacht folgte auf die andere. Knapp 100 Terabyte
       auszuwertendes Videomaterial, europäische Haftbefehle, Razzien in Spanien,
       Italien, Frankreich und der Schweiz, zwei internationale
       Öffentlichkeitsfahndungen. Schnappschüsse von 208 Gesuchten werden
       verbreitet. Bislang sind damit 54 Verdächtige identifiziert worden –
       deutlich mehr als üblich.
       
       ## „Eine klare Botschaft“
       
       Dass es vor allem um Abschreckung geht, daraus macht Innensenator Grote
       keinen Hehl. Man habe „einen neuen Standard der Strafverfolgung etabliert“,
       erklärte er. Täter, die nicht direkt bei Ausschreitungen festgenommen
       wurden, hätten bislang nicht viel zu befürchten gehabt – das sei nun
       anders. Das sei eine „klare Botschaft“ an die gewaltbereite Szene: „Wenn
       ihr das unbedingt machen wollt, macht lieber einen Bogen um Hamburg.“
       
       Eine konsequente Strafverfolgung, wie sie Grote beschwört, vermisst das
       linke Lager auch – es meint aber die Übergriffe durch Polizist*innen: Bis
       heute gab es keine einzige Anklage gegen eine*n Polizist*in. In elf Fällen
       aber, sagte Grote, seien die Strafverfahren eingestellt worden, weil die
       Polizist*innen nicht zu identifizieren gewesen seien.
       
       Deshalb will er nun die Kennzeichnungspflicht einführen. „Wir nehmen wahr,
       dass von einer Polizei in der Mitte der Gesellschaft erwartet wird, dass
       sie erkennbar ist.“ Grote betont damit den Gedanken einer
       Bürgerschutzpolizei, die auf Augenhöhe mit den Bürgern agiert.
       
       Gerade diese Auffassung aber wurde für Rafael Behr, Professor an der
       Akademie der Polizei Hamburg, über Bord geworfen. „Das Prinzip eines
       Gipfels inmitten einer demokratischen Stadtgesellschaft wurde ad absurdum
       geführt, die Polizei zur martialischen Law-and-Order-Polizei“, sagte Behr.
       Anders als zuvor versprochen, sei die Stadtgesellschaft exkludiert worden.
       „Aus den Bürgern wurden wieder die klassischen Herrschaftsunterworfenen“,
       sagte Behr.
       
       Mehr darüber, wie Bürger*innen und Politik den G20-Gipfel verarbeiten und
       auch noch ein bisschen was zum Rätseln finden Sie in der Nordausgabe der
       taz.am wochenende oder am [1][E-Kiosk.]
       
       6 Jul 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jean-Philipp Baeck
 (DIR) Lena Kaiser
 (DIR) Katharina Schipkowski
       
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