# taz.de -- Kritikerin des Gesundheitswesens: Geld oder Leben
       
       > Ein Gespräch über die Demontage unseres Gesundheitssystems: Die
       > Kritikerin Renate Hartwig erzählt. Fortsetzung von Teil I.
       
 (IMG) Bild: „Gesundheit müsse von der Peripherie ins Zentrum der Wirtschaft rücken, vollberechtigte Handelsware werden.“ (Hiroshi Nakajima, ehemaliger Generaldirektor der WHO)
       
       Im vorigen Monat [1][erzählte Frau Renate Hartwig], Publizistin, die sich
       in ihren Recherchen 2007 auf das Gesundheitssystem konzentriert, über
       Missstände dort. Hier folgt die Fortsetzung: 
       
       „In der Zwischenzeit ist am 9. November auf einstimmigen Beschluss des
       Bundestages die Praxis- bzw. Kassengebühr zum 1. 1. 2013 abgeschafft
       worden. Das klingt wie eine gute Nachricht. Ich will’s mal so sagen: Es war
       ein Kuhhandel, für den wir sicher noch zahlen müssen. Politische Stümperei,
       genauso gescheitert wie der ’Hausarztvertrag‘. Unser Gesundheitssystem war
       mal gut, vor den ’Reformen‘, aber es wird für uns immer teurer und
       schlechter, denn es ist in schlechten Händen!
       
       Ich gebe gleich ein paar Beispiele. Ich schau zu, wie es seit Jahrzehnten
       Schritt um Schritt demontiert wird, wie wir immer massiver in eine von
       mächtigen, kommerzgesteuerten Kartellen beherrschte Medizin
       hineinmanövriert werden. Ich will aber als Patient nicht vermarktet werden,
       ich will nicht, dass der arme oder alte kranke Mensch durch den Rost
       rutscht, dass der Kassenpatient immer mehr entrechtet und belastet wird.
       
       90 Prozent der Bevölkerung sind Kassenpatienten, 180 Milliarden zahlen die
       Beitragszahler jährlich ein ins System. Die Kassenpatienten, würde man
       denken, haben ein Recht, darauf zu vertrauen, dass ihre Beitragsgelder dem
       Solidarsystem zugutekommen und nichts abgezweigt wird für irgendwelche
       anderen Zwecke. Sie haben das Recht, darauf zu vertrauen, dass sie dann,
       wenn sie zum Arzt gehen und krank und bedürftig sind, Hilfe und Zuspruch
       bekommen.
       
       Aber an dieses Recht kann höchstens der glauben, der noch jung und gesund
       ist. Solange er nicht aus Krankheitsgründen eine Gegenleistung benötigt,
       wird er umworben und mit Serviceangeboten bedacht. Aber wehe, die Geisel
       einer Krankheit, einer Behinderung, einer notwendigen Pflege zwingt dazu,
       die Leistungen der Krankenkasse in Anspruch zu nehmen. Dann gerät der
       Kassenpatient plötzlich in die Rolle des Bittstellers, wird zum ungeliebten
       Kostenfaktor!
       
       ## Die Ärzte
       
       Wenn ich als Kassenpatient zum Arzt gehe, stehe ich automatisch in der
       Almosenecke. Die Argumentation bei vielen Ärzten ist, wenn ich einen
       Privatpatienten behandle, dann finanziert der zwei oder drei
       Kassenpatienten mit. Diese Ärzte haben es bis heute nicht begriffen, dass
       WIR die Financiers dieses Systems sind – und wir finanzieren auch noch die
       ganzen Beamten durch unsere Steuergelder mit, die sind ja alle
       Privatpatienten.
       
       Aber das ist wieder ein anderes Thema. Jedenfalls sind die Ärzte mit ihrem
       Budget von 32 Euro im Quartal pro Kassenpatient nicht zufrieden, zwanghaft
       erzählen sie ihren Patienten, und auch noch während der Behandlungszeit,
       dass sie nicht zurechtkommen.
       
       Es ist jetzt schon so, dass sehr kranke Patienten nicht aufgenommen oder
       nicht weiter behandelt werden von den Kassenarztpraxen. Es gibt Schulungen
       für Sprechstundenhilfen – die inzwischen ’medizinische Fachangestellte‘
       heißen –, wo sie lernen, wie sie die abwimmeln.
       
