# taz.de -- Wahl in Mecklenburg-Vorpommern: Der Systemfehler
       
       > Nach der Landtagswahl wird Ratlosigkeit herrschen über die
       > Wahlbeteiligung und den Aufstieg der AfD. Warum das Desinteresse, warum
       > dieser Frust?
       
 (IMG) Bild: Wahlplakate in Mecklenburg-Vorpommern. Was steht drauf? Und was dahinter?
       
       In gut einer Woche werden sie dann wieder abgebaut, die Wahlwerbeflächen in
       Mecklenburg-Vorpommern. Auch jene am Ortsausgang von Bergen auf Rügen.
       „Merkel muss weg!“ hat da jemand hingemalt. Riesige schwarze Buchstaben,
       mehr geschmiert als geschrieben. Im Ton aggressiv fordernd und nicht
       sachlich auffordernd.
       
       „Merkel muss weg!“ – das klingt wie: „Die Mauer muss weg!“
       
       Die Kanzlerin – also jene Person, die „weg“ soll – wird diese Schmähung
       vermutlich nicht zu Gesicht bekommen haben. Zu ihren wenigen minutiös
       geplanten Auftritten im Landtagswahlkampf ist sie mit dem Hubschrauber
       eingeflogen worden. Von den Landeplätzen auf Fußballplätzen und Weiden aus
       wurde sie mit schwarzen Limousinen zu den BürgerInnen gefahren. Richtfesten
       beiwohnen. Hände schütteln. Für Selfies posieren. Auf Dinge zeigen.
       Wahlkampf, wie ihn die Leute hier kennen. Jedenfalls seit 1990.
       
       Dennoch steht es nun da: „Merkel muss weg!“ Ein Drei-Wort-Satz, seit einem
       Jahr meist gebraucht von Leuten, die die Politik und ihre Vertreter nach
       Kräften verachten. In diesem Fall die Kanzlerin. Wie konnte das passieren,
       dass Ostdeutsche Angela Merkel „weg“ haben wollen, noch dazu in deren
       eigenem Wahlkreis? Wieso wird nicht einmal zur Kenntnis genommen, dass die
       Chancen, Merkel abzuwählen, bei einer Landtagswahl gleich null sind? Und
       woher rührt diese Verachtung für die parlamentarische Demokratie? Eine
       feindselige Absage als ostdeutsches Rätsel.
       
       Vielleicht ist diese Holztafel an der Bundesstraße 196 ein passendes Bild
       für Mecklenburg-Vorpommern, für das Wahlverhalten der Menschen dort: Der
       Sender sendet, die Empfängerin empfängt jedoch nicht. Der Sender, das ist
       in diesem Fall das Wahlvolk, der Empfänger die Politik. Es könnte aber auch
       genau andersherum sein – das Ausmaß an Nichtverstehen wäre wohl dasselbe.
       
       ## Reden, reden, reden
       
       Seit Langem schon werfen viele Mecklenburger und Vorpommern weg, wofür sie
       1989 noch auf die Straße gingen: ihr Recht, frei zu wählen. Bei der
       Landtagswahl 2011 hat nur jeder zweite Berechtigte seine oder ihre Stimme
       abgegeben: 51,5 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2013 lag die Beteiligung im
       Nordosten bei deprimierenden 65 Prozent. Ein Drittel der stolzen Demokraten
       hatte also am Wahlsonntag nicht den Hintern hoch bekommen.
       
       In diesem Jahr wird es wohl nicht anders laufen. Viele werden zu Hause
       bleiben. Und Merkels Parteifreunde von der CDU werden anschließend trotzdem
       noch da sein. Und die Genossen von SPD und Linkspartei auch. Mit Glück
       erneut die Grünen. Und ganz bestimmt werden sich die Rechtspopulisten von
       der AfD über ihre neuen Landtagsbüros in Schwerin freuen. Auch über ihre
       Abgeordnetenbezüge und die Aufmerksamkeit, die ihnen – den tricky
       Demokratieverächtern – nun zuteil wird.
       
       Man wird am Montag einen Blick auf die Wahlbeteiligung werfen und wissen:
       Viel zu viele sind wieder zu Hause geblieben. Und die tragen dann halt
       Mitverantwortung für solch ein Ergebnis.
       
       Man wird nach Erklärungen suchen. Das Wetter wird zu gut oder zu schlecht
       gewesen sein. Die Wege zu weit. Die Kandidaten zu mau. Es wird sein, als
       werde ein vergeigtes Fußballmatch verhandelt. Irgendwas zwischen
       Freizeitkicker 07 und der Betriebssportgruppe Goldener Anker. In den
       Parteizentralen wird es lange Gesichter geben. Und wer nach einigem Hin und
       Her im Schweriner Schloss die Führung für die kommenden fünf Jahre
       übernimmt, wird versprechen, jetzt aber wirklich mal „die Bürger
       mitzunehmen“. Reden, reden, reden. Mitbestimmung, dass es kracht. Aber
       hallo.
       
       „Die Bürger“ werden resigniert nicken. Und bei der Bundestagswahl in einem
       Jahr wird die Hälfte von ihnen wieder zu Hause bleiben.
       
       ## Die Bürger führen ein sicheres, komfortables Leben
       
       Mag sein, dass Politik auch schon mal interessanter und nahbarer war als in
       diesen konfliktträchtigen globalisierten Zeiten. Aber kaum etwas ist
       trauriger, als zu beobachten, wie im Osten dieses Landes die
       parlamentarische Demokratie erodiert. Dass Menschen, die noch vor einem
       Vierteljahrhundert wirklich gar keine Wahl hatten, heute auf ihre
       grundgesetzlich verbriefte Möglichkeit der Teilhabe einfach verzichten.
       
