# taz.de -- Kreativität in Strafprozessen: Das Gericht als Bühne
       
       > Die Aktivist*innen der „Kreativen Prozessführung“ kämpfen für eine
       > herrschaftsfreie Gesellschaft. Richter und Staatsanwälte ärgern sich.
       
 (IMG) Bild: Die Aktivisten nutzen die Gerichtssäle als Bühne für herrschaftskritisches Impro-Theater
       
       Mit dem Rücken zum Fenster sitzt ein Richter in Jeans und Fleecehemd auf
       einer Holzbank und faltet die Hände vor dem schmalen Kinn. Der Nieselregen
       hinterlässt Spuren wie Bindfäden an der Glastür zum Garten der Werkstatt
       für Aktionen und Alternativen in Düren-Gürzenich. Eine Staatsanwältin mit
       Wuschelkopf und roten Leggins stellt sich zu seiner Linken hinter einen
       Tisch. „Zur Verhandlung der Strafsache zum Diebstahl und Containern nach
       Paragraf 242 werden die Angeklagten Anna und Arthur in den Saal gebeten“,
       ruft der Richter und klopft mit den Fingerknöcheln auf die Tischplatte.
       Zwischen dem aufgeschlagenen Strafgesetzbuch, Mandarinenschalen und
       Papierstapeln findet seine Hand kaum das abgegriffene Holz der Platte.
       
       Ein Dutzend bunt gekleideter Leute schlendert in den Raum. Einer pfeift,
       eine Frau knistert mit einer Papiertüte, ein Barfüßiger jongliert mit
       Mandarinen. Die Staatsanwältin kichert, doch der Richter schimpft: „Was
       soll der Zirkus?“ Der Tumult wird noch wilder, da gibt der Richter zwei
       Justizvollzugsbeamt*innen, einer kleinen Frau mit blau gefärbtem Zopf und
       einem Mann mit Strickpulli ein Handzeichen, den Jongleur zu entfernen.
       Strampelnd und kreischend lässt der sich über den Teppich schleifen. Die
       Staatsanwältin kichert wieder.
       
       Das hier ist eine Übung. Ein Rollenspiel, das Öko-Aktivist*innen darauf
       vorbereiten soll, das zu lernen, was einige Amtsgerichte der Bundesrepublik
       seit Jahren in den Wahnsinn treibt. Sympathisierende nennen es „kreative
       Prozessführung“ – hier üben sich die Neulinge darin.
       
       Erst Ende August hatte sich ein – echter – Richter am Amtsgericht Nienburg
       derart von einem kreativen Prozessführer provozieren lassen, dass er in der
       Urteilsbegründung eine Naziparallele zog: Der Angeklagte Carl-Philipp
       Heldman stehe „in der Unrechtstradition politischer Straßenkämpfer wie der
       SA, derer Methoden er sich hier im Kern bedient hat.“
       
       Der Grund, weswegen Heldman eigentlich vor Gericht stand, war dabei
       vergleichsweise banal. Er hatte vier Stunden auf dem Dach eines Lastwagens
       gesessen, um die Zufahrt zu einem Geflügelhof zu blockieren.
       
       Die Aktivist*innen, die an diesem Wochenende in Düren-Gürzenich
       zusammengekommen sind, um den Aufstand im Gericht zu üben, empfinden sich
       als Teil einer Bewegung, die sich vor der Justiz selbst ermächtigen und
       verteidigen will. Ganz ohne Anwälte. „Die Strafprozessordnung, das sind
       unsere Spielregeln“, erklärt der falsche Richter in Düren. Seine erhobenen
       Zeigefinger haben die Spielphase unterbrochen – jetzt ist er wieder der
       Prozesstrainer, Vollzeitaktivist und Herrschaftskritiker Jörg Bergstedt.
       Der hagere Mann, Jahrgang 1964, lebt im hessischen Örtchen Saasen bei
       Gießen. Die kleinen blauen Augen blitzen hinter dem schlichten
       Metallgestell seiner Brille, wenn er spricht.
       
       In der Dürener Trainingsstätte, die sonst als Anlaufstelle für
       Besetzer*innen des nahe gelegenen Hambacher Forsts offen steht, ackern sich
       die etwa 15 Lehrlinge ein ganzes Wochenende lang in Theorie und Praxis
       durchs Strafrecht. An einer Korkwand kleben und klemmen Flyer vom Klimacamp
       im Rheinland und der Antifa, auf einem gelben Schild steht: „Kein Zutritt
       für Nazis“.
       