       Wenn der Patient zum Beispiel angibt, ich bin vor einem Jahr an Krebs
       operiert worden und habe dies und das an Krankheiten, dann muss die
       Sprechstundenhilfe zu ihm sagen: Tut mir wirklich leid, aber wir sind so
       voll, wir haben sehr lange Wartezeiten, wir können keine Patienten mehr
       aufnehmen. Und sie empfiehlt einen Kollegen, damit der ’teure Kranke‘ zu
       dem geht. Und die Erklärung des Arztes: ’Wenn ich für mehr als 32 Euro
       behandle, dann zahle ich drauf.‘ Originalton!!
       
       ## Gesetzlich vs. Privat
       
       Ich sage dazu Folgendes: Ich bin bei der Kasse versichert, Sie als Arzt
       oder Ärztin haben als Kassenarzt die Zulassung beantragt und erhalten, und
       folglich haben sie mich zu behandeln! Und zwar aufgrund meiner Krankheit
       und nicht aufgrund ihres Honorars!! Ja, warum ist er denn Kassenarzt
       geworden? Er hätte ja auch die Unsicherheit und den Konkurrenzkampf einer
       Privatpraxis wählen können.
       
       Der Traum vieler Ärzte ist ja, dass die Patienten, wo sie jetzt schon mal
       dran gewöhnt sind, weiterhin 10 Euro zahlen für jeden Arztbesuch. Sie
       sagen, sie übernehmen einfach das angebliche Lenkungsinstrument, um ihn
       dazu zu erziehen, dass er nur kommt, wenn es wirklich notwendig ist. Der
       Unterschied wäre, dass das Geld bei den Ärzten bleibt.
       
       Diese Diskussion gibt es. Das ist die eine Hälfte der Ärzte. Die andere
       Hälfte sagt, wir müssen das ganz anders machen, wir wollen, dass eine
       Direktabrechnung eingeführt wird. Das bedeutet, ich gehe als Kassenpatient
       wie mit der Katz zum Tierarzt, der gibt mir eine Rechnung und die bezahle
       ich ihm.
       
       Die Rechnung gebe ich dann der Krankenkasse und die gibt mir das Geld
       zurück. Das ist die Theorie. Die Praxis ist dann aber, ich kriege eben
       keine ’Kostenerstattung‘, sondern ich kriege nur einen Teil von dem, was
       ich bezahlt habe, zurück. Man muss das wissen, bei Kostenerstattung zahlt
       der Bürger drauf. Immer! Punkt!
       
       ## Weg der Privatisierung
       
       Da sind wir dann schon nah an der Selbstzahlernummer, so wie in Amerika.
       Mit der Politik zusammen haben die Kassen den Patienten gegenüber schon
       längst die Jalousie runtergelassen. Sie haben den Weg zur Privatisierung
       eingeschlagen.
       
       Jeder Patient wird zum Freiwild. Also was ist denn das für ein
       Scheißsystem, das letztendlich nur die Basis dafür hergibt, dass wir nix
       anderes im Kopf haben, als bis zum Maximum alles rauszuholen und bis zum
       Letzten alles abzuschöpfen?!
       
       Seit die Praxisgebühr weg ist, schreiben mir Versicherungen und bieten mir
       den Abschluss einer Zusatzversicherung an, und zwar für die
       Kostenerstattung! Was die für Folgen für den einzelnen Versicherten hat in
       diesem Land, das hab ich mal 3 Monate lang über unsere schöne
       ’Bürgerschulterschluss‘-Bewegung durchspielen lassen.
       
       Die Leute in 600 Bürgertreffs gingen zu ihren Kassen und haben gefragt, wie
       das aussieht, wenn auf Direktabrechnung/Kostenerstattung umgestellt wird.
       Und was kam raus? Sie glauben’s nicht! Bei der Kostenerstattung nach § 13
       SGB V erstatten die Kassen aufgrund eines speziellen Berechnungsschlüssels
       nur einen Teil der eingereichten Arztrechnung, so z. B. die Barmer GEK, nur
       40 Prozent! Also die zahlen 40 Prozent der Arztrechnung und 60 Prozent zahl
       ich selber! Passen Sie auf! Das ist Sprengstoff hier in diesem Text, davon
       wird noch nicht laut gesprochen.
       
