# taz.de -- Reaktionen auf Ausschreitungen: In Heidenau versagt das Bürgertum
       
       > Seit Tagen müssen sich die Flüchtlinge in der sächsischen Stadt vor
       > Angriffen fürchten. „Was haben die gegen mich?“, fragt einer.
       
 (IMG) Bild: In der Flüchtlingsunterkunft Heidenau: Sigmar Gabriel zeigt Verständnis – aber vor allem für die „Sorgen der Bevölkerung“
       
       HEIDENAU/BERLIN taz | Drei Tage später kann es Muhamad noch immer nicht
       fassen. „Ich komme hierher, weil zu Hause Krieg ist, und diese Leute
       begrüßen mich mit Steinen“, sagt der 18-jährige Syrer, der in Deutschland
       studieren möchte, auf Englisch. „Das ist doch verrückt!“
       
       Muhamad wohnt seit Freitagnacht in Heidenau bei Dresden, genauer: in einem
       alten Baumarkt an der Bundesstraße. „Praktiker. Hier spricht der Preis“,
       steht noch an der Fassade. Ein paar Tage zuvor hatten ihn Polizisten bei
       Passau aufgegriffen, wo er zu Fuß entlang der Bahngleise die Grenze von
       Österreich aus überquert hatte.
       
       Der Verteilungsschlüssel der Bundesländer wollte es so, dass ihn die
       Beamten anschließend in einen Bus nach Sachsen setzten. Das Schicksal
       wollte es so, dass ihn der Bus ausgerechnet an dem Abend nach Heidenau
       fuhr, als Rechtsextreme vor der neuen Flüchtlingsunterkunft erstmals gegen
       ihre neuen Nachbarn demonstrierten.
       
       „Was haben die gegen mich?“, fragt Muhamad am Montag danach. „Ich verstehe
       das nicht.“ Was in diesen Tagen in Heidenau passiert, ist tatsächlich
       schwer zu verstehen, nicht nur für einen 18-Jährigen aus Syrien: Ein Vorort
       von Dresden ist Abend für Abend im Ausnahmestand.
       
       ## Wohlfühltrip im Reisebus
       
       Am Vormittag, um 11 Uhr, trifft Vizekanzler Sigmar Gabriel im Ort ein. Der
       Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef tourt auf einer Sommerreise durch
       ostdeutsche Bundesländer. Ein Wohlfühltrip, im Reisebus sitzen über 30
       Hauptstadtjournalisten. Eigentlich geht es um Digitalisierung und Industrie
       4.0, Gabriel besucht Firmen, die mit dem digitalen Wandel Geld verdienen.
       
       Den Abstecher zum Baumarkt legt der Vizekanzler spontan ein. Vor dem
       Gebäude steht ein Bauzaun, mit Planen blickdicht verhängt. Sicherheitsleute
       mit neongelben Westen heben ab und zu ein Zaunteil beiseite, damit
       Flüchtlinge herein- oder herauskönnen. Es wirkt alles etwas verrückt hier:
       Ein paar abgehärmt aussehende Flüchtlinge stehen herum, ein paar
       BürgerInnen schauen zu. Dutzende Journalisten drängen sich um die, die
       bereit sind zu reden.
       
       Ein älterer Herr, Fahrradhelm auf dem Kopf, Gesundheitssandalen an den
       Füßen, redet sich in Rage. Die Regierung fahre alles an die Wand, die
       CDU-Politik sei verkorkst, der ungebremste Flüchtlingszustrom ängstige ihn.
       Deutschland könne das nicht bewältigen. Die Gewalt der Neonazis findet er
       auch nicht gut. „Deshalb gehe ich zu Pegida. Da herrscht Ordnung.“ Seinen
       Namen sagt er nicht.
       
