# taz.de -- In sieben Bundesländern wird 2011 gewählt: Rot-Grün? Na ja, besser als nix
       
       > Wie gut passen die rot-grünen Projektpartner von einst noch zusammen?
       > Oder inhaltlich gefragt: Ist ökologisch und sozial ein Widerspruch?
       
 (IMG) Bild: Renate Künast und Klaus Wowereit: Beide wollen in Berlin die Wahl gewinnen.
       
       BERLIN taz | So was von 20. Jahrhundert! Wenn Winfried Kretschmann liest,
       wie der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel den "alten Fortschrittsbegriff
       wiederbeleben" will, indem er ihn "neu" nennt, kann er nur den Kopf
       schütteln. Der alte Fortschrittsbegriff sei durch die Ökologiebewegung
       längst aus der politischen Arena geflogen.
       
       In Hintergrundgesprächen wird man noch deutlicher: Die Grünen zetern über
       die vermeintliche politisch-intellektuelle Rückständigkeit der SPD, die SPD
       zetert über das vermeintlich illusionäre Ökogefasel der Grünen, das man
       unbedingt bremsen müsse. Grundsätzlicher Tenor: Die jeweils anderen haben
       es programmatisch und personell leider nicht drauf, die kann man "in der
       Pfeife rauchen". So viel zur rot-grünen Renaissance, die manch Nostalgiker
       seit der Bildung einer entsprechenden Regierung in Nordrhein-Westfalen für
       2011 heraufziehen sieht.
       
       Immerhin kann es ein Jahr werden, nach dem sich die SPD besser und stärker
       fühlt - und es vielleicht auch in Maßen sein wird. Vier der Landtagswahlen
       finden in Hochburgen der SPD statt - oder dem, das davon übrig ist:
       Hamburg, Bremen, Berlin, Rheinland-Pfalz. In dreien dieser Länder stellt
       die SPD den Ministerpräsidenten. Zusammen macht das aber nur etwa zehn
       Millionen Einwohner, ein Achtel Deutschlands.
       
       Trotz behutsamer Neupositionierung seit dem Dresdner Parteitag im
       vergangenen November zulasten der Linkspartei, trotz überdurchschnittlicher
       Beschädigung der Regierungskoalition und trotz maximalem Akzeptanzschwund
       der FDP liegt die SPD im Bund in Umfragen weit hinter der CDU.
       
       Früher wäre das in einer solchen Situation umgekehrt gewesen. Rot und Grün
       zusammen kommen maximal auf 45 Prozent. Das Parteiensystem hat sich durch
       die Linke erweitert. Die Gesellschaft, sagen Parteienforscher, sei nicht
       mehr polarisiert, sondern fragmentiert. Die angebliche "neue
       Übersichtlichkeit", die SPD-Chef Sigmar Gabriel sehen will, ist eine
       Schimäre beziehungsweise strategische Kommunikation.
       
       Was aber, wenn Schwarz-Gelb bei der Bundestagswahl 2013 keine Chance mehr
       hat und Rot-Grün auch nicht, Schwarz-Grün von Kanzlerin Angela Merkel
       derzeit als "Hirngespinst" abgetan ist und Rot-Grün-Rot von SPD-Chef
       Gabriel ausgeschlossen wird? Bleiben Schwampel- und Ampeltheorien - und
       das, was früher große Koalition hieß.
       
       Da lautet die Frage: Wo passiert etwas, das neue Dynamik bringt? Die
       nächstliegende Vermutung: in Stuttgart, in Bahnhofsnähe. Da liegt auch
       jener Landtag, der jahrzehntelang keinen Menschen interessierte.
       
       Aber nun ist die CDU Baden-Württemberg nach 57 Jahren als Regierungspartei
       erkennbar müde. Die Grünen sind an der Seite der Bürgerbewegung gegen das
       Verkehrs- und Immobilienprojekt Stuttgart 21 und die vermeintlich
       dahinterstehenden Wirtschafts- und Regierungskräfte zum ersten und
       ernsthaften Gegner geworden.
       
       Ein gemeinsamer rot-grüner Gegenentwurf zum "CDU-Staat" von
       Ministerpräsident Stefan Mappus steht indes nicht zur Wahl. Der grüne
       Spitzenkandidat Winfried Kretschmann kennt und schätzt den
       SPD-Spitzenkandidaten Nils Schmid ("Mit ihm zieht Seriosität ein") und
       sagt, er könne sich "gut vorstellen", mit Schmid einen "richtigen
       Politikwechsel hinzubekommen". Aber, auch das sagt er: "Ich sehe kein
       rot-grünes Projekt, jenseits der Koalition und Regelung von Sachfragen."
       
