# taz.de -- Umverteilungspraxis in Bremen: Auf dem kurzen Dienstweg
       
       > Sozialarbeiter der Inneren Mission Bremen sollen auf Weisung der
       > Ausländerbehörde Flüchtlinge drängen, aufenthaltsrechtliche
       > Anhörungsbögen auszufüllen.
       
 (IMG) Bild: Hier liegen die umstrittenen Formulare aus: In der Notunterkunft Gottlieb-Daimler-Straße
       
       BREMEN taz | Ein Bogen mit 20 Fragen, teilweise zum Ankreuzen – sieben Mal
       „Ja“, sieben Mal „Nein“: Der Zettel, der seit einiger Zeit in der
       Notunterkunft in der Gottlieb-Daimler-Straße von Flüchtlingen ausgefüllt
       werden soll, kommt daher wie ein Routine-Merkblatt. Doch einmal
       unterschrieben, kann es ernsthafte Konsequenzen für Flüchtlinge haben.
       
       Ob ein Asylantrag gestellt werden möchte, wird da gefragt. Ob man bei der
       Einreise ein Visum hatte – oder ob „aus Ihrer Sicht ein zwingender Grund
       für Ihren Verbleib in Bremen“ bestehe. Auf die Unterschrift folgt oft in
       kürzester Zeit die Abreise in ein anderes Bundesland.
       
       FlüchtlingsunterstützerInnen kritisieren dieses Vorgehen scharf: Es sei
       „rechtswidrig“, sagte etwa der Bremer Anwalt Anatol Anuschewski. Anna
       Schroeder von der Flüchtlingsinitiative Bremen spricht sogar von
       „Nötigung“.
       
       ## Druck wird weitergegeben
       
       Nach taz-Informationen wird das Frageformular, das der Zeitung vorliegt, an
       die Flüchtlinge von Mitarbeitern der Inneren Mission übergeben, die die
       Notunterkunft betreibt: Sozialarbeiter, deren Aufgabe das Wohlergehen der
       Bewohner wäre, beteiligen sich damit an aufenthaltsrechtlichen Anhörungen –
       eigentlich eine Aufgabe der Ausländerbehörde.
       
       Schroeder weiß von mehreren Fällen, in denen Bewohnern die Bögen von
       Sozialarbeitern vorgelegt wurden. „Sie haben den Flüchtlingen gedroht, sie
       rauszuwerfen, wenn sie die Zettel nicht ausfüllen.“ Die Mitarbeiter gäben
       den Druck weiter, der auf sie selbst ausgeübt wird.
       
       Überschrieben ist das Papier mit „Stadtamt Bremen“ und der Erklärung:
       „Anhörung zwecks Feststellung der erlaubten/unerlaubten Einreise und ggf.
       Umverteilung gemäß § 15a AufenthG“. Weder werden die Flüchtlinge persönlich
       adressiert, noch ist ein Feld mit einem offiziellen Ansprechpartner oder
       Kontaktdaten für Rückfragen verzeichnet, wie sonst bei Behördenschreiben
       üblich.
       
       ## Effizienteres Verfahren
       
       Mit dem Bogen soll anscheinend alles ganz schnell gehen, denn
       überdurchschnittlich viele unbegleitete Jugendliche und junge Erwachsene
       kommen in Bremen an. Die Stadt will sie möglichst zügig auf andere Länder
       „umverteilen“, wie es im Amtsdeutsch heißt. Seit Längerem versucht sie,
       dieses Verfahren effizienter zu gestalten und zu beschleunigen. Eine
       Praxis, die unter anderem im Bezug auf die Ungenauigkeit der
       Altersfeststellung immer wieder für Kritik sorgte: weil eher politischer
       Wille die Einschätzungen trieben als Expertise, so der Vorwurf.
       
       Teenager, die vom Jugendamt auf älter als 18 Jahre geschätzt werden, müssen
       zunächst sofort in Bremen umziehen: Von der Erstaufnahme für unbegleitete
       minderjährige Flüchtlinge in die Notunterkunft für Erwachsene in der
       Gottlieb-Daimler-Straße. Weil sie als volljährig gelten, greift nicht mehr
       das Sozialgesetzbuch VIII zur Kinder- und Jugendhilfe und steht das
       Kindeswohl nicht mehr an erster Stelle.
       
       Mit dem Formular, das die Betroffenen in der Gottlieb-Daimler-Straße
       vorgelegt bekommen, soll es dann weitergehen. Es bezieht sich auf Paragraf
       15a des Aufenthaltsgesetzes, der regelt, dass Ausländer, die „unerlaubt
       eingereist“ sind, auf alle Bundesländer verteilt werden können – per Quote,
       wie sie im sogenannten Königsteiner Schlüssel festgelegt ist: nach Bayern,
       Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen, dorthin, wo eben Platz ist.
       