       Das Rezept des Trainings geht so: Erstens die relevanten Paragrafen aus dem
       Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung kennen. Zweitens einmal in jede
       Rolle schlüpfen, ob Angeklagte, Anwälte oder Publikum, fürs
       Selbstbewusstsein im Ernstfall, denn: In der Inszenierung haben alle
       Figuren eine Aufgabe. Allein der Part des Richters scheint Bergstedt
       vorbehalten. „Ein Richter ist wie Gott“, erklärt er und lacht hämisch.
       
       Das Konzept der Laienverteidigung beruft sich auf Paragraf 138, Absatz 2,
       der Strafprozessordnung: „Andere Personen können nur mit Genehmigung des
       Gerichts gewählt werden.“ Kurz: Wenn das jeweilige Gericht es zulässt,
       dürfen auch sogenannte Wahlverteidiger den Posten eines Rechtsbeistands
       einnehmen.
       
       Achtung vor dem Rechtsstaat hat von den Laienverteidiger*innen kaum
       jemand. Ziviler Ungehorsam, sagen sie, ist ein legitimes Mittel, sich gegen
       die Politik, die Justiz, das System zu wenden. In den Machtstrukturen der
       Gesellschaft finden sie sich nicht wieder, beim Kapitalismus wollen sie
       nicht mitmachen. Deshalb nehmen die Sympathisant*innen um die
       Projektwerkstatt Saasen keine Sozialleistungen an, leben geldfrei, ohne
       festen Wohnsitz und fahren schwarz im öffentlichen Nahverkehr. Sie ketten
       sich an Zugschienen oder seilen sich von Brücken ab, besetzen Bäume oder
       protestieren gegen Gentechnik. Dass einige Aktionen als
       Ordnungswidrigkeiten gelten, auf die auch Haftstrafen drohen können, nehmen
       sie in Kauf.
       
       ## Unbeliebtheit ist ein Erfolg
       
       Sie wollen Sand im Getriebe des Justizapparats sein und so das Leben derer,
       die sie ablehnen, so schwer wie möglich machen. Was Bergstedt dafür
       vermitteln will, ist eine Mischung aus theatralem Humor und penibelster
       Anwendung der Gesetzestexte.
       
       An einem Freitagmorgen im Oktober sitzt der 53-Jährige in der Wohnküche
       seines Zuhauses. Er trinkt Pfefferminztee aus dem Garten, seine Beine hat
       er über Kreuz geschlagen. Hier, in der Projektwerkstatt in Saasen bei
       Gießen, hat das mit der Laienverteidigung vor etwa zehn Jahren angefangen.
       In den zwei orangefarbenen Häusern mit dem bunt bemalten Bauwagen im Garten
       lebte und arbeitete damals ein ganzes Netzwerk aus Aktiven, von denen sich
       viele noch aus der Naturschutzbewegung der 80er Jahre kannten.
       
       Heute wohnt Jörg Bergstedt allein in der Projektwerkstatt, obwohl über 40
       Schlafplätze, eine Werkstatt, eine Bibliothek, und Veranstaltungsräume zur
       Verfügung stünden. Privaträume gibt es keine, denn „Eigentum verbessert
       immer nur die Lebensverhältnisse Einzelner“, sagt er. Wider Willen nutzt
       das alles heute nur noch er. Die Leute ließen sich früher oder später alle
       auf das System ein, sagt er frustriert. Und dennoch: Auch als einziger
       Bewohner der Projektwerkstatt, auch wenn ihm die Ruhe im Haus auf die
       Nerven geht, auch wenn er sich eigentlich einen Raum politischer
       Aktivitäten wünscht – sein Ideal, herrschafts- und tauschlogikfrei zu
       leben, gibt er nicht auf.
       
       Ihre Unbeliebtheit bei der Justiz verbuchen die Laienverteidiger*innen
       als Erfolg: In einigen Amtsgerichten sind ihre Taktiken bekannt, Bergstedt
       und seine Mitstreiter*innen sind ungern geladene Gäste. Dass der Aufstand
       im Gericht die Behörden Geld kostet und die Richter Zeit und Nerven, ist
       Teil des Programms. Wer gegen Herrschaft ist, dem bleibt der Staat mit all
       seinen Bediensteten der größte Gegner.
       
       Ein Tag im September, in Potsdam. Richterin Reinhild Ahle verdreht die
       Augen. Es ist fünf vor elf, als sie die Tür zum Verhandlungssaal 10 öffnet.
       Herein bittet sie die Angeklagte. Ihr Name ist Cécile Lecomte. Die kleine
       Frau betritt den Saal an Krücken, sieben Unterstützer*innen trotten ihr
       hinterher, setzen sich auf die wenigen Klappstühle. Der Himmel vor den
       hohen Fenstern ist grau, der Sauerstoff mager.
       
