# taz.de -- Debatte Gesundheitspolitik: 24 Milliarden zu vergeben
       
       > Die gesetzlichen Krankenkassen haben riesige Überschüsse. Sie sollten vor
       > allem in die Verbesserung der Pflege fließen.
       
 (IMG) Bild: Chronisch unterbesetzt: Laut Statistischem Bundesamt wird die Fachkräftelücke in Pflegeberufen bis 2025 auf 200.000 anwachsen
       
       Mitten in der größten Finanzkrise der Europäischen Union beschäftigt die
       deutsche Politik etwas, das man fast als „Luxusproblem“ bezeichnen könnte:
       Wohin mit den inzwischen 24 Milliarden Euro Überschüssen in der
       gesetzlichen Krankenversicherung? Mit ihrer Verwendung tut sich die
       Bundesregierung schwer.
       
       Zu übermächtig sind die Begehrlichkeiten von allen Seiten der sogenannten
       Leistungsanbieter. Die Ärzte sind gerade dabei, eine Erhöhung ihrer
       Honorare auf 1,5 Milliarden Euro durchzuboxen. Die Apotheken dürfen wieder
       mehr für den Verkauf ihrer Arzneimittel abrechnen. Und die Pharmakonzerne
       fordern eine Entlastung von den Rabattverpflichtungen und Festbeträgen beim
       Vertrieb ihrer Medikamente.
       
       Fragt sich allerdings: Wo bleiben die 70 Millionen Versicherten, die 2,4
       Millionen Pflegebedürftigen und die über 1,4 Millionen Menschen in den
       Pflegeberufen? Die Kette von gravierenden Mängeln bei der Pflege in
       Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen oder bei den ambulanten
       Pflegediensten reißt ja nicht ab. Gleichzeitig hält der Personalnotstand in
       den Pflegeberufen an.
       
       Die Gesundheitsreformen der letzten Jahrzehnte sind vor allem zu Lasten von
       Versicherten und Beschäftigten erfolgt: durch Zuzahlungen,
       Leistungsverschlechterungen, Praxisgebühren und insbesondere den ständigen
       Abbau von Personal in der stationären und ambulanten Gesundheitsversorgung.
       
       ## Röslers Meisterwerk
       
       Zum 1. Januar 2011 trat mit einem weiteren Reformgesetz in der
       Krankenversicherung der Einstieg in den Ausstieg aus der solidarischen
       gesetzlichen Krankenversicherung in Kraft. Von dem FDP-Vorsitzenden und
       damaligen Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler als Meisterstück
       gepriesen, wird darin der Beitragssatz auf 15,5 Prozent angehoben und der
       Arbeitgeberanteil auf 7,3 Prozent festgeschrieben.
       
       Die Arbeitnehmer müssen somit nicht nur 0,9 Prozent mehr leisten, sondern
       auch alle weiteren Ausgabensteigerungen in der gesetzlichen
       Krankenversicherung alleine tragen.
       
       Diese werden infolge des demografischen Wandels und der Erhöhung der
       Altersstrukturen sowie der Entwicklung von Medizin und der massiven
       kommerziellen Interessen im Gesundheitswesen mit Sicherheit kommen. Das
       Gesetz wurde 2010 im Eiltempo von der schwarz-gelben Mehrheit im Bundestag
       als angeblich „alternativlos“ durchgepeitscht. Dabei malte Rösler das
       Menetekel eines Defizits in der Krankenversicherung von 11 Milliarden Euro
       an die Wand.
       
       Aus dem prognostizierten Defizit wurde auch mit Hilfe der guten Konjunktur
       und der von den Gewerkschaften durchgesetzten Lohnsteigerungen in kurzer
       Zeit ein mehr als doppelt so hoher Überschuss. Bundesfinanzminister
       Wolfgang Schäuble (CDU) kürzte umgehend den Bundeszuschuss für den
       Gesundheitsfonds für 2013 um 2 Milliarden Euro.
       
       ## Geld gegen Fachkräftemangel
       
       Ginge es nach dem in der Politik immer wieder beschworenen
       Verursacherprinzip, wären die Überschüsse vorrangig für die Versicherten,
       Pflegebedürftigen und