# taz.de -- Hartz IV und der Untergang Roms: Die Wonnen der Dekadenz
       
       > Der Vizekanzler und FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle benutzt einen
       > antiliberalen Kampfbegriff, den sich der Chef einer liberalen Partei
       > niemals zu eigen machen darf.
       
 (IMG) Bild: Ihr seid doch selbst so dekadent wie die Römer, sagen jetzt die Gegner von Augustus Pinkwart, Cleopatra Homburger und Caesar Westerwelle.
       
       Dass die Sozialgeschichte der stadtrömischen Unterschichten zu einem
       dominierenden Thema der deutschen Innenpolitik werden würde, hätte kaum ein
       Althistoriker zu träumen gewagt. In Fachkreisen handelt es sich um eines
       der großen Forschungsthemen, mit dem einst Generationen von Schülern und
       Studenten traktiert wurden. Zuletzt ist es ein wenig aus der Mode geraten.
       Die wesentlichen Fragen schienen geklärt oder bis zum Überdruss diskutiert.
       Das eint die Kontroverse mit den modernen Streitigkeiten über Hartz IV, die
       erst durch die polemische Intervention des FDP-Vorsitzenden eine
       Wiederbelebung erfuhren.
       
       Mit der althistorischen Debatte ist Guido Westerwelle nicht sonderlich gut
       vertraut. Das beginnt mit der Verortung des Phänomens in der Spätantike.
       Bereits im zweiten vorchristlichen Jahrhundert erschien das Aufkommen einer
       neuen Unterschicht als drängendes Problem auf der Agenda. In den
       innenpolitischen Wirren, die ein Jahrhundert später zum Untergang der
       Republik führten, spielte die Frage eine wichtige Rolle.
       
       Die ältere Forschung brachte die Erosion der italischen (sic!)
       Mittelschicht vor allem mit den zahlreichen Kriegen der republikanischen
       Zeit in Verbindung. Während der langen Feldzüge hätten die Bauern ihre
       Äcker nicht mehr bestellen können. Insgesamt plausibler ist die These von
       einem antiken Globalisierungsprozess.
       
       Die Expansion des Imperiums führte zu einem Zufluss preiswerter
       Arbeitskräfte in Form von Sklaven nach Italien selbst, aber auch zu einer
       Billigkonkurrenz aus anderen Teilen des Imperiums. Es gab keine Nachfrage
       mehr nach gering qualifizierten Tätigkeiten, die Bewohner der wohlhabenden
       Kernzone des globalisierten Wirtschaftsraums noch hätten ausüben können.
       Die stadtrömische plebs war fortan auf öffentliche Unterstützung
       angewiesen, die sie mit der Lex frumentaria des Jahres 123 v. Chr. auch
       erhielt. Was zunächst als Abgabe verbilligten Getreides an einen eng
       begrenzten Empfängerkreis konzipiert war, weitete sich im Lauf der
       Jahrzehnte immer mehr aus. Allzu verlockend war in den innenpolitischen
       Kämpfen des ersten Jahrhunderts vor Christus für die konkurrierenden Lager
       die Aussicht, durch großzügige Handhabung dieser Sozialleistung die
       stadtrömischen Unterschichten an sich zu binden.
       
       Um die Mitte des Jahrhunderts bezogen rund 320.000 Menschen das kostenlose
       Getreide, mithin rund jeder zweite römische Vollbürger. Nach erfolgreicher
       Machtübernahme reduzierte Cäsar den Empfängerkreis mit einer Art antikem
       Hartz-IV-Gesetz auf rund 150.000 Personen, unter seinem Nachfolger Augustus
       stieg die Zahl wieder auf 200.000 an. Bezahlt wurde die Leistung nicht aus
       der Staatskasse, sondern aus dem Privatvermögen des Princeps, was den
       Charakter einer persönlichen Loyalitätsversicherung unterstreicht.
       
       Als zweites Hilfsmittel, das der Ruhigstellung der unterbeschäftigten
       Massen diente, gelten die öffentlichen Spiele - ob es nun die brutalen
       Tierhetzen waren, für die später das Colosseum erbaut wurde, die
       Wagenrennen im Circus Maximus oder die nicht ganz so populären Festspiele
       im Theater. Insgesamt ergab sich ein Zusammenspiel von Sozialleistungen und
       Unterhaltungsangebot, das tatsächlich starke Assoziationen mit der heutigen
       Unterschichtsdebatte über Hartz IV und Fernsehkonsum weckt.
       
       Westerwelles Suggestion, dieser Problemkomplex habe den Untergang Roms
       herbeigeführt, ist allerdings schon aus zeitlichen Gründen falsch.
       Schließlich hat das Imperium die Einführung der öffentlichen
       Getreideversorgung um mehr als ein halbes Jahrtausend überlebt. Im Übrigen
       zeigen gerade die Parallelen zwischen Antike und Jetztzeit, dass sich
       manche Phänomene der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte kurzfristig gar
       nicht steuern lassen, jedenfalls nicht durch einen Gastkommentar in der
       Welt.
       