       Gerade Menschen, die die Pervertierung dieser Idee noch erlebt haben:
       Einfach den Zettel mit den Namen der „Kandidaten der Nationalen Front“
       (allein diese Sprache!) falten und in die Urne stecken. Wer die Wahlkabine
       aufsuchte, machte sich verdächtig. So war das. Eine Simulation von
       Mitbestimmung. Und alle sind hingegangen.
       
       Ja, es stimmt, Mecklenburg-Vorpommern ist immer noch ein strukturschwaches
       Bundesland, jedenfalls im Vergleich zu Ländern im Westen. Aber fährt man
       durchs Land, wird man von schnellen Autos überholt. An den Seen und an der
       Küste gibt es keine freien Hotelzimmer. An den Landstraßen ragen Windräder
       in den Himmel. In den Dörfern und Städten sieht man frisch sanierte Häuser
       und riesige Discounter. Sie stehen an perfekt ausgebauten Straßen, deren
       Alleebäume diesen magischen Halbschatten spenden, wegen dem es viele
       Menschen hierher zieht, in den Osten. Kein Zweifel, Mecklenburg-Vorpommern
       ist schön. Es herrscht moderater Wohlstand.
       
       Die soziologische These, nach der privater wirtschaftlicher Wohlstand
       Demokratie erzeugt und festigt, greift dennoch nicht. AfD zu wählen, können
       sich laut letzten Umfragen zwanzig Prozent der Befragten vorstellen. Warum?
       Viel ist die Rede von Abstiegsängsten, von Abwehr und Resignation. Als
       Grund wird immer mal die Retraumatisierungstheorie angeführt, Ostdeutsche
       seien durch die Nachwendeerfahrung privater Brüche nicht bereit für weitere
       Veränderungen.
       
       Ja, die Wende hat die Werftindustrie plattgemacht, die EU hat den Tod der
       Küstenfischerei besiegelt, die Arbeitsplätze in der fischverarbeitenden
       Industrie sind futsch. Dennoch gibt es auch Erfolgsgeschichten. Die Natur,
       Mecklenburg-Vorpommerns größter Schatz, hat sich erholt. Das Land ist an
       milliardenschwere Straßenprojekte angebunden worden, die dem Tourismus gut
       tun. Die Universitäten und Hochschulen sind heiß begehrt. Die Bürger führen
       ein sicheres, komfortables Leben nach westlichen Standards. Jeden Morgen
       geht die Sonne über ihrem friedlichen Land auf.
       
       ## Die Opferhaltung war den Ostdeutschen vertraut
       
       Nein, der Sinn des Lebens, die Attraktivität einer Gesellschaft liegt nicht
       in einer perfekt ausgebauten Landstraße vor der eigenen Tür. Aber doch
       auch. Ja, es wäre angenehmer, wenn Landambulatorien, Dorfschulen,
       Busverbindungen nicht geschlossen würden. Aber es werden neue Lösungen
       gefunden. Und ja, es steht jedem frei, sich einzubringen. Warum also reicht
       es nicht mal für zwei Kreuzchen alle paar Jahre? Wieso haben die Kommunen
       Probleme, Mandatsträger zu finden? Warum ist keine Bürgerversammlung so gut
       besucht wie die, bei der es gegen etwas geht? Ein neues Windrad.
       Anliegerbeiträge. Flüchtlinge. 22.000 Geflüchtete leben derzeit in ganz
       Mecklenburg-Vorpommern, das sind nicht einmal anderthalb Prozent der
       Gesamtbevölkerung.
       
       Möglicherweise ist im Osten etwas versäumt worden. Möglicherweise wurde
       vergessen, den Leuten das Wesen von Demokratie genauer zu erklären. Dass
       sie eben nicht bedeutet: Es soll passieren, was ich will – falls nicht,
       mache ich nicht mehr mit. Auch nicht, dass eine persönlich gefühlte
       Mehrheit stets ihre Interessen durchsetzen kann. Sondern dass Demokratie
       vom Mittun lebt. Und nicht vom Dagegensein.
       
       Der Westen hat nach dem Mauerfall viel dafür getan, dass die 16 Millionen
       Brüder und Schwestern zu guten Bundesbürgern wurden. Kredite aufnehmen,
       Autos anmelden, Eigenheimförderung kassieren, Kindergeld beantragen,
       akzeptieren, dass Arbeiter nun Arbeitnehmer heißen – all dies wurde ihnen
       beigebracht. Wie die Gewaltenteilung funktioniert, wozu Föderalismus gut
       ist, wie das Wahlrecht funktioniert, welche Aufgaben der Bundesrat hat –
       darüber sollten sie sich bitte schön selbst informieren.
       
       Ein schwerer Fehler war das. Jobkrise, Eurokrise, Globalisierungskrise,
       Klimakrise, Flüchtlingskrise – immer neue Probleme machten die
       Ostdeutschen erneut zu stummen Zeugen scheinbar unerklärlicher Vorgänge. Zu
       Opfern. Diese Haltung war ihnen vertraut.
       
       Was ihnen in der DDR beigebogen worden war – sich mit persönlichen
       Meinungen, mit nicht abgesprochenen Handlungen zurückzuhalten –, wurde im
       neuen System nicht korrigiert. Es reichte, dass die Problem-Ossis keine
       allzu großen Fisimatenten machten; sie kosteten eh schon zu viel. Das
       Ergebnis dieser Entwicklung wird am Montag nach der Wahl zu besichtigen
       sein. Es wird kein guter Tag für die Demokratie.
       
       1 Sep 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Anja Maier
       
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