       ## Fast immer Umverteilung
       
       Dieses Verfahren greift, wenn die Flüchtlinge auf dem Bogen ankreuzen,
       einen Asylantrag stellen zu wollen – und es greift ebenso, wenn sie dies
       nicht wollen. Denn dann sind sie, wie in der Praxis so gut wie jeder
       Flüchtling, unerlaubt eingereist. Ob Asylantrag oder nicht: Am Ende also
       folgt meist die Umverteilung.
       
       Anna Schroeder von der Flüchtlingsinitiative erklärt, es sei ein großes
       Problem, wenn diese Anhörung unter Druck und im Schnellverfahren durch
       Mitarbeiter der Inneren Mission durchgeführt würde. „Zum einen untergräbt
       es vollkommen das Vertrauensverhältnis mit den Sozialarbeitern“, so
       Schroeder. „Und zum anderen können die Flüchtlinge so ihre Rechte nicht
       wahrnehmen.“ Käme hingegen ein Schreiben mit dem Anhörungsformular von der
       Ausländerbehörde, so könnten sich die Flüchtlinge an einen Anwalt oder etwa
       an eine Flüchtlingsberatungsstelle wenden.
       
       Ein entscheidender Punkt auf dem Formular sei die Frage, ob es „zwingende
       Gründe für einen Verbleib in Bremen gebe“, so Schroeder. Viele der
       Flüchtlinge seien traumatisiert und hier vor Ort in psychologischer
       Behandlung. Ein Grund für den Verbleib in Bremen, von dem man wissen müsse,
       dass man ihn angeben könne. Das Feld, in dem Gründe für einen Verbleib
       eingetragen werden können, umfasst allerdings nur eine halbe Zeile, Platz
       für höchstens zwei bis drei Wörter.
       
       Rechtsanwalt Anuschewski vertritt zahlreiche unbegleitete Minderjährige und
       junge Flüchtlinge in Bremen. Er sagt, von Seiten der Ausländerbehörde werde
       der Eindruck vermittelt, als gehöre das Formular zur Routine der Aufnahme.
       „Mein Eindruck ist, dass die Mitarbeiter der Inneren Mission keine Ahnung
       haben, was sie da den Flüchtlingen vorlegen“, so Anuschewski.
       
       Auch er hält die Auslagerung des Verfahrens von der Ausländerbehörde auf
       die Innere Mission für hochproblematisch. „Es ist eine staatliche Aufgabe
       der Ausländerbehörde, die Anhörung zu machen.“ Noch schlimmer sei es, wenn
       suggeriert würde, dass das Formular sofort ausgefüllt werden muss.
       
       Nach Unterschrift des Formulars würden die Flüchtlinge sofort umverteilt –
       auch bei Fällen, wo ein Widerspruch gegen die Feststellung der angeblichen
       Volljährigkeit laufe, und sogar, wenn ein Eilverfahren anhängig sei. Im
       Zweifel seien es dann eigentlich Minderjährige, die nun wie Erwachsene
       behandelt würden.
       
       Die Frage der Volljährigkeit hat bei Flüchtlingen große Relevanz: Für
       Jugendliche und Kinder bleibt das Kindeswohl oberste Priorität, sie sind
       besser geschützt. Viele junge Flüchtlinge legen gegen die
       Alterseinschätzung durch das Jugendamt Widerspruch ein und ziehen vor
       Gericht. Mit dem Bogen, dem sie in der Notunterkunft
       Gottlieb-Daimler-Straße ausfüllen sollen, verliert all das seine Wirkung.
       
       Zwar können seit dem ersten November 2015 auch unbegleitete
       Flüchtlingskinder auf andere Bundesländer verteilt werden, aber dennoch
       zählt dabei das Kindeswohl: Nicht zu weit weg sollte es gehen, und auch der
       Bezug zu entfernteren Verwandten oder sogar zu befreundeten Kindern zählt
       als Kriterium und kann darüber entscheiden, wo es hingeht. So ist es
       geregelt in Paragraf 42 des achten Sozialgesetzbuches. Paragraf 15a, um den
       es auf dem Zettel geht, ist der für die Erwachsenen. Kindeswohl ist dabei
       kein Kriterium.
       
       ## Kompetenzprobleme
       
       Auch Bertold Reetz, Verantwortlicher Leiter für Übergangswohnheime und
       Notunterkünfte bei der Inneren Mission, sagt, dass es ein Problem sei, wenn
       Sozialarbeiter Verwaltungsaufgaben übernähmen. Wegen der Formulare sei
       eigens ein Treffen mit Behördenvertretern anberaumt worden, erklärte er der
       taz. „Wir haben gesagt, dass das nicht unsere Aufgabe sein kann“, so Reetz.
       