       Der Fahrradfahrer gehört zu den gemäßigten Passanten. Die Radikaleren
       stehen auf der anderen Seite der Bundesstraße. Vom Parkplatz des
       Real-Marktes aus haben sie freie Sicht auf den Tross aus Berlin. „Mit uns
       Deutschen redet nie einer!“, sagt eine Frau Mitte vierzig. „Schmarotzer
       sind das!“, sagt die nächste. „Das ist vom CIA gesteuert. Die wollen unsere
       Kultur zerstören!“, sagt ein Handwerker mit Sicherheitsschuhen. Und dann
       steht da schon wieder ein Radfahrer. Seinen Namen möchte auch er nicht
       nennen. Dafür möchte er etwas erklären: „In den Ersten Weltkrieg haben uns
       die Österreicher geführt, in den Zweiten Weltkrieg ein Postkartenmaler aus
       Wien und der dritte Weltkrieg …“ Dann ist er kurz stumm und zeigt auf den
       alten Baumarkt, bevor er weiterredet: „Sachsen ist das einzige ethnisch
       reine Deutschland, das es noch gibt. Und jetzt kommt die Islamisierung auch
       hierher!“
       
       ## Gemeinsames Gebet
       
       „Die Saat von Pegida geht auf“, sagt Monika Lazar. Die Politikerin aus
       Leipzig sitzt für die Grünen im Bundestag und beobachtet die rechte Szene
       in Sachsen schon lange. „Woche für Woche haben die Leute auf den
       Pegida-Demos die gleichen Parolen gehört. Die Auswirkungen sehen wir jetzt
       in Heidenau.“ Zwölf Stunden bevor Sigmar Gabriel eintrifft, steht sie
       selbst vor der Unterkunft. Zwei Landtagsabgeordnete der SPD lassen sich
       blicken, ein paar Kommunalpolitiker der Linkspartei, einige Antifas aus der
       Region. Fünfzig Leute vielleicht, viel mehr sind es die meiste Zeit des
       Abends nicht. „Das Bürgertum aus Heidenau und Dresden versagt. Es lässt
       sich hier einfach nicht blicken“, sagt Lazar.
       
       Am nächsten Tag ein Anruf bei Erdmute Gustke: Die evangelische Pfarrerin
       von Heidenau hat für den Abend zusammen mit dem katholischen und dem
       baptistischen Pfarrer zum Gebet geladen. Gemeinsam wollen die Christen der
       Stadt ein Zeichen gegen die Rassisten setzen. Die Pfarrerin schickt per
       Mail den Aufruf zum Gebet, den sie am Sonntag in der Kirche vorgelesen hat.
       „Wir bitten Sie, sich von Gewalt mit Worten oder Taten zu distanzieren“,
       steht darin. Aber auch von „verständlichen Befürchtungen um Ruhe, Ordnung
       und Sicherheit“ schreiben die drei Pfarrer.
       
       Später folgt noch eine Mail der Pfarrerin: Wenn die Naziszene im Ort
       demonstriere, gebe es immer Gegenaktionen von Vereinen und Kirchen, auch
       mit deutlichen Worten. „Was Sorge macht, sind aber die vielen
       Sympathisanten. Sie wollen eigentlich nichts mit der NPD zu tun haben,
       sehen aber in deren Demos die einzige Möglichkeit, ihre Bedenken zur
       Sprache zu bringen.“ Deshalb der verständnisvolle Ton im Gebetsaufruf.
       
       Auch Sigmar Gabriel zeigt Verständnis. Die Regierung müsse die Sorgen der
       eigenen Bevölkerung ernst nehmen, sagt er in der Sonne vor der Unterkunft
       in Dutzende Mikrofone. Doch dann wird er deutlich. Der Staat dürfe
       gegenüber Neonazis keinen Millimeter zurückweichen. „Bei uns zu Hause würde
       man sagen: Das ist Pack, was sich hier rumgetrieben hat.“ Auf solche Leute
       und ihre Parolen gebe es nur eine Antwort: Polizei, Staatsanwalt, wenn
       möglich Gefängnis. Es reiche nicht, immer wieder nach dem Aufstand der
       Anständigen zu rufen. Es müsse auch einen Aufstand der Zuständigen geben.
       Dann steigt der Vizekanzler in seinen Wagen und rauscht davon.
       
       Am späten Nachmittag rufen Linke in Leipzig dazu auf, die Verlegung von
       weiteren Flüchtlingen nach Heidenau zu verhindern.
       
       24 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Schulze
 (DIR) Ulrich Schulte
       
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