       Die als „Eichhörnchen“ bekannte Aktivistin hatte sich 2008 zum ersten Mal
       selbst vor Gericht verteidigt, seit 2010 übernimmt sie das auch für andere.
       Verhandelt wird heute eine nächtliche Protestaktion, bei der sie sich von
       einer Fußgängerbrücke in der Nähe von Buchholz bei Hamburg abseilte, ein
       Transparent mit der Aufschrift „Don’t nuke the climate“ spannte und so
       einen Urantransport von Hamburg Richtung Südfrankreich für mehrere Stunden
       verzögerte. Es ist der dritte von vier Verhandlungstagen – wegen Verstoßes
       gegen die Eisenbahn-, Bau- und Betriebsordnung.
       
       ## Wie das Eichhörnchen eine Show macht
       
       Lecomte und ihre Verteidigerin Hanna Poddig bauen vor sich auf dem Tisch
       mit routinierten Handgriffen ein Instrumentarium auf: Die
       Strafprozessordnung, eine graue Mappe mit Unterlagen, eine Flasche Club
       Mate und das Maskottchen – ein Plüscheichhörnchen. Die beiden
       Aktivistinnen nicken sich zu. Sie sind bereit.
       
       Was folgt, sind vier Stunden Show. Eine Show, die das Publikum schon kennt
       und die Richterin über sich ergehen lässt. Die beiden, die sie aufführen,
       sind Lecomte und Poddig. Beweisantrag um Beweisantrag legen sie vor. Die
       Aktivistinnen verpacken darin ihre Kritik an der Gesellschaft – die Anträge
       sind das dramaturgische Mittel, um den Gerichtssaal für Vorträge über ihr
       Herzensthema umzufunktionieren: den Widerstand gegen die Atomkraft. Über 18
       sind es an diesem Tag. Wenn es darin nicht um formale Details zur
       Entlastung der Angeklagten geht, wie den Abstand der Kletterin zu den
       Spannungsleitungen, dann geht es um die Geschichte der Uranfabrik in
       Narbonne Malvési, das Ziel des Urantransports, gegen den Lecomte
       protestiert hatte. Oder um die Risiken für die Umwelt, Sicherheitslücken
       bei Transporten, Leukämieraten unter den Arbeitenden in der Fabrik.
       
       Der Gang vor Gericht bedeutet jedes Mal viel Vorbereitung für die
       Erwerbslose Lecomte. Was sie eigentlich antreibt in ihrem Kampf gegen die
       Justiz? „Gefängnisse sind doch nur Scheinlösungen“, findet sie. „Sie lösen
       die gesellschaftlichen Probleme nicht.“ Die Verurteilung zu 500 Euro
       Bußgeld will die 35-Jährige nicht hinnehmen. Sie hat Rechtsbeschwerde
       eingelegt, will vor das Oberlandesgericht Brandenburg ziehen. Es ist ein
       bisschen wie eine Lebensaufgabe: Mit jeder Berufung geht wieder
       irgendetwas weiter. Ist ihre Aktion geglückt, kommt sie vor Gericht, ist
       sie gescheitert, vielleicht auch. Gewinnt sie einen Prozess, plant sie
       schon die nächste Störaktion, verliert sie, geht es eine Instanz höher.
       Auch das ist Teil des Prinzips.
       
       Und so fährt – trampt – auch Bergstedt durch das ganze Land, um
       Prozesstrainings zu geben, spielt den Richter, blättert, die Brille zieht
       er dann nach vorne auf die Nasenspitze, in der kommentierten Version der
       Strafprozess Ordnung von Lutz Meyer-Goßner und entwirft Beweisanträge.
       
       Was das soll?
       
       Absolute Laien dazu aufzurufen, sich auf ein monate- bis jahrelanges
       Gefecht mit der Justiz einzulassen, ist streitbar. Das Konzept sei für
       Einzelne geeignet, nicht aber als universelles Konzept für die
       Bewegungslinke, so Henning von Stoltzenberg vom Bundesvorstand des linken
       Anwaltsvereins Rote Hilfe. Auch mischt Bergstedt in Strafprozessen mit, die
       laut Verein nicht den Kriterien eines politischen Verfahrens entsprechen.
       So verteidigt er den Bankräuber und Bundessprecher der der
       Interessenvertretung der Inhaftierten, Pit Scherzl. „Wenn jemand gegen den
       Staat ist, unterstütze ich ihn“, erklärt Bergstedt. „Auch wenn ich ihm
       danach sagen muss, dass er ein Arschloch ist.“ Da ziehen viele Linke engere
       Grenzen in der Kooperation.
       