       Schon beim SPD-Fraktionsvorsitzenden Claus Schmiedel fangen Kretschmanns
       Vorbehalte an. Die Grünen machen sich seit Jahren keine Mühe, zu verbergen,
       dass sie sich für die Premiumopposition halten und die Landes-SPD weder
       inhaltlich noch strategisch für satisfaktionsfähig halten. Und
       finanzpolitisch sogar für unseriös.
       
       "Ohne überheblich zu sein", sagt Kretschmann, der wirklich nicht zur
       Überheblichkeit neigt, "das meiste wird auf unseren grünen Schultern
       lasten." Seine Prognose: "Wenn es Grün-Rot gibt, wird es gut klappen,
       umgekehrt wird es harte Reibungen geben."
       
       Die enorme gesellschaftliche Umorientierung seit dem Sommer kam den Grünen
       zwar zugute, hat sie aber auch überrascht. Kretschmann, 62, gilt manchen
       als Musterexemplar des schwäbisch-christlichen Ökokonservativen. Sein
       "großes Projekt" sagt er, sei immer der Schritt gewesen "weg von einer
       Schnittmengen-Koalition zu einer spannungsreichen Koalition, in der eine
       positive Dynamik" entstehe.
       
       Die Zukunft von baden-württembergischer Wirtschaft und Gesellschaft sah er
       bis zum Sommer aus der Dynamik von grüner Ökologie und Wirtschaftsnähe der
       CDU entstehen. Dass sich Bundesumweltminister Norbert Röttgen im
       parteiinternen Streit um den Zeitpunkt des Atomausstiegs und die damit
       verbundene Energiewende nicht durchsetzen konnte, hält er für eine
       "historische Niederlage". Für Kretschmann ist die CDU "an einem
       Scheidepunkt noch einmal in die falsche Richtung gegangen".
       
       Letztlich steht der Streit um den besseren Bahnhof für ihn pars pro toto
       für die Frage: Wie sortieren wir Markt, Staat und Bürgergesellschaft neu?
       Wie modernisieren wir die Industriegesellschaft unter dem Diktum der
       Schuldenbremsen? Wirtschaftspolitisch sehen die Grünen die SPD im Land nahe
       bei der CDU. Die Landes-SPD ist für Großprojekte immer zu haben - und sie
       war von Anfang an für Stuttgart 21, das sie für ein ökologisches Projekt
       hält.
       
       Da die Mappus-CDU derzeit in Umfragen über 40 Prozent Zustimmung hat, aber
       den bisherigen Partner FDP offenbar abgeschrieben, beäugen sich Grün und
       Rot misstrauisch: Gabriel warnt davor, dass die Grünen am Ende mit der CDU
       regieren und den Tiefbahnhof bauen würden. Die Grünen sorgen sich, dass die
       SPD Juniorpartner der CDU wird und den Bahnhof baut. Und Grünenskeptiker
       oder Realisten gehen davon aus, dass auch ein Ministerpräsident Kretschmann
       am Ende bauen muss.
       
       Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die SPD im Streit um Stuttgart 21
       keine Rolle gespielt hat, auch wenn Landeschef und Spitzenkandidat Schmid
       das mit der Forderung nach einem Volksentscheid versucht hat. Damit war
       zwischen den Polen CDU (bauen!) und Grüne (anders bauen!) weder Wahrnehmung
       noch Zustimmung zu gewinnen.
       
       Schmid ist Jurist aus Nürtingen und mit 37 eine Art Nachgeborener der
       rot-grünen Jahre. Er artikuliert die anderswo üblichen roten
       Abschätzigkeiten gegenüber den Grünen eher verhalten. Die CDU solle nach 57
       Jahren in die Opposition, "wenn Rot-Grün eine Mehrheit hat, wird die auch
       umgesetzt" - auch für den Fall, dass die Grünen als größere Fraktion den
       Ministerpräsidenten stellen.
       
       Was er zur Sorge mancher Grünen sagt, die SPD würde aus Angst vor einem
       Dammbruch lieber noch mal Juniorpartner der CDU als erstmals Juniorpartner
       der Grünen? Erstens: Die Abschaffung des "am Parlament vorbei agierenden
       CDU-Staats" habe Priorität, zweitens glaubt er nicht, dass seine Wähler es
       goutieren, wenn sie SPD wählen und Mappus kriegen. Und drittens:
       "Juniorpartner ist in beiden Fällen nicht besonders prickelnd." Falls
       Grün-Rot keine Mehrheit bekommt, hat die Ablösung der FDP Priorität.
       