       ## Die Praxisgebühr ist weg
       
       Das regt mich wahnsinnig auf, da werde ich wütend, wenn eine Vorsitzende
       der Kassenärztlichen Vereinigung sagt: So, die Praxisgebühr ist weg, jetzt
       gehen wir den zweiten Schritt, jetzt gehen wir in Richtung
       Kostenerstattung. Ob wir Kassenpatienten das wollen oder nicht, das ist den
       Ärzten vollkommen egal. Die hätten ja dann ihr Geld schon und sie finden,
       das ist die Sache der Patienten, sich die 100 Prozent zu erkämpfen.
       
       Genau hier ist mein Ansatz der Verärgerung: Keiner der Ärzte, die
       Kostenerstattung fordern, hat sich um die praktische tatsächliche Umsetzung
       gekümmert und was das für uns als Kassenpatienten bedeutet. Die Ärzte haben
       nur diesen Hauptblickwinkel: Wie sieht es auf meinem Konto aus? Von den
       hundertvierzigtausend niedergelassenen Ärzten, die es ungefähr gibt, kann
       man vielleicht mit zehn davon eine halbe Stunde über die Probleme des
       Gesundheitssystems reden, ohne dass sie gleich auf ihr Geld zu sprechen
       kommen.
       
       Ich kenne mindestens drei Dutzend Sprechstundenhilfen persönlich, die mir
       erzählt haben, dass sie von ihren Ärzten Geld bekommen, wenn sie teure
       Patienten wegschicken und wenn sie Igel-Leistungen verkaufen. Man muss es
       so sagen: Ein Großteil der Ärzte, insbesondere der Fachärzteschaft, ist
       dafür, das Solidarsystem abzuschaffen. Das ist ein Skandal, jeder, der das
       will und an unserem Beitragsgeld, an unser Krankheit, an unserem Alter, an
       unserem Leid profitiert, betreibt Demontage aus purem Eigennutz.
       
       ## Die Kassen
       
       Und auf der anderen Seite sind da die Kassen. Ich habe festgestellt, wir
       sind im 128. Jahr der Geschichte der gesetzlichen Krankenkassen und heute
       sind wir fast am Ende angekommen. Der Weg, der eingeschlagen wurde, der
       hieß: Bürokratisierung, Detailkontrolle und Übernahme
       betriebswirtschaftlicher Methoden.
       
       Das führt zum Untergang von dem, was gut ist, nämlich dass der Mensch im
       Mittelpunkt steht. Es geht nicht mehr um eine gute Versorgung, es geht
       primär ums Geschäft. Es geht um jährlich etwa 180 Milliarden, die ins
       Solidarsystem unseres Gesundheitswesens eingezahlt werden – in den
       sogenannten Gesundheitsfonds, der wurde ja als Inkassostelle installiert,
       zur Verteilung der Beitragsgelder an die Kassen.
       
       Nebenbei bemerkt, hat der in diesem Jahr 12,7 Milliarden Überschuss, und da
       sind die Milliardenüberschüsse in den Töpfen der Kassen, die sie
       ’Rücklagen‘ nennen, gar nicht mitgezählt. Dann kommt noch ein dicker Batzen
       Geld zusammen, durchschnittlich jährlich 350–400 Euro je Kassenpatient, die
       aus eigener Tasche bezahlt werden müssen, weil zahlreiche Behandlungen
       nicht mehr erstattet werden von den Kassen.
       
       Und auf diesen riesigen Geldfluss richten sich natürlich viele
       Begehrlichkeiten. Ärzte, Apotheker, Krankenhäuser, Pharmaindustrie und so
       fort, alle fordern ihren Anteil von der Beute. Der Gesundheitsmarkt ist der
       größte Wachstumsmarkt Deutschlands. Das muss man laut aussprechen.
       
       ## Reichtum
       
       Die Macht, die die gesetzlichen Krankenkassen haben, aufgrund unseres
       Geldes nämlich, die ist ungeheuer groß. Diese Krankenkassen, die unsere
       Milliarden an Beitragsgeldern lediglich verwalten sollen, verfügen
       großzügig über ’ihren‘ Reichtum. Von den Verwaltungspalästen, die sie sich
       bauen, ist schon viel berichtet worden.
       
