# taz.de -- Außengrenzen der EU: Der vergebliche Versuch zu regieren
       
       > Die Maßnahmen zur Grenzsicherung kosten die EU eine Menge Geld und
       > Nerven. Doch sie bringen nichts, weil man Menschen nicht aufhalten kann.
       
 (IMG) Bild: Am Ziel: Flüchtlinge in Bayern auf dem Weg zur Registrierung.
       
       Vassilis Tsianos sitzt in einem Gartenrestaurant am Hanseplatz im Hamburger
       Stadtteil St. Georg, inmitten seines jüngsten Forschungsprojekts. „Noch nie
       war die Zeit so gut für kritische Migrationsforschung“, sagt er. Er muss es
       wissen, er forscht seit über 20 Jahren dazu. Für eine Studie hat er dieses
       Quartier im Zentrum Hamburgs untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass
       islamische Homophobie häufig benutzt wird, um migrantische Communitys als
       gefährlich abzugrenzen. Städteplanerisch kann das Anlass und Rechtfertigung
       für Aufwertungsprozesse sein.
       
       In St. Georg hat schon die Hälfte der migrantischen Bevölkerung in den
       letzten 20 Jahren dieses „Problemviertel“ verlassen. Der Hanseplatz teilt
       das Viertel heute in ein altes und ein neues Quartier. Im neuen Quartier
       gibt es inzwischen Eigentumswohnungen und schicke Restaurants. Die „Kunst
       des Regierens von Migration“, wie es Tsianos nennt.
       
       Im Großen zeigt sich das auch an den Toren zur EU. Die europäische
       Migrationspolitik basiert auf der Vorstellung, wonach Migration steuer- und
       kontrollierbar ist, wonach Migrationsströme, je nach ökonomischer und
       demografischer Interessenlage, reguliert werden können. Migration wird
       „gemanagt“.
       
       Das Forschungsprojekt „The Migrant’s files“, ein Projekt unabhängiger
       Journalisten, Statistiker und Software-Entwickler, bietet einen Überblick
       darüber, wie viel sich die Europäische Union und ihre Partnerländer dieses
       „Management“ kosten ließen. Seit 2000 wurden rund 12,9 Milliarden Euro für
       unter anderem Abschiebungen, Frontex, Koordination und Grenzbefestigung
       ausgegeben. Doch diese Politik konnte bisher nicht verhindern, dass
       Tausende Menschen trotzdem versuchen, nach Europa zu gelangen. Und die
       Kontrolle wird weiter verstärkt. Doch wenn man ständig an einer Schraube
       dreht und sie nicht greift, dann könnte es allenfalls am Gewinde liegen.
       
       Die Ergebnisse der kritischen Migrationsforschung brechen schon lange mit
       der Auffassung, dass Migration überhaupt steuerbar ist. Davon geht auch das
       Konzept der „Autonomie der Migration“ aus. Schon 1998 gründete sich auf
       dessen Basis „Kanak Attack“, ein politkultureller Zusammenschluss. Auch
       Tsianos war Teil dieser Gruppe. Es sei „Zeit, mit ein paar Hirngespinsten
       über die Migration in Forschung und Politik aufzuräumen“, schrieben die
       Mitglieder damals.
       
       Das Konzept stellt konventionelle Kategorien radikal infrage. Es geht auf
       die Theorie des italienischen Operaismus der 60er Jahre zurück. Sie geht
       davon aus, dass die sozialen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfe die
       Triebkräfte der Geschichte sind und nicht die kapitalistische Entwicklung.
       Die Arbeiter wendeten sich von den Parteien und Gewerkschaften ab, es war
       die Geburtsstunde der autonomen Bewegungen.
       
       ## Revolte der MigrantInnen
       
       In den 90er Jahren griff Yann Moulier Boutang, ein französischer Ökonom,
       den operaistischen Vorzeichenwechsel wieder auf und theoretisierte ihn für
       das Konzept der „Autonomie der Migration“. An die Stelle des
       Massenarbeiters traten die MigrantInnen, der Blickwinkel blieb derselbe.
       Moulier Boutang schrieb dazu: „Diese ‚Autonomie der Migration‘ zeigt sich
       in ihrer Selbstständigkeit gegenüber den politischen Maßnahmen, die darauf
       zielen, sie zu kontrollieren.“ Migration wird hier nicht aus der Sicht der
       Kontrolle, sondern aus jener der MigrantInnen betrachtet. In Analogie zur
       Revolte des Massenarbeiters gegen die Fabrikdisziplin würden sie stets
       nationalstaatliche Grenzen und behördliche Disziplinierungsstrategien
       unterwandern, so die Idee.
       