       ## Der Verteidiger ist nicht nett
       
       Bergstedt verteidigt nicht aus Nettigkeit. Sondern dann, wenn die Sache
       einem seiner Kämpfe dient. Noch am Tag, bevor das Prozesstraining in Düren
       beginnt, verteidigt er den stadtbekannten Schwarzfahrer Manfred Bartl in
       Mainz. Es ist Richter Martin Pirrons erste Begegnung mit Bergstedt. Der
       grauhaarige, strenge Mann in schwarzer Robe will an diesem Donnerstag die
       Sache schnell hinter sich bringen. Doch schon als er die Hauptverhandlung
       eröffnet, legt das Publikum los: Ein Raunen geht durch die Reihen.
       „Lauter!“, ruft aus der zweiten Reihe ein bärtiger Mann mit Baskenmütze,
       „Ich verstehe Sie gar nicht.“ Der Richter lässt sich nicht einschüchtern.
       „Dann nehmen Sie erst einmal Ihre Kopfbedeckung ab“, versucht er zu
       kontern. Das Publikum lacht.
       
       Der Laienverteidiger nimmt die Zeugen aufs Korn. In der Mitte des Raumes
       tänzelt er um einen der breitschultrigen Kontrolleure herum, stellt die
       Szene einer Fahrscheinkontrolle nach. Hatte der Kontrolleur Manfred Bartl
       in den Bus einsteigen sehen? Hat er das gelbe Schild an dessen Brust
       gesehen, auf dem „7,5 Jahre Schwarzfahren für Gerechtigkeit“ zu lesen war?
       
       Nach der zweiten Zeugenbefragung weist Bergstedt den Richter auf den
       korrekten Ablauf der Hauptverhandlung in der Strafprozessordnung hin –
       dahinter steckt die Taktik, Verfahrensfehler im Protokoll erscheinen zu
       lassen. Ob er wisse, dass der Angeklagte nach jeder Zeugenvernehmung
       befragt werden müsse, dass der das Recht habe, sich zu äußern? Tatsächlich
       hatte Richter Pirron das nach dem ersten Zeugen nicht getan. Die
       Gesichtszüge des Richters verhärten sich. „Na, dann weiß er das eben
       jetzt“, sagt er.
       
       Wenn Bergstedt so richtig in Fahrt kommt, schiebt er im Wechsel einen
       ausgestreckten Arm nach vorne und zieht den anderen vor die Brust. Seine
       Stimme schnellt dann in die Höhe, seine Aufmerksamkeit gilt dem Publikum.
       Das ist derweil damit beschäftigt, lautstark über die Abstände zwischen den
       Bushaltestellen in Mainz zu diskutieren. Wenn Richter Pirron Ruhe fordert,
       freuen sie sich wie über ein Lob. Es ist wie im Improvisationstheater. Alle
       wissen, dass sie Teil der Unterhaltung sind, aber niemand kennt den
       Schlussakt.
       
       ## So gelingt der Hausfriedensbruch
       
       Die Oktobersonne schickt ein paar warme Sonnenstrahlen durch die Fenster
       des dunkel getäfelten Saales. Vor den blauen Samtvorhängen tanzen
       Staubkörner im Licht. Es ist 14.55 Uhr, Richter Pirron erhebt sich, um das
       Urteil zu verlesen. Er habe selten ein Plädoyer gehört, dass so neben der
       Sache war, wie das dieses Rechtsbeistands, sagt er. Bergstedt hatte auf
       Paragraf 265a verwiesen, nach dem nur die Erschleichung einer Beförderung
       mit öffentlichen Verkehrsmitteln strafbar sei. Wegen Bartls gelbem Schild
       aber handle es sich hier nicht um eine Erschleichung. Der Richter bleibt
       hart. Sein Urteil: 600Euro Bußgeld für den notorischen Schwarzfahrer Bartl.
       Empörung im Publikum, der Staatsanwalt blättert desinteressiert in seinen
       Unterlagen.
       
       Für Jörg Bergstedt ist das Mainzer Verfahren nur ein weiterer Baustein
       eines langwierigen Kampfes. Das Urteil für Manfred Bartl ist dabei
       zweitrangig. Er gluckst vergnügt, als die Zuschauer*innen ihn nach
       Verhandlungsende umringen, um sich mit ihm über Richter Pirron auszulassen.
       Den Augenblick nutzt er, um für das anstehende Prozesstraining zu werben.
       
       In Düren wird er einem Teilnehmer zwei Tage später erklären, wie man am
       besten einen Hausfriedensbruch plant. „Es ist ganz leicht. Du musst bloß in
       der Nacht vorher das Objekt mit einem Schild ausstatten, auf dem 'Betreten
       auf eigene Gefahr’ steht“. Der Profisaboteur gibt seine besten Tricks
       weiter, als verstehe er es als seinen Lehrauftrag. „Betreten darfst du dann
       nämlich.“ Das meint zumindest Jörg Bergstedt.
       
       10 Nov 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Antonia Groß
       
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