       Weniger bekannt ist, dass sie immer mehr Konzerncharakter kriegen, dass sie
       krakenhaft unentwegt GmbHs gründen. Beispielsweise hat die AOK eine GmbH
       für Reisen, auch eine GmbH für Medien, die wiederum Verträge hat mit Sat.1,
       mit dem Stern und wie sie alle heißen. Ja, wo sind wir denn?!
       
       Die Allgemeinen Ortskrankenkassen sind zunächst einmal ’Körperschaften des
       öffentlichen Rechts‘. Sie arbeiten in staatlichem Auftrag. Sie verwalten
       die Beiträge ihrer Mitglieder, Arbeitnehmer und Arbeitgeber überlassen sie
       ihnen zu „treuen Händen“, wie man so schön sagt.
       
       Gehören da superteure Fernsehwerbespots, Plakataktionen und Videos auf
       Onlineseiten dazu? Gehört dazu eine Firma wie die ’AOK Systems GmbH‘? Das
       Unternehmen zählt mit Sitz in Bonn und Niederlassungen in Hamburg,
       Frankfurt, Stuttgart und München nach eigenen Angaben zu den
       „erfolgreichsten“ IT-Beratungs- und Entwicklungshäusern im
       Gesundheitswesen.
       
       ## Die Gründung einer GmbH
       
       Sein Umsatz betrug 2010 rund 89 Millionen Euro. Zu den Kunden gehören die
       12 Ortskrankenkassen mit vier Rechenzentren, zwei Betriebskassen, die
       Barmer GEK, die Hanseatische Krankenkasse, die Knappschaft Bahn-See und der
       GKV-Spitzenverband. Stammkapital: 600.000 Euro. Wichtigster Partner ist der
       Software-Riese SAP.
       
       So. Nun müssen Sie dazu noch bedenken, dass man zur Gründung einer GmbH ja
       ein Eigenkapital braucht. Wo haben sie das her? Und dann muss man doch
       fragen, wo gehen denn eigentlich die Gewinne hin von diesen GmbHs? Wir
       erfahren es nicht! Und die Politik lässt die Krankenkassen gewähren.
       
       Sie sieht dabei zu, wie sie ihre Aktivitäten immer weiter entfalten,
       außerhalb ihrer Aufgaben als Solidarkassen, und wie sie sich von einer
       staatlichen Institution mit klarem gesetzlichen Auftrag in ganz normales
       Dienstleistungsunternehmen verwandeln, die auf Gewinnerzielung aus sind.
       
       Weil wir das ohne zu protestieren zulassen, sehen sie uns als entmündigte
       Bürger an, mit denen man umspringen kann. Das kann man sich aber nicht
       gefallen lassen! Drum sag ich: Wir, die 70 Millionen Beitragszahler, wir
       verlangen Rechenschaft über diese Aktivitäten!
       
       Die Kassen haben offenzulegen, aus welchen Geldquellen sich die
       Anschubfinanzierung sowie die laufenden Kosten speisen. Wohin die möglichen
       Gewinne gehen, und auch das möchten wir wissen, wer kommt für die Defizite
       auf?! Angesichts zahlreicher massiver Beschränkungen in der
       Patientenversorgung sind diese unternehmerischen Gründungsaktivitäten ganz
       besonders unverschämt.
       
       ## Selbstbedienung
       
       Unverschämt ist auch die Mentalität der Selbstbedienung in den Chefetagen
       der Kassen. Aus Geschäftsführern wurden über Nacht Vorstandsvorsitzende.
       Ihre Bezüge sind höher als die der Funktionäre der Kassenärztlichen
       Vereinigungen. Bei der AOK erhalten sie, wie in einer börsennotierten
       Aktiengesellschaft, neben einem stattlichen Grundgehalt noch eine
       Bonuszahlung obendrauf.
       
       Wofür gibt es die fünfstellige Gutschrift? Die Kassen begründen die
       Sonderzahlungen ihrer Vorstände nicht, und Aufsichtsbehörden wie das
       Bundesversicherungsamt, die Landessozialministerien und das
       Bundesgesundheitsministerium, die schweigen ebenfalls dazu.
       