       Migration wird so als soziale und politische Bewegung begreifbar und nicht
       als ein Projekt Einzelner. Fluchthilfe ist ein wesentlicher Teil dieser
       Bewegung. Nach geltendem EU-Recht ist jedoch jeder ein „Schlepper“ und
       damit kriminell, der Menschen unterstützt, in einen EU-Mitgliedstaat
       illegal einzureisen. Diejenigen, die damit Geld verdienen, profitieren von
       der EU-Grenzsicherung. Denn je mehr hier investiert wird, desto höher
       werden die Preise.
       
       Serhat Karakayali steht in seiner Wohnung in Kreuzberg. Wie Tsianos war
       auch er Mitglied von „Kanak Attak“, heute ist er wissenschaftlicher
       Mitarbeiter der HU Berlin. „Angesichts der jüngsten Ereignisse sind unsere
       Perspektiven wichtig“, sagt er. In den Medien wolle man oft hören, dass
       Menschen aufgrund von Armut oder politischer Unterdrückung fliehen. „Die
       Grundidee“, sagt er, „ist jedoch, dass die MigrantInnen nicht nur eine
       abhängige Variable der kapitalistischen Produktionsweise oder des Kapitals
       sind.“
       
       Migrationsbewegungen folgen oft einer Eigendynamik, so Karakayali. Auch die
       Fluchtgründe „Krieg“ oder „ökonomische Perspektivlosigkeit“ fassen demnach
       zu kurz. Diese können zwar eine Flucht auslösen, jedoch ist Flucht als
       Prozess zu verstehen und ein Zusammenspiel von kurz- und langfristigen
       Motiven.
       
       Dieser Ansatz der „Autonomie der Migration“ spricht MigrantInnen
       Handlungsmacht zu, nimmt sie als Subjekte wahr: ein Blick, der mit den
       gängigen Opferrollen bricht. MigrantInnen werden gern als Spielball der
       „Schlepper“ dargestellt, die dann von Behörden nach einem festgelegten
       Schlüssel verteilt werden können. Diese Objektivierung bedingt eine scharfe
       kulturalistische Grenzziehung. Zwischen dem „wir“, die bestimmen, und dem
       „sie“, den Fremden.
       
       Die Geschichte der Schweiz ist Vassilis Tsianos’ Lieblingsbeispiel für die
       Autonomie der Migration, sagt er, und dafür, dass Migration nicht umkehrbar
       ist. Ab den 60er Jahren hatte man da versucht, durch das
       „Saisonnierstatut“, eine Regelung zur Vergabe von
       Kurzaufenthaltsbewilligungen, Migration zu kontrollieren und ausländischen
       Arbeitnehmern keine Option auf ein Bleiberecht zu geben. „Faktisch ist
       genau das Gegenteil passiert: Die Schweiz ist heute eine klassische
       Migrationsgesellschaft.“
       
       Bei der Kontrolle über Mobilität geht es auch um die Kontrolle von
       Arbeitskraft – ein zentrales Moment des Kapitalismus. In Untersuchungen an
       der türkisch-griechischen Grenze hat Tsianos gezeigt, dass dort die
       zahlreichen Lager für MigrantInnen als Arbeitskräfte dazu dienen, die
       Migrationsströme zu entschleunigen und regierbar zu machen. Hier offenbaren
       sich die Widersprüche zwischen nationalstaatlicher Souveränität, ihrem
       Anspruch auf das Machtmonopol und dem Neoliberalismus, welcher diese durch
       seine deregulierten Märkte und das entfesselte globale Kapital
       unterminiert.
       
       ## Die Politik hinkt hinterher
       
       Migration jedoch findet statt, entgegen den Versuchen, sie zu
       kontrollieren. Das heißt auch: Migration ist eine gesellschaftliche
       Normalität und keine Devianz, wie es oft kolportiert wird. Doch die
       politischen Maßnahmen zur Anerkennung dieser Tatsache hinken den
       Migrationsbewegungen stets hinterher. In der europäischen Migrationspolitik
       äußert sich die „Unregierbarkeit“ in der Ohnmacht, ständig neue Maßnahmen
       zu präsentieren. Die „Festung Europa“ und ihre Grenzen erweisen sich
       trotzdem immer wieder als poröses Gebilde, das durch die flexiblen und
       autonomen Taktiken überlistet wird. Die Routen ändern sich stetig.
       