       Das Gleiche gilt allerdings auch für den Reichtum der römischen
       Oberschicht, an dem sich die klassischen Dekadenztheorien viel eher stießen
       als an der Alimentierung des antiken Prekariats. Es war vorhersehbar, dass
       Westerwelles Gegner hier anknüpfen würden. Beide Argumente gehen aber
       gleichermaßen in die Irre.
       
       Man muss ein derart krasses Wohlstandsgefälle nicht für wünschenswert
       halten, um festzustellen: An ihm ist das römische Gesellschaftsmodell
       jedenfalls nicht gescheitert.
       
       Die ökonomische Ausdifferenzierung Roms ging einher mit einer Pluralität
       der Lebensformen im gesellschaftlichen Bereich. Die verschiedensten
       Kulturen und Religionen lebten in den Metropolen des Imperiums auf engstem
       Raum zusammen und machten die großen Städte zu faszinierenden
       Schmelztiegeln der antiken Globalisierung. Phänomene wie eine verfeinerte
       Esskultur oder sexuelle Freizügigkeit wurden zwar schon von antiken
       Dekadenztheoretikern bemäkelt, trugen in Wahrheit aber zur Attraktivität
       des römischen Systems entscheidend bei.
       
       "Dekadenz" ist ein antiliberaler Kampfbegriff, den sich eine liberale
       Partei niemals zu eigen machen darf. Dass sich Westerwelles Gegner den
       Begriff jetzt zu eigen machen und ihn gegen die Lebensformen des
       FDP-Milieus wenden: das zeigt, wie sehr sich der Parteivorsitzende im Wort
       vergriffen hat.
       
       15 Feb 2010
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralph Bollmann
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Debatte Koalition vor der Sommerpause: Eine Regierung, die sich zu einig ist
       
       Schwarz-Gelb scheitert, weil alle drei Parteien nur über Finanz- und
       Sozialpolitik streiten wollen. Zukunftsthemen wie Bildung und Energie
       blendet die Koalition aus.
       
 (DIR) Hartz-IV: Grabenkampf in der Koalition
       
       Der Streit über Westerwelles Äußerungen spaltet die Regierungsparteien.
       Unions-Leute gehen auf Distanz, NRW-FDP-Chef Pinkwart unterstützt dagegen
       plötzlich seinen Vorsitzenden.
       
 (DIR) EKD-Chefin Käßmann zu Hartz IV: "Westerwelle gefährdet den Konsens"
       
       Wenn schon Kinder Hartz IV fürchten, stimmt etwas nicht mit der
       Gesellschaft. Westerwelle sei realitätsfern, sagt die Bischöfin Margot
       Käßmann - und will mit ihm über soziale Fragen sprechen.
       
 (DIR) Westerwelle am Aschermittwoch: Für seine Verhältnisse fast gemäßigt
       
       Der FDP-Chef weist seine Kritiker zurück und spricht so, als gehörte er gar
       nicht zum Politikbetrieb. Seine "Anliegen für den Umbau des Sozialstaats"
       bleiben nebulös.
       
 (DIR) Debatte FDP und Hartz IV: Angriff aus Verzweiflung
       
       Mit seinen Tiraden gegen den Sozialstaat schadet Westerwelle sich selbst.
       Der Debatte um die Höhe der Hartz-IV-Regelsätze fügt er nichts Neues hinzu.
       
 (DIR) Westerwelles Kampf gegen Hartz-IV: "Spätrömische Dekadenz"
       
       Nach den Äußerungen des FDP-Parteichefs hagelt es Kritik, aber auch
       Unterstützung. Der SPDler Ralf Stegner twitterte, Westerwelle sei "der Jörg
       Haider der deutschen Politik".
       
 (DIR) FDP-Chef legt nach: Westerwelles Wut auf "linken Zeitgeist"
       
       In der Debatte über seine Kritik am Sozialstaat gibt sich Außenminister
       Westerwelle unbeirrt. Die SPD warnt vor außenpolitischem Schaden für
       Deutschland durch den "sozialpolitischen Brandstifter".
       
 (DIR) Historiker über Westerwelles Partei: "Die FDP muss Deutschland dienen"
       
       Der Historiker Daniel Koerfer bescheinigt: Die FDP ist eine unbeliebte
       Partei. Sie sollte den Bogen nicht überspannen und keine Wellen mehr
       schlagen.
       
 (DIR) Kommentar FDP: In den Ruinen des Neoliberalismus
       
       Westerwelles Tiraden gegen die Arbeitslosen widerspricht nicht nur den
       Tatsachen, sondern auch der Gefühlslage der Bevölkerungsmehrheit. Selbst
       die eigene Klientel ist polarisiert.