       Wir haben 170-200 Krankenkassen, in 16 Bundesländern, das ist doch ein
       Wahnsinn! Und alle befinden sich im staatlich verordneten Wettbewerb. Also
       für mich gibt’s das nicht, ’Wettbewerb‘ im Gesundheitswesen. Weil, was
       sollen denn die mit mir für einen Wettbewerb machen, wenn ich krank bin?!
       Wenn ich krank bin, dann brauche ich eine Behandlung und sonst nichts!“
       
       Frau Hartwig bittet um eine kleine Unterbrechung. Ich nutze die
       Gelegenheit, einen Einschub mit einem kleinen historischen Rückblick zu
       machen: 2004 trat das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
       Krankenversicherung“ (GKV Modernisierungsgesetz) in Kraft. Es wurde 2003
       von der rot-grünen Regierungskoalition unter Kanzler Schröder beschlossen
       (u. a. zur Senkung der Beiträge und Lohnnebenkosten und einer neuen
       Verteilung der Kosten).
       
       ## Ulla Schmidt
       
       Die zuständige Bundesgesundheitsministerin ( 2001–2009) war Ulla Schmidt
       (SPD). Einer der Bestandteile der Modernisierung war übrigens auch die
       Einführung der Praxis-/Kassengebühr sowie zahlloser neuer Zuzahlungen in
       Apotheke, Krankenhaus, Zahnarztpraxis und so fort.
       
       Weniger bekannt ist, dass Ulla Schmidt mit dieser Modernisierung die
       ärztlich Schweigepflicht ausgehebelt und alle sensiblen Daten der Patienten
       den Kassen zugänglich gemacht hat. Bis dahin waren die Kassenärztlichen
       Vereinigungen bei der Abrechnung dazwischengeschaltet.
       
       Die Kasse bekam die Kosten, aber keine umfangreichen Details der
       Erkrankungen mitgeteilt. Nunmehr aber erhielten die Kassen von den Ärzten
       bzw. von den Kassenärztlichen Vereinigungen patientenbezogene Diagnose- und
       Leistungsdaten.
       
       Sie bekamen Zugriff auf genaue Behandlungs- und Diagnoseprofile ihrer
       Versicherten, Disease-Management-Programme – angeblich zugunsten
       wissenschaftlicher Evidenz – sorgten dafür, dass über chronisch Kranke
       besondere Dokumentationen zur Verfügung gestellt werden. Die Kassen konnten
       nun Morbiditäts- und Kosten-Nutzen-Berechnungen aufstellen und ökonomisch
       in den Behandlungsverlauf eingreifen.
       
       ## Politik und Gesundheitswirtschaft
       
       Frau Hartwig erhält nun wieder das Wort: „Ja, wirklich, die schlimmsten
       Sachen hat Ulla Schmidt gemacht! Ich habe mal nachrecherchiert, wer denn
       eigentlich so die Fäden in ihrem Ministerium in der Hand hatte, und habe
       festgestellt, im Gesundheitsministerium werden die Entscheidungen in der
       mittleren Ministerialebene abgehandelt.
       
       Unter Ulla Schmidt bin ich auf einen Herrn Knieps gestoßen, und dieser Herr
       ist Rechtsanwalt und Krankenversicherungsexperte, kam von der AOK. Und ich
       bin auf einen Herrn Vater gestoßen vom Krankenhauskonzern Rhön-Klinikum AG.
       Nur zur Orientierung: Dieser börsennotierte Klinikkonzern vermehrt seine
       Gewinne brutal durch Einsparungen auf Kosten von Patienten, Personal und
       Material.
       
       Beispielsweise wurden die Sterbezimmer abgeschafft und die Kühlräume für
       die Verstorbenen. Die Toten bleiben bis zur Abholung durchs
       Bestattungsunternehmen im Krankenzimmer liegen. Das war ein absolutes Tabu
       zuvor. Indem die Politik sich solcher Berater bedient, werden die Böcke
       gezielt zu Gärtnern. gemacht. Diese Fachleute waren praktisch die, die
       alles vorbereitet haben.
       