       Auch das Spiel mit Visa, Arbeitserlaubnissen, beschränkten
       Aufenthaltsbewilligungen, informeller Arbeit gehört zu diesen Taktiken.
       Sich arrangieren, sich den Verhältnissen entziehen, aufbrechen und bleiben.
       Migration ist eine Form der Widerstandspraxis, eine Strategie.
       
       Es fehlen weiterhin legale Mittel, um, ohne sein Leben zu riskieren, nach
       Europa zu gelangen. Den Menschen werde sehr viel Leid für etwas zugemutet,
       „das sie am Ende sowieso erreichen“, sagt Tsianos. Dafür, dass bei einer
       Lockerung der Grenzschutzregeln mehr illegale Einwanderer kommen würden,
       gebe es keine empirischen Belege, sagt Tsianos.
       
       ## Migration wird romantisiert
       
       Das Konzept der Autonomie der Migration ist aber nicht unumstritten. Gerade
       aus Kreisen von Menschenrechtsgruppen kommt der Vorwurf, dass das Konzept
       Migration romantisiere und dabei das Leid der Menschen vernachlässige. Sie
       würden fälschlicherweise als eine Art „Avantgarde sozialer Kämpfe“
       stilisiert. Mit dem Konzept der „Autonomie der Migration“ lassen sich aber
       gleichermaßen die sozialen wie subjektiven Dimensionen von
       Migrationsbewegungen fassen.
       
       Die soziale Dimension meint Migration als Bewegung, meint die
       Selbstbewegungsfaktoren, „Formen der Kollektivität, der
       Vergemeinschaftung“, die sich der Regulierung entziehen, wie es Karakayali
       nennt. Dies illustriert, dass MigrantInnen selbst Akteure der
       Migrationspolitik sind. Aus armen Flüchtlingen, wie oft vermittelt, werden
       Menschen mit Plänen und Strategien.
       
       Und es ist absurd: Die gleiche Summe, die MigrantInnen ausgeben, um nach
       Europa zu kommen – rund eine Milliarde Euro im vergangenen Jahr – gibt die
       EU aus, um das zu verhindern. Kontrollfantasien treffen auf die Autonomie
       der Migration. Für die kritische Migrationsforschung ist längst klar, wer
       sich hier durchsetzt.
       
       22 Nov 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Matthias Fässler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Migration
 (DIR) Grenze
 (DIR) Griechenland
 (DIR) Kapitalismus
 (DIR) Schwerpunkt Türkei unter Erdoğan 
 (DIR) Asylrecht
 (DIR) Australien
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
 (DIR) Schwerpunkt Flucht
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Strafen für Flüchtlingsrettung: Bis zu zehn Jahre Haft für Fluchthilfe
       
       Griechenland klagt drei spanische Feuerwehrmänner als Fluchthelfer an. Sie
       hatten auf dem Meer bei Lesbos nach Schiffbrüchigen gesucht.
       
 (DIR) Debatte Kapitalismus: Die Krise der Ökonomen
       
       Viele Wirtschaftsprofessoren verhalten sich wie Oberpriester: Sie stellen
       nur Behauptungen auf, Argumente fehlen gänzlich.
       
 (DIR) EU-Bericht zur Türkei: Kritik an Einschränkung von Freiheiten
       
       Die Kommission sieht „einen negativen Trend beim Respekt der
       Rechtsstaatlichkeit und grundlegender Rechte“. Besonders der Medienbereich
       macht ihr Sorgen.
       
 (DIR) Kommentar Aushöhlung des Asylrechts: Keine Flüchtlinge zweiter Klasse!
       
       Die Bundesregierung demontiert in hohem Tempo und ohne Weitsicht das
       Asylrecht. Ein deutliches Signal dagegen ist überfällig.
       
 (DIR) Flüchtlinge in Australien: Unruhen in Lager auf Weihnachtsinsel
       
       Australien fährt eine harte Flüchtlingspolitik. In einem Haftlager kommt es
       zu Tumulten. Alles in Ordnung, versucht das zuständige Ministerium zu
       beschwichtigen.
       
 (DIR) Kommentar de Maizières Asylvorstoß: Integration ist nicht zeitlich begrenzt
       
       Wer mit Integration erst beginnt, wenn sich abzeichnet, dass die
       Flüchtlinge bleiben, vergeudet deren Zeit. Und die Chancen der ganzen
       Gesellschaft.
       
 (DIR) Kommentar Europas Flüchtlingspolitik: Menschen sind stärker als Zäune
       
       Für viele Flüchtlinge geht es ums nackte Überleben. Sie haben alles
       verloren und lassen sich von keiner Schikane aufhalten.