       Aus Schmids Sicht könnten SPD und Grüne in entscheidenden Bereichen das
       Land modernisieren: in der Bildungspolitik, in Sachen Bürgerpartizipation,
       bei der Einleitung der Energiewende. Und die Schirmherrschaft bei der
       Schwulen- und Lesbenparade Christopher Street Day würde er im Gegensatz zu
       Amtsinhaber Mappus auch übernehmen.
       
       In Hamburg hat der Wähler am 20. Februar klare Sicht: Rot-Grün wird bei
       Mehrheit gemacht, den Bürgermeister stellt eine starke SPD, er dürfte Olaf
       Scholz heißen. Schwarz-Grün ist für diesmal ausgeschlossen. Die erste
       schwarz-grüne Regierung auf Landesebene von Mai 2008 bis November 2010 wird
       gern als komplett gescheitert dargestellt - vor allem wegen der per
       Volksentscheid gekippten Grundschulreform.
       
       Beteiligte sehen das naturgemäß anders. "Wir haben zweieinhalb Jahre
       gezeigt, dass es funktionieren kann", sagt Christian Maaß, der als Grüner
       Staatsrat in Anja Hajduks Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt war.
       Hajduk ist nun Spitzenkandidatin der Grünen, die hier GAL heißen. Für Maaß
       hat es darum funktioniert, weil die Personen stimmten, das Vertrauen da
       war, "ehrlicher Respekt" und vor allem die Bereitschaft, auf die
       Befindlichkeiten und Grenzen des jeweils anderen und seiner Wähler
       Rücksicht zu nehmen, auch wenn man selbst und die eigene Wählerschaft mehr
       will.
       
       "Koalition der Ergänzungen" lautete der Werbeslogan und bedeutete: Wir
       machen das hier und halten uns dafür dort raus - und umgekehrt. Das war aus
       grüner Sicht nach dem Abgang Ole von Beusts, dem Aufstieg des
       Ahlhaus-Flügels und einer veränderten CDU-Strategie nicht mehr möglich.
       
       Bis dahin galt: Erfolge sollten "nicht durch Demütigung des Partners"
       erreicht werden. Das war offenbar zu Zeiten der rot-grünen Koalition Usus,
       die 2001 nach vier Jahren abgewählt wurde. Atmosphärisch geht es also um
       die Frage, ob man die Arbeitsgrundlage der Von-Beust-Phase auch mit der SPD
       hinbekommt. Und inhaltlich geht es auch in Hamburg darum, wie das
       unterschiedliche Verständnis von Modernisierung ohne größere Misstöne
       nebeneinander herlaufen kann.
       
       Für die Grünen ist der Bau einer Stadtbahn verkehrs-, stadt- und
       umweltpolitisch zentral. Die Stadtbahn steht für den politischen Willen und
       die Kraft zur urbanen, ökologischen Moderne. SPD-Spitzenkandidat Olaf
       Scholz hingegen sieht dafür "im Augenblick keine Perspektive". Das, sagt
       Maaß, sei schon "ein bisschen erschütternd". Für die Grünen unterscheidet
       sich die SPD in ihrer Wachstumsbegeisterung für ein infrastrukturelles
       Großprojekt wie die Elbvertiefung nicht von der CDU. Womöglich fällt Scholz
       sogar hinter von Beust zurück.
       
       Aus grüner Sicht konstruiert die SPD aus Überzeugung oder Strategie bei
       diesen Themen gern aufs Neue den Widerspruch zwischen der ökologischen und
       der sozialen Frage, der in seiner populistischen Verknappung darauf
       hinausläuft, dass Grüne "Besserverdiener" seien, die gut reden hätten, bei
       denen aber "die Gerechtigkeitsansprüche etwas in den Hintergrund geraten"
       seien, wie es Schmid formuliert.
       
       Führt die "unsoziale Politik" von Union und FPD wieder zu den "klassischen
       Auseinandersetzungslinien", wie Schmid und die SPD behaupten, also oben und
       unten, arm und reich? Oder ist die "ökologische Transformation" der Grünen
       das politische Instrument, um im 21. Jahrhundert Gerechtigkeit zu schaffen,
       Wohlstand zu wahren und Klimawandel zu meistern, weil "im Weltmaßstab die
       soziale Frage eine ökologische ist", wie der Fraktionsvorsitzende der
       Grünen im Europarlament, Daniel Cohn-Bendit, sagt? Je nach Betrachter,
       Aktualität und Kommunikationsziel können dazwischen Welten liegen - oder
       auch nicht.
       