       Ulla Schmidt war übrigens auch die Erste, die dort drüben war 2006, um sich
       wohlwollend das amerikanische Gesundheitssystem anzuschauen. Im Bank of
       America Building in San Francisco hat sie ins Luxusrestaurant im 52. Stock
       wichtige Herren zum Abendessen geladen damals – man kann das alles
       nachlesen.
       
       Ihre Gast war der Chef von Kaiser Permanente, der größten Versicherung der
       USA, mit circa 9 Millionen Versicherten und Umsätzen im mehrstelligen
       Milliardenbereich. Diese Versicherung ist zugleich ein Gesundheitskonzern,
       Betreiber von Kliniken, Ärzteorganisationen, Apothekenketten und eine
       IT-Plattform zur Vernetzung von Patientendaten. Die Versicherten dürfen,
       außer in Notfällen, nur hauseigene Ärzte, Kliniken und Apotheken in
       Anspruch nehmen.
       
       ## Der Kaiser Permanente
       
       Diese Kaiser Permanente ist, nebenbei bemerkt, 1972 entstanden, nachdem der
       Unternehmer Kaiser Präsident Nixon dazu überredet hatte, das
       Gesundheitssystem zu privatisieren. Wer sich ein Bild machen möchte vom
       amerikanischen Gesundheitssystem, der findet im Doku-Film ’Sicko‘ von
       Michael Moore die niederschmetternde Beschreibung der amerikanischen
       Realität.
       
       Ulla Schmidt jedenfalls war begeistert und hat diese Anregungen mit nach
       Hause genommen, wo sie nach und nach umgesetzt wurden und werden.Die ganze
       Geschichte der e-Card – sie geht auch auf das Konto von Ulla Schmidt – ist
       sehr aufschlussreich. Nämlich auch was die Rolle der Ärzte angeht. Bei den
       letzten Ärztetagen – so viel auch zum Thema Demokratie – hat die
       Ärzteschaft einstimmig die Einführung der e-Card abgelehnt. Ich war fest
       davon überzeugt, die wollen diese elektronische Gesundheitskarte nicht.
       
       Aber die Gesundheitspolitik, die Kassen und die Kassenärztliche Vereinigung
       (KV), die kennen die Masse der Ärzte ganz genau! Ich habe jetzt durch einen
       Zufall erfahren: Im Jahr 2011 haben die Ärzte ein Angebot gekriegt, wenn
       sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums sich das Lesegerät für die e-Card
       kaufen, dann bekommen sie 730 Euro von der KV erstattet.
       
       Das war zugleich ungefähr der Preis des Geräts. Ärzte, die ich gefragt
       habe, mussten nicht mal was draufzahlen oder nur eine geringe Summe. Ich
       habe dann bei den Landes-KVen und bei der Bundes-KV nachgefragt und es kam
       raus, über 90 Prozent der Ärzte haben inzwischen dieses Lesegerät. So viel
       zur Glaubwürdigkeit der Ärzte und ihrer Behauptung, dass sie sich wehren.
       
       ## Die e-Card wird aufgedrängt
       
       So, und was sie gefügig gemacht hat, ist wieder mal das Geld. Und STOP!
       Diese Lesegeräte, die man ihnen quasi geschenkt hat, sind bezahlt mit
       unseren Beitragsgeldern. Wir Patienten wollen aber die e-Card gar nicht,
       also sind sie uns wieder mal in den Rücken gefallen.
       
       Ich habe damals wirklich gedacht, wir Patienten wollen das nicht und die
       Ärzte wollen das nicht. Wenn wir also alle an einem Strang ziehen und uns
       gemeinsam verweigern, dann können die ihre e-Card einstampfen! Ich habe
       nicht damit gerechnet, dass die Ärzte sich für 730 Euro kaufen lassen!
       
       Und das geht ja noch weiter, wenn wir, die wir uns der e-Card verweigern –
       was Tausende von Leuten ja machen – mal zum Arzt müssen, dann will der von
       uns eine Unterschrift. Und wenn wir diese Unterschrift zum Datentransfer
       nicht geben, dann schreiben sie uns eine Privatrechnung nach
       Gebührenordnung, und wir müssen die Behandlung selbst zahlen.
       