       Seine Mitarbeiter seien dafür nicht ausgebildet und nicht kompetent. Die
       Ausländerbehörde habe jedoch erklärt, dass die Flüchtlinge die Bögen
       ausfüllen müssten – „weil sie sich sonst illegal in Deutschland befinden“,
       so Reetz. „Da entsteht schon Druck für die Flüchtlinge.“
       
       Die Bögen, so Reetz, würden allerdings nicht an die Flüchtlinge
       ausgehändigt, sondern auf einem Tisch ausgelegt. Zu den Vorwürfe, dass
       Flüchtlinge teilweise dazu gedrängt würden, sie auszufüllen, erklärte er:
       „Da ist mir nichts bekannt. Wir haben es anders abgemacht.“ Auch die Innere
       Mission wolle mit dem Verfahren „im Grunde nichts zu tun haben“, sagte
       Reetz. „Aber wenn die Behörde uns bittet, das auszulegen und
       sicherzustellen, dass jeder es sich ansieht, dann machen wir das.“
       
       Das Innenressort hat eine Stellungnahme für Montag angekündigt.
       
       28 Aug 2016
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jean-Philipp Baeck
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Bremen
 (DIR) Ausländerbehörde
 (DIR) Notunterkunft
 (DIR) Anhörung
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Jugendamt
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) Bremen
 (DIR) Abschiebung
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) Minderjährige Geflüchtete
 (DIR) Bremen
 (DIR) Flüchtlinge
 (DIR) Ausländerbehörde
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Junger Geflüchteter wird nicht betreut: Wer sich beklagt, wird nicht beraten
       
       Ein junger Flüchtling wurde in Bremen aus dem Jugendhilfesystem geworfen.
       Zuvor hatte er sich über schlechte Betreuung beschwert.
       
 (DIR) Altersfeststellung soll die Regel werden: CDU will junge Flüchtlinge röntgen
       
       Niedersachsens CDU-Fraktionschef Björn Thümler wittert ein
       „Geschäftsmodell“ hinter der Einreise vermeintlich minderjähriger
       Flüchtlinge und will ihr Alter prüfen lassen.
       
 (DIR) Verwaltung in Bremen: Die große Reform
       
       Innensenator Mäurer will der Krise im Stadtamt mit einer weitreichenden
       Umstrukturierung begegnen. Die Behörde soll aufgespalten werden.
       
 (DIR) Abschiebung in Göttingen verhindert: Hinterhalt in der Behörde
       
       Statt über seinen Aufenthaltsantrag zu entscheiden, ließ die
       Ausländerbehörde einen brasilianischen Studenten festnehmen. Das war
       rechtswidrig.
       
 (DIR) Immer mehr Abschiebungen im Norden: Alles andere als „freiwillige“ Ausreisen
       
       Die meisten Bundesländer schieben 2016 doppelt so viele Menschen wie im
       Vorjahr ab. Das liegt an verschärften Gesetzen.
       
 (DIR) Sorge und Fürsorge: Neue Aufgabe für alten Träger
       
       Die Innere Mission engagiert sich verstärkt für Flüchtlinge – und
       beobachtet wachsenden Sozialneid bei ihrer bisherigen Klientel.
       
 (DIR) Altersfeststellung bei Flüchtlingen: Bremen soll Schwänze vergleichen
       
       Bei der Altersfeststellung minderjähriger Flüchtlinge hielt sich Bremen mit
       Röntgen bislang zurück. Das könnte nun anders werden.
       
 (DIR) Umverteilung von Flüchtlingen: Dehnbare Flüchtlingsrechte
       
       In Bremen entscheidet jedes einzelne Sozialamt anders darüber, ob es
       „umzuverteilenden“ Flüchtlingen Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt oder
       nicht.
       
 (DIR) Flüchtlinge: Wer sich wehrt, muss hungern
       
       Die syrische Familie Kasem hat Widersprich gegen ihre geplante
       „Umverteilung“ eingelegt. Trotz des laufenden Verfahrens bekommt sie keinen
       Cent Geld zum Leben.
       
 (DIR) Junge Flüchtlinge in Bremen: Bremen wird Kinder los
       
       Trotz anhaltender Kritik arbeitet das Bundesfamilienministerium daran,
       unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bald, wie von Bremen gefordert, auf
       Bundesländer zu verteilen.
       
 (DIR) Bremer Ausländerbehörde: Keine Willkommenskultur
       
       Trotz personeller Aufstockung haben sich die Zustände bei der Bremer
       Ausländerbehörde noch nicht verbessert.
       
 (DIR) Flüchtlinge: Ohne Papiere, mit Problemen
       
       Flüchtlinge Der Verein für innere Mission übernimmt Aufgaben, die die
       Behörden verweigern. Der Sozialarbeiter Holger Dieckmann erzählt, wie er
       helfen kann.