# taz.de -- Zehn Jahre nach Jacques Derridas Tod: Rigorose, artistische Gedankengänge
       
       > Kurz vor seinem Tod sorgte sich der Philosoph Derrida um sein Werk. Er
       > befürchtete, nicht mehr gelesen zu werden. Für die Unis trifft das zu.
       
 (IMG) Bild: Dekonstruktion in Schwedt.
       
       Am Ende seines Lebens war Jacques Derrida besorgt um seinen Nachruhm. Einem
       Journalisten gestand er damals, er sei davon überzeugt, seine Philosophie
       werde nur von einer verschwindend kleinen Minderheit wirklich gelesen:
       „Nach meinem Tod wird nichts mehr übrig bleiben. Ausgenommen das, was in
       den Pflichtbeständen der Bibliotheken verwaltet wird.“
       
       So desillusioniert hat sich der krebskranke Philosoph zuvor nicht geäußert.
       Stattdessen vermittelte er zusehends den Eindruck, als wolle er gegen den
       unvermeidlichen Tod mit aller Macht ankämpfen. Im Spätsommer 2001 unternahm
       der 71-Jährige, der besorgt um seinen schwindenden Einfluss war, eine
       Welttour, die an die Konzertagenda rastloser Rockstars erinnert. In
       Hongkong sprach er über „Globalisierung und Todesstrafe“, es folgten
       weitere Vorträge in Schanghai und Peking, wo Derrida wie ein Staatsgast
       hofiert worden war. Die Kluft zwischen den offiziellen Ehrungen und der
       Folgenlosigkeit seiner engagierten Vorträge war natürlich auch ihm
       aufgefallen.
       
       Als sich Derridas Gesundheitszustand im Sommer 2003 deutlich
       verschlechterte und die Chemotherapien zur Tagesroutine wurden, dachte er
       noch immer nicht an Schonung: Er fuhr weiterhin zu Vorträgen ins Ausland,
       nach Jerusalem, London und Coimbra, redigierte die neuesten Druckfahnen,
       engagierte sich im Bertrand Russels Tribunal, stritt für die Ächtung des
       Stierkampfs und engagierte sich gegen die amerikanische Irakinvasion.
       
       Die Pausen zwischen den medizinischen Behandlungen nutzte er für
       Zeitungsinterviews und Fernsehdebatten. Und er stritt wieder einmal für ein
       anderes, künftiges Europa – diesmal zusammen mit Gianni Vattimo und Jürgen
       Habermas. Wenngleich Derrida genau wusste, dass er mit dem Philosophen
       Habermas kaum Berührungspunkte hatte, so beharrte er jetzt auf den
       politischen Gemeinsamkeiten. Schließlich veröffentlichten sie gemeinsam das
       Manifest „Plädoyer für eine gemeinsame europäische Außenpolitik“, einen
       Text, der dem Toleranz-, Freiheits- und Gerechtigkeitspathos der
       europäischen Aufklärung verpflichtet ist.
       
       ## Sich gegen das eigene physische Ende wehren
       
       Selbst wenige Wochen vor seinem Tod am 8. Oktober 2004 scheint sich Jacques
       Derrida noch immer nicht dem Unabwendbaren fügen zu wollen. Der Philosoph,
       der stets über das „Sein zum Tode“ (Martin Heidegger) nachdachte, wehrte
       sich gegen das eigene physische Ende. Das ging so weit, dass er die eigene
       Position, die er Jahre zuvor in einem luziden hegelkritischen Aufsatz
       verteidigte, plötzlich aufgab.
       
       1967 schrieb er noch, die Hegel’sche Dialektik sei eine „Komödie“, die den
       Einsatz beim Spiel in eine Investition verwandelt, „um dem Tod einen Sinn
       zu verleihen und sich vor dem Un-Grund des Nicht-Sinns zu verschließen“.
       Derrida kritisierte, dass in Hegels Dialektik „der schlichte und einfache
       Tod“ nicht vorkomme, denn dieser führe zwangsläufig dazu, den Prozess der
       Aufhebung zunichte zu machen und den „absoluten Verlust des Sinns zu
       riskieren.“ Das wahre Leben des Geistes, von Hegel und Husserl zum
       philosophischen Ideal erhoben, machte Derrida skeptisch. Derartige Kritik
       galt damals als geradezu blasphemisch.
       
       Mitte August 2004, als Derrida das Flugzeug nach Rio de Janeiro betrat,
       wollte er sich an diese Gedanken nicht mehr erinnern. Einem Kolloquium über
       sein Werk im fernen Rio mochte er nicht widerstehen. Natürlich wusste er,
       dass der Veranstaltung bereits etwas Testamentarisches anhaftete und die
       Rezeption seines Werks post mortem eigenen Gesetzen unterläge, die er als
       Autor nicht beeinflussen könnte. Darüber hatte er ja immer wieder
       geschrieben. Aber nun, im Hörsaal der Maison de France in Rio, vor einigen
       hundert Zuhörern, redete er um sein Leben. Am Ende waren es drei Stunden,
       und es war ein letzter Kraftakt, bevor er zwei Wochen später ins
       Krankenhaus des Pariser Institut Curie eingeliefert wurde.
       