       Weil, wer keine e-Card hat, angeblich nicht abgerechnet werden kann. Wir
       kriegen das dann auch von der Kasse nicht erstattet. Das ist die Sanktion
       der Kassen, mit der sie den Druck, den die Politik ihnen macht, an die
       Patienten weitergeben.“
       
       ## Nur sinnvoll für Selbstzahler
       
       Auf meine Frage, was denn hinter diesem offensichtlichen Widerspruch
       eigentlich steckt, dass einerseits der Kassenpatient in die
       Direktabrechnung getrieben werden soll, aber andererseits die elektronische
       Gesundheitskarte zum Abrechnen und Speichern der Daten brachial
       durchgesetzt wird, sagt Frau Hartwig (nachdenklich): „Ja, das stimmt … da
       haben sie recht.
       
       Wenn wir immer mehr zu Selbstzahlern werden, dann macht die Karte keinen
       Sinn. Mit ihr sollen ja die Sachleistungen abgerechnet werden. Aber
       vielleicht gibt’s da noch einen ganz anderen Sinn? Es ist doch so, dass da
       Daten drauf sind und raufkommen sollen, bis hin zur Möglichkeit, ganze
       Diagnosen und Erkrankungen zu speichern, die Behandlungen, die Medikamente,
       die Krankenhausaufenthalte, die Organspendebereitschaft, bis hin zu
       besonders sensiblen Daten wie psychische Erkrankungen, Alkohol-oder
       Drogenmissbrauch, sexuelle Störungen und so fort.
       
       Eine ganze elektronische Akte. Und das von 70 Millionen Kassenpatienten.
       Ich denke, bei der Karte geht’s einfach nur um diesen großen, zentralen
       Computer, wo alle Daten gespeichert werden. Was für ein Datenschatz! Der
       ist unbezahlbar. Da geht’s um die ganze Gesundheitswirtschaft, die daran
       Interesse hat, um die Versicherungswirtschaft, die den Zugang zu diesen
       Daten hat – weil irgendwann unterschreiben wir, wenn der Chip in der Karte
       aktiviert wird, dass wir dem Datentransfer zustimmen.
       
       Wenn ich mir das so überlege, dann komme ich zu dem Schluss, diese
       Gesundheitskarte hat nix zu tun mit unserer Gesundheit. Ihr Sinn und Zweck
       ist, uns und unsere Krankheiten als Markt zu erfassen. Das ist ein bisschen
       so wie mit diesen vielen Kundenkarten, im Supermarkt und überall, mit denen
       sie den Leuten Rabatte aufschwatzen, dafür aber das Kaufverhalten genau
       studieren und auswerten.
       
       Was für eine Geschäftsidee ist diese e-Card!!! Und was für Geschäftsideen
       sich aus unseren Daten ableiten lassen, unvorstellbar. Sie ist ein
       superwertvolles Instrument zur Marktanalyse! Für die Gesundheitswirtschaft
       und die Marketingstrategien der Medizinindustrie. Und wir Patienten liefern
       alle unseren relevanten Daten freiwillig und kostenlos! Halten sie sogar
       immer auf dem neuesten Stand. So ist es gedacht. Ja, besser geht es doch
       gar nicht!
       
       ## Palette Windeln aus Berlin
       
       Und zum Schluss erzähle ich Ihnen noch eine Geschichte, die klingt wie eine
       Parabel über den ganzen Wahnsinn des Gesundheitssystems und unserer
       Bürokraten am Schreibtisch. Aber das ist die Realität. Passen sie auf! Es
       gibt hier in Bayern eine Frau, die hat leider drei Kinder mit einem
       Gendefekt, sie sind alle drei behindert und inkontinent.
       
       Inzwischen sind es drei junge Kerle von 17 bis 21 Jahren. Ab 1. August 2008
       gab’s wieder mal eine neue Anweisung der Krankenkassen, die auf das
       Wettbewerbsstärkungsgesetz zurückgeht. Es traf diesmal die
       Inkontinenzpatienten. Apotheken und Sanitätshäuser durften ab sofort an
       Kassenpatienten auf Rezept keine Windeln mehr ausgeben.
       
