# taz.de -- Lacans „Schriften“ auf deutsch: Sich und die anderen besser verstehen
       
       > Die „Schriften“ des Psychoanalytikers Jacques Lacan sind zum ersten Mal
       > komplett auf Deutsch erschienen. Was sagen sie heute?
       
 (IMG) Bild: Hat das Erstarken des Rassismus schon 1973 in einem Interview vorausgesagt: Jacques Lacan
       
       „Contre Marine Le Pen“: Im März veröffentlichten französische
       Psychoanalytiker im Onlinejournal [1][Lacan quotidien] einen Appell „Gegen
       Marine Le Pen und die Partei des Hasses“. Die Unterzeichner warnen vor der
       Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen und dem Front National als Feinden
       der Aufklärung und sehen sogar ihren eigenen Berufsstand gefährdet, sollte
       Le Pen die Wahl gewinnen. Denn ohne Meinungs- und Pressefreiheit oder eine
       offene Gesellschaft sei auch die Psychoanalyse nicht möglich.
       
       Nur scheinbar ironisch daran ist, dass sich die Analytiker in einem Medium
       bemerkbar machen, das seinen Namen einem Denker verdankt, der hierzulande
       gern des Obskurantismus geziehen wird: Jacques Lacan. Linke Intellektuelle
       waren ihm gegenüber gleichwohl stets aufgeschlossener als rechte. Jetzt
       wurde Lacans einzige „richtige“ Buchveröffentlichung, seine „Schriften“,
       mit gut 50 Jahren Verspätung zum ersten Mal vollständig ins Deutsche
       übersetzt. Der Weg von Lacans Hauptwerk ins Nachbarland war, könnte man
       sagen, beschwerlich. Doch schon bei der Entstehung des Originals gab es
       einige Hürden zu überwinden.
       
       Als die „Écrits“ von Jacques Lacan 1966 zum ersten Mal in Frankreich
       erschienen, war ihr Verfasser 65 Jahre alt. Er hatte sich zuvor lange
       geweigert, sein Werk einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Sein
       späterer Herausgeber François Wahl vom Pariser Verlag Éditions du Seuil
       hatte ihn schließlich überzeugen können, der Veröffentlichung zuzustimmen.
       
       Monatelang waren die Texte von dem Psychoanalytiker in enger, oft
       kontroverser Zusammenarbeit mit Wahl ausgewählt und überarbeitet worden.
       Dabei blieb einer der bekanntesten Texte, Lacans Vortrag über das
       „Spiegelstadium“, in seiner ursprünglichen Version von 1936 unauffindbar.
       Man begnügte sich mit der Fassung von 1949.
       
       Als die zwei Bände der „Schriften“ im Herbst 1966 ausgeliefert wurden,
       erreichten sie für ein theoretisches Werk mit nicht eben leichtem Zugang
       erstaunliche Verkaufszahlen: Mehr als 50.000 Exemplare der Erstausgabe
       wurden verkauft. Von der späteren Taschenbuchausgabe gingen ganze 120.000
       Stück des ersten Bandes über die Ladentische.
       
       Lacan kann bis heute einen festen Platz in den Buchläden Frankreichs
       behaupten. Zu seinen „Schriften“ kamen nach und nach die von ihm
       ursprünglich mündlich gehaltenen „Seminare“ hinzu, von denen längst noch
       nicht alle 27 Bände – offiziell – veröffentlicht wurden.
       
       ## Intellektuelle Grundausstattung
       
       Der große „Übersetzer“ der Freud’schen Psychoanalyse, der mit seiner
       Anverwandlung insbesondere strukturalistischer Ideen eine Neuinterpretation
       von Freuds Lehre des Unbewussten geboten hat, gehört in Frankreich zur
       intellektuellen Grundausstattung neben Namen wie Michel Foucault oder
       Jacques Derrida. Zusätzlich zu seiner klinischen Bedeutung hat er in die
       verschiedensten geisteswissenschaftlichen Strömungen hineingewirkt.
       