       Der Göttinger Politologe Franz Walter hatte Rot-Grün schon im Jahr 2008 als
       "Konstellation von gestern" bezeichnet und die Wegbewegung der Grünen aus
       dem früheren "linken Lager" beschrieben. Im Moment sieht es aus, als würde
       die ökologische Frage neue Teile der Gesellschaft erreichen und dadurch die
       Grünen weiter verändern. Selbst bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen haben
       sie 170.000 klassische rotgrüne Wechselwähler von der SPD gewonnen - und
       zudem 90.000 von der CDU. Derweil hat man 20.000 an die Linke verloren.
       
       Dass Rot und Grün in Wahrheit genauso erbitterte Konkurrenten sind wie
       Schwarz und Grün, wird zumindest bei der Abgeordnetenwahl in Berlin
       offengelegt, wo im Herbst die grüne Bundestagsfraktionsvorsitzende Renate
       Künast in unklarer Koalitionslage mit dem Regierenden Bürgermeister Klaus
       Wowereit (SPD) um dessen Amt kämpft.
       
       Ob die Grünen als dritte gesellschaftliche Strömung und Partei in etwa
       gleicher Größe neben die ehemaligen Volksparteien treten: Dafür und dagegen
       werde im nächsten Jahrzehnt gekämpft, glaubt Robert Habeck. Der
       schleswig-holsteinische Fraktionsvorsitzende war einer der Ersten, der das
       Prinzip der grünen "Eigenständigkeit" offensiv mit Führungsanspruch und
       deutlich wachsender Wählerzahl über das alte Milieu hinaus verknüpfte.
       
       "Die Hinwendung zur SPD ist aus negativer Haltung zur Union abgeleitet",
       sagt er. Vor einem Jahr sei die "politisch-gesellschaftliche Situation viel
       offener" gewesen. Das ist für ihn vorbei, "weil die Union sich entschieden
       hat, die alte Union zu werden - und den Grünen den Krieg erklärt hat."
       
       Das sei Simulation der Achtzigerjahre und entspreche nicht der
       gesellschaftlichen Entwicklung. Es herrsche aber weiter "aus der Erfahrung
       der Vergangenheit SPD-Skepsis". Um es genau zu sagen: "Aus meiner Sicht ist
       die SPD eine unentschiedene und undynamische Partei, so dass ich nicht
       sehe, wie durch eine Kopplung der Kräfte eine Dynamik wie 1998 entstehen
       kann." Habecks Einschätzung: "Als kleiner Koalitionspartner ist die SPD
       deutlich attraktiver denn als größerer."
       
       Nun gibt es aber eine Entwicklung, über deren Dimension sich noch niemand
       im Klaren ist. Wenn das gemeinsame Neue der Bürgerproteste nicht ein
       konservativer oder revolutionärer Inhalt ist, sondern das
       Repräsentatitionsdefizit und der nachhaltige Partizipationswille eines
       Teils der Bürger? Dann könnte ausgerechnet im Stuttgarter Landtag
       tatsächlich "Geschichte auf ein neues Blatt geschrieben" werden, wie
       Cohn-Bendit in bewährtem Pathos prognostiziert.
       
       Nicht weil Kretschmann erster grüner Ministerpräsident eines Bundeslandes
       würde, sondern wenn es Grün und Rot tatsächlich gelänge, diese
       gesellschaftliche Kraft einzubinden.
       
       Sowohl Kretschmann als auch Schmid wollen zu Stuttgart 21 die Bürger
       befragen und generell den Spielraum der direkten Demokratie im Land
       vergrößern. Während Mappus offenbar hofft, die Leute würden sich irgendwann
       wieder der Kehrwoche widmen, sagt Schmid: "Dieser neue partizipative Trend
       der Gesellschaft wird anhalten."
       
       Kretschmann sagt, den Bürgerprotest in Handlung und Gestaltung zu
       überführen sei die Aufgabe der nächsten Jahre. Und dabei "wollen wir
       Baden-Württemberg nicht zum größten Debattierklub aller Zeiten machen,
       sondern auch entschieden handeln". Dann müsste man neben der Pflege der
       parlamentarischen Mehrheit und ihrer Absicherung durch die Bürger noch die
       Stammkundschaft befriedigen und die neuen Wähler halten. Und mit den engen
       Spielräumen klarkommen. Das alles in Zeiten, die Politikern, die etwas
       verändern wollen, nicht grade Mut macht.
       
       Wie geht das? Tja, sagt Kretschmann: "Das hinzubekommen ist die historische
       Aufgabe der Grünen." Die SPD kann gerne mitmachen.
       
       14 Jan 2011
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Unfried
       
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