       Die Kassen machten Ausschreibungen und der billigste Windelanbieter bekam
       den Zuschlag. Die Mutter erfährt im Sanitätshaus, dass sie ihr Rezept für
       die Windeln in Zukunft direkt zu einem Hersteller von ’aufsaugenden
       Inkontinenzartikeln‘, und zwar nach Berlin schicken muss. Das Sanitätshaus
       übrigens hat mich auf diesen Fall aufmerksam gemacht, und ich habe mit der
       Frau Kontakt aufgenommen.
       
       Die Firma war nur per Post, weder telefonisch noch per E-Mail zu erreichen.
       Und ich habe für die Frau mit der Kasse telefoniert und wenigstens
       erreicht, dass sie so lange Windeln bekommt, bis die Lieferung aus Berlin
       kommt. Nach drei Wochen erst kam die an, genau abgezählt für einen Monat.
       
       ## Lieferung bis Bordsteinkante
       
       Die Kasse hat also mit der Firma diesen Vertrag gemacht und die Anzahl der
       Windeln, den Stuhlgang und die Blasenentleerung des Patienten berechnet?
       Also wann wer Urin lassen muss und Stuhlgang hat und wie viel, das
       bestimmen nun die Kasse und der Windelhersteller??!!
       
       Aber damit nicht genug, die Frau rief mich weinend an und fragte, ob ich
       mir die Bescherung mal anschauen möchte. Ich fuhr hin mit meinem Mann. Die
       Bürokraten hatten vergessen zu berechnen, was drei inkontinente Personen in
       vier Wochen an Windeln brauchen und dass dafür eine Spedition eine ganze
       Palette voll anliefern muss.
       
       Die Palette hatte sie einfach auf dem Bürgersteig vor dem Mietshaus
       abgestellt. ’Lieferung bis Bordsteinkante‘. Vor den Augen der ganzen
       Siedlung! Die Familie wohnt im 2. Stock und und hat die Packungen alle
       hochgetragen. Sie haben eine nicht gerade riesige Wohnung. Die ganzen Räume
       waren vollgestopft, überall Windelpakete! Sie konnten da eigentlich gar
       nicht mehr wohnen.
       
       Und als ob das alles nicht schon mehr als genug wäre, es wurde noch
       schlimmer! Bald darauf ruft mich die Frau wieder an und bittet mich, noch
       mal zu kommen, es sei ganz schrecklich mit diesen Windeln. Wir fuhren also
       wieder hin. Es roch unbeschreiblich penetrant.
       
       ## Dick wie zwei Tempotaschentücher
       
       Die ganze Wohnung war nun auch noch mit Folie ausgelegt, die Böden,
       sämtliche Stühle und Sessel, die Couch. Die Windel des Billiganbieters
       bestand nämlich quasi aus einer Plastiktüte, gefüllt mit zwei
       Tempotaschentüchern. So dünn waren die. Es floß alles an der Seite heraus
       und in die Kleidung, auf den Boden.
       
       Jeder kann sich das vielleicht ungefähr vorstellen, was das bedeutet. Die
       Jungen musste die Mutter unentwegt abduschen, ihre Kleidung und Bettwäsche
       waschen, die Böden und Betten reinigen, ständig lüften. Der Versuch, den
       Jungen drei Windeln übereinanderzuziehen, hatte auch nichts gebracht, außer
       dass der bemessenen Vorrat für den Monat nicht reichen würde. Auch führten
       die Billigartikel zum Wundwerden.
       
       Ich habe mir so gewünscht, die Verursacher und Verantwortlichen für diesen
       Wahnsinn dort einzusperren, für mindestens einen Monat. Wir haben dann in
       unserem Bürgertreff beschlossen, dass wir eine Aktion starten. Eine Woche
       lang haben wir gefüllte und undichte Inkontinenz-Windeln in Plastikbeuteln
       gesammelt und sie an die Türen der Kassenfilialen gehängt.
       
       Und wir haben über die Aktion die Medien informiert. Das ist ja dann der
       Moment, wo sie einknicken, wenn das Image Schaden nimmt. Was wir erreicht
       haben, ist, dass die Firma – zumindest von der Barmer – zum Nachrüsten
       verpflichtet worden ist.“
       
       26 Nov 2012
       
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