# taz.de -- EKD-Chefin Käßmann zu Hartz IV: "Westerwelle gefährdet den Konsens"
> Wenn schon Kinder Hartz IV fürchten, stimmt etwas nicht mit der
> Gesellschaft. Westerwelle sei realitätsfern, sagt die Bischöfin Margot
> Käßmann - und will mit ihm über soziale Fragen sprechen.
(IMG) Bild: Margot Käßmann: "Ich fürchte, durch Westerwelles Aussagen bekommen wir eine weitere Drehung in der Spirale hin zu einer Neidgesellschaft."
taz: Frau Käßmann, Sie haben über das Thema Armut und Kirche promoviert.
Kommt Ihnen bei dem, was der FDP-Parteichef, Außenminister und Vizekanzler
Guido Westerwelle nun über Hartz-IV-Empfänger sagt, nicht die Galle hoch?
Margot Käßmann: Ich finde es gut, in einem Land zu leben, in dem klar ist:
Die Starken treten für die Schwachen ein. Das ist der Sozialstaat, das ist
soziale Marktwirtschaft. Da dürfen auch ein paar Leute mehr verdienen,
solange es keine unverantwortlichen und maßlosen Auswüchse gibt. Aber die,
die nicht für sich aufkommen können, müssen eine Grundabsicherung haben.
Das sichert den sozialen Frieden im Land.
Gefährdet Westerwelle durch seine Aussagen den sozialen Frieden?
Den sozialen Frieden? Vielleicht eher den sozialen Konsens. Als ich zuletzt
in den USA war, hat mir ein 75-jähriger Mann, weil er keinerlei Rente
hatte, meine Einkäufe in eine Tüte gepackt. Das war mir absolut unangenehm.
Wir können ein bisschen stolz sein auf ein Land, wo das nicht möglich ist,
wo meine Steuern dazu verwendet werden, das zu vermeiden.
Was sagt das über ein Land aus, wenn sich der Vizekanzler so über
Hartz-IV-Empfänger äußert?
Wir haben den Verfassungsgrundsatz "Die Würde des Menschen ist
unantastbar". Ich fürchte, durch Westerwelles Aussagen bekommen wir eine
weitere Drehung in der Spirale hin zu einer Neidgesellschaft. Als ich
aufgewachsen bin, gab es eine breite Mittelschicht und kleine Ränder von
ganz reichen und ganz armen Menschen. Wenn die Schere heute weiter
auseinander geht, wird auch der soziale Friede gefährdet.
Noch mal nachgefragt: Wie finden Sie das, wenn in einer Koalition mit einer
Partei, die das "C" im Namen hat, der Vizekanzler solche Dinge sagt?
Ich finde es despektierlich gegenüber Menschen, die auf Hartz-IV angewiesen
sind. Meinem Eindruck nach hat jeder Mensch das Bedürfnis, durch
Erwerbsarbeit auf eigenen Beinen zu stehen. Aber wir müssen einfach auch
akzeptieren, dass es Menschen gibt, die alleine nicht in der Lage sind, für
sich aufzukommen.
Müsste die Kanzlerin Angela Merkel Westerwelle zur Ordnung rufen?
Ich werde Frau Merkel nicht empfehlen, was sie Herrn Westerwelle sagen
soll.
Aber was Westerwelle sagt, geht doch weit über die übliche FDP-Rhetorik
hinaus.
Ich würde gerne mal mit Herrn Westerwelle in eine Jugendwerkstatt gehen,
dahin, wo die Jugendlichen sind, die es alleine niemals schaffen werden.
Ich denke, dass manche, die in wohl situierten Umständen leben, keine
Vorstellung davon haben, wie hoffnungslos einige inzwischen sind. Es gibt
Interviews mit acht bis 12-Jährigen, die sagen: Ich habe keine Chance und
werde mal auf Hartz-IV gehen. Und wenn das schon Kinder sagen, muss man
sich schon fragen, wo wir sozialpolitisch sind.
Was ist das sozialpolitische Konzept der FDP?
Das würde ich die FDP in der Tat gerne fragen. Denn immer nur von Fordern
zu sprechen und davon, die Eigeninitiative zu stärken, hilft den Menschen
nicht, die gar nicht wissen, was Eigeninitiative ist. Wir werden als Rat
der EKD das Gespräch mit der FDP suchen, auch zu diesen Fragen.
Die großen Banken, die ja für die Finanz- und Wirtschaftskrise
mitverantwortlich sind, schütten inzwischen wieder Boni in Millionenhöhe
aus, und gleichzeitig wird diskutiert, ob die Höhe der Hartz-IV-Sätze
gerechtfertigt ist. Wie passt das denn ihrer Meinung nach zusammen?
Das passt natürlich nicht zusammen. Aber wir haben ja ein Urteil des
Bundesverfassungsgerichtes, das verlangt, dass viel genauer als bisher
hingeschaut wird. Und das begrüße ich sehr.
Was kann man denn dagegen machen, dass die Gesellschaft sozial immer weiter
auseinander driftet?
An die soziale Verantwortung appellieren. Ich bin davon überzeugt, dass es
bei vielen Menschen ein Grundgefühl von sozialer Verantwortung gibt, auch
wenn viele sagen, unsere Gesellschaft bestehe überwiegend aus Egomanen. Ich
erlebe es immer wieder, dass die Menschen, die persönlich gefragt werden,
auch bereit sind, ihren Reichtum zu teilen, Geld zu geben oder Zeit. Wenn
wir fragen, haben Sie Zeit, drei Stunden in der Schule Lesehilfe zu geben,
dann machen die Menschen das auch. Wenn ich für ein konkretes Projekt Geld
brauche, spenden viele gern. Wir müssen also ein System entwickeln, das die
Menschen bei ihren Kompetenzen abholt und sozial einbindet. Reichtum wird
auch in der Bibel nicht verurteilt. Es kommt darauf an, wie man mit ihm
umgeht.
Besteht nicht ganz grundsätzlich die Gefahr, dass sich der Staat darauf
verlässt, dass die Kirchen zu den Suppenküchen der Gesellschaft werden?
Ich wünsche mir, dass unsere Kirchen Reiche und Arme zusammen bringen, und
zwar auf Augenhöhe, so dass die Würde des anderen gewahrt bleibt. Dass sich
die Hartz-IV-Empfängerin neben dem Unternehmer nicht schämen muss.
Gemeinden und Diakonie können da eine stark bindende und verbindende Kraft
sein.
Aber die Aufspaltung der Gesellschaft macht doch vor den Kirchentüren nicht
Halt.
Die Gefahr ist dann da, wenn die Kirchen sich selbst sozial aufspalten,
wenn die einen also in eine reiche Kirche gehen und die anderen in eine
arme. Wir sehen solche Beispiele in den USA und Korea, dort gibt es sehr
wohlhabende und sehr arme Kirchen.
Ist es nicht ein Problem, dass die Kirchen doch sehr von der Mittelschicht
geprägt sind und dadurch die Empathie für die Armen verloren gehen könnte?
Nein. Wenn Sie sich ansehen, wo unsere Gelder hinfließen, dann sind das
nach den Gemeinden überwiegend die Bereiche Armutsbekämpfung,
Kindererziehung, Sozialarbeit, Schülerhilfen, Schuldnerberatung, Pflege.
Wichtig ist dabei natürlich, dass die Armen nicht nur Objekte unserer
Zuwendung werden, sondern Subjekte unserer Theologie, unseres
Gemeindelebens, unseres Glaubens sind. Aber ich erlebe ein hohes
Bewusstsein in unseren Gemeinden, was das anbelangt. Ich war gerade in
Bremerhaven, dort gibt es Gemeinden mit einem Arbeitslosenanteil von 22
Prozent. Das prägt natürlich auch das Gemeindeleben. Kirche ist dort ein
Ort, wo sich verschiedene soziale Gruppen begegnen.
Befürchten Sie nicht, dass der Staat soziale Verantwortung auf die Kirchen
abschiebt?
Was die Kirchen tut, kann immer nur exemplarisch sein, wir können
beispielsweise in einer hannoverschen Schule eine Mittagstafel anbieten,
bei der 20 Kinder warmes Essen und Hausaufgabenhilfe bekommen. Eigentlich
sind 250 Kinder bedürftig, aber das können wir uns nicht leisten. Es muss
Schulen geben, bei denen der Staat dafür zahlt, dass jedes Kind ein warmes
Mittagessen bekommt. Hier kann die Kirche nicht die Aufgaben des Staates
übernehmen, sondern sollte ihn dazu drängen, seine Pflichten zu erfüllen.
Man hat aber nicht den Eindruck, dass das die Armutspolitik der
christlich-liberalen Koalition ist.
Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen würde diese Forderung
unterstützen. Es ist aber natürlich dann auch die Frage, wie
durchsetzungsfähig eine solche Forderung in der Koalition ist.
Hat Kanzlerin Merkel auch dieses Bewusstsein?
Das glaube ich schon.
Weil sie eine Pfarrerstochter ist?
Vielleicht auch, denn so ein Pfarrhaus kann schon sehr positiv prägen.
18 Feb 2010
## AUTOREN
(DIR) Philipp Gessler
(DIR) Ines Pohl
## ARTIKEL ZUM THEMA
(DIR) Westerwelle am Aschermittwoch: Für seine Verhältnisse fast gemäßigt
Der FDP-Chef weist seine Kritiker zurück und spricht so, als gehörte er gar
nicht zum Politikbetrieb. Seine "Anliegen für den Umbau des Sozialstaats"
bleiben nebulös.
(DIR) Wie Westerwelle bei Grünen punktet: Klassenbewusst wie die FDP
Guido Westerwelle ist kein Rechtspopulist, wenn er Hartz-IV-Empfänger
angreift. Er weiß, dass er mit seinen Tiraden auch in grün-linken Milieus
ankommt.
(DIR) Kommentar Hartz-IV-Debatte: Freie Wahl der Armut
Der materielle Anreiz als Triebfeder wird schwächer, zeigen die
Armutszahlen. Wir müssen uns damit arrangieren, dass wir es uns aussuchen
können, ob wir arbeiten oder nicht.
(DIR) FDP-Chef legt nach: Westerwelles Wut auf "linken Zeitgeist"
In der Debatte über seine Kritik am Sozialstaat gibt sich Außenminister
Westerwelle unbeirrt. Die SPD warnt vor außenpolitischem Schaden für
Deutschland durch den "sozialpolitischen Brandstifter".
(DIR) Hartz IV und der Untergang Roms: Die Wonnen der Dekadenz
Der Vizekanzler und FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle benutzt einen
antiliberalen Kampfbegriff, den sich der Chef einer liberalen Partei
niemals zu eigen machen darf.