       In Deutschland, wo eine unvollständige – und verwirrenderweise zum Teil
       durch andere Texte ergänzte – Übersetzung der „Schriften“ zwischen 1973 und
       1980 erschien, hat Lacan bei Weitem nicht so stark Fuß fassen können. Seine
       „Schriften“ gab es zwar zwar stets im geisteswissenschaftlichen Fachhandel
       zu kaufen, zum Bestseller geriet er für die deutschen Verleger, zuletzt
       Quadriga, jedoch nie.
       
       Mittlerweile erscheint sein Werk auf Deutsch beim Verlag Turia + Kant in
       Wien. Die längst vergriffene Quadriga-Ausgabe der „Schriften“ brachte
       dieser allerdings nicht einfach neu heraus, sondern ließ das französische
       Original vom Lacan-Experten Hans-Dieter Gondek vollständig neu übersetzen.
       Einige der Texte von 1966 erleben jetzt ihre Premiere im Deutschen.
       Darunter Lacans Vorwort „Eröffnung dieser Sammlung“.
       
       ## Der Stil ist der Mensch
       
       Für die erste deutsche Übersetzung hatte Lacan 1973 ein eigenes Vorwort
       beigesteuert. Während er dort seine Leser mit dem Satz „Der Sinn des Sinns
       (the meaning of meaning), man hat sich gefragt, was das ist“ empfing,
       lautet die Begrüßung in der Neuausgabe jetzt: „‚Der Stil ist der Mensch
       selbst‘.“ Mit diesem Zitat des Enzyklopädisten Georges-Louis Leclerc de
       Buffon hat Lacan sich selbst recht gut charakterisiert. Sein oft
       undurchdringlicher, von wortspielerischen Neologismen geprägter Stil war
       einer der Gründe für die Widerstände, die man seinen Texten in Deutschland
       entgegenbrachte.
       
       Der Stil, das Wie des Sprechens der Menschen, ist zugleich das, was Lacan
       in den Mittelpunkt seines Denkens und seiner psychoanalytischen Praxis
       gerückt hat. Das Unbewusste ist nach einem bekannten Diktum Lacans
       „strukturiert wie eine Sprache“. Zum ersten Mal formulierte Lacan diesen
       Gedanken in „Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht“ von 1958.
       In Gondeks Fassung heißt es da, dass „das Unbewusste die radikale Struktur
       der Sprache hat“.
       
       Zwar ist das Unbewusste keine eigene Sprache, seine Verlautbarungen folgen
       aber bestimmten syntaktischen Prinzipien der Verkettung, und diese hat sich
       Lacan zeitlebens zu benennen bemüht, um so das Unbewusste zu dechiffrieren.
       Die Schwierigkeiten, die er seinen Lesern bereitet, ihm in seinen Gedanken
       zu folgen, kann auch Gondek mit seiner Übersetzung nicht beseitigen. Diese
       Schwierigkeiten gehören zu Lacan dazu.
       
       In der neuen Fassung werden dafür einige Formulierungen klarer, in ihrer
       Konstruktion besser nachvollziehbar. Die Gepflogenheit der ersten deutschen
       Fassung, die französische Syntax zum Teil auf Deutsch zu rekonstruieren,
       behält Gondek vereinzelt bei.
       
       Was kann man mit den „Schriften“ – über Expertenwissen in lacanianischen
       Analytikerkreisen hinaus – heute anfangen? Wenn man sich auf die
       beschwerliche Lektüre einlässt, gibt Lacan einem Instrumente an die Hand,
       um auf den unterschiedlichsten Ebenen das Begehren zu befragen, mit dem man
       in der Begegnung mit anderen konfrontiert ist.
       
       Sehr, sehr einfach gesagt, hilft Lacan einem, sich und die anderen besser
       zu verstehen. Selbst Marine Le Pen und ihre Politik lassen sich auf diese
       Weise analysieren. Eine mögliche Antwort auf deren rassistische Haltung
       könnte in etwa lauten, dass sie in ihrem eigenen Genießen verwirrt, sich
       selbst fremd ist. Das Erstarken des Rassismus hatte Lacan übrigens schon
       1973 in einem Interview vorausgesagt.
       
       17 Apr 2017
       
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