       In der Aufbruchszeit der sechziger Jahre mischte der junge, noch unbekannte
       Algerienfranzose namens Jacques Derrida die herrschenden Fraktionen der
       Marxisten, Strukturalisten und Existenzialisten auf, weichte die
       verhärteten Positionen auf und schlug neue Denkwege ein, die selbst die
       Cheftheoretiker der Pariser Intellektuellen-Szene verblüffte. Der
       36-jährige Derrida, der gerade an seinem Buch „De la grammatologie“ und an
       der Husserl-Studie „La voix et le phénomène“ schrieb, nannte seinen
       Denkstil „penser autrement“.
       
       ## Lacan die Schau stehlen
       
       Überraschend war es dann doch, dass er seine Position erstmals bündig nicht
       im heimischen Paris, sondern 1966 an der Johns Hopkins University Baltimore
       vortrug, auf Einladung von René Girard, der den französischen
       Strukturalismus in Amerika bekannt machen wollte. Geladen waren die
       einflussreichsten Pariser Wissenschaftler, die sich zum Umkreis der
       Modeströmung rechneten: der Literaturwissenschaftler Paul de Man, der
       Psychoanalytiker Jacques Lacan, der Historiker Paul Vernant, der Semiotiker
       Roland Barthes und der Philosoph Jean Hyppolite. Angereist waren auch
       Lucien Goldmann, Tzvetan Todorov und Gérard Genette.
       
       Es gehört zu den kuriosen Anekdoten dieser Veranstaltung, dass alle in
       gespannter Erwartung dem Vortrag von Jacques Lacan entgegenfieberten, der
       als Star des Kolloquiums gehandelt wurde. Der Pariser Psychoanalytiker nahm
       diese Rolle bereitwillig an. Doch Lacan, der in radebrechendem Englisch
       vortrug, war erbost, weil ihm ausgerechnet der junge Derrida die Schau
       stahl. Tatsächlich geriet Derridas Vortrag zur messerscharfen Abrechnung
       mit dem Strukturalismus und war eine brillante Kritik an der Ethnologie von
       Claude Lévi-Strauss, dem wichtigsten Ideenlieferanten der Pariser
       Modeströmung.
       
       Die Lévi-Strauss-Kritik von 1966, wenig später in den Sammelband „Die
       Schrift und die Differenz“ aufgenommen, gilt noch heute als einer der
       anschaulichsten und klarsten Texte, um den Aufbruch zu einem neuen Denken
       zu ermessen, das den gesamten historischen Ballast strukturalistischer,
       marxistischer und existenzialistischer Provenienz sowie den in Frankreich
       dominanten Heidegger- und Husserl-Kult über Bord geworfen hat. Es ist ein
       Denken, das sich stets von Neuem bewährt in Philosophie und Literatur, in
       Ethnologie und Psychoanalyse, in Architektur und Kunst, in Religion und
       Politik. Dekonstruktion – wie es Derrida nunmehr nennt – bleibt eine stets
       neu zu erfindende Aufgabe.
       
       In Baltimore kritisierte Derrida die Strukturalisten, da sie von der
       Ordnung einer invarianten Struktur ausgehen, die dem einzelnen Individuum
       entgeht. Und er distanzierte sich von den Metaphysikern, die im Namen
       Gottes, des Menschen, des Bewusstseins oder der Wahrheit immer ein
       organisierendes Zentrum ihres Diskurses voraussetzen. Seinen Zuhörern
       empfahl der Franzose, Nietzsche zu lesen, denn der deutsche Freidenker habe
       mit all dem Schluss gemacht, mit all den vertrauten Kategorien der
       Kathederphilosophie. Davon war 1966 auch Michel Foucault beseelt, als er
       zum „Denken in der Leere des verschwundenen Menschen“ aufrief.
       
       ## Wegweiser zu neuen Denkhorizonten
       
       Wenn das neue Denken möglich sei, rief Derrida seinen Zuhörern zu, dann
       nur, wenn die ehernen philosophischen Begriffe, durch die die Texte
       strukturiert und hierarchisiert werden, völlig neu gelesen werden. Viele
       empfanden in diesen Aufbruchsjahren Texte wie „Grammatologie“, „Schrift und
       Differenz“, „Dissemination“, „Glas“ oder „Randgänge der Philosophie“ als
       Wegweiser zu neuen Denkhorizonten. Dabei benötigte Derrida gerade einmal
       zehn Jahre, um seine einflussreichsten Werke zu verfassen. Der Rest
       verstreut sich teilweise in einer schier unübersichtlichen
       Publikationsflut.
       
       Heute, zehn Jahre nach dem Tod Derridas, der einmal der weltweit
       meistzitierte Philosoph war, ist es in akademischen Gefilden etwas still um
       ihn geworden. Das liegt vornehmlich daran, dass sich heillos verschulte
       Studiengänge unseres Universitätssystems nur schlecht mit seinen rigorosen
       und artistischen Gedankengängen vertragen. Die Beschäftigung mit Jacques
       Derrida findet nun eher außerhalb der universitären Rituale statt. Die
       „Dekonstruktion“ ist kein Thema für Prüffächer, und das ist auch gut so.
       
       7 Oct 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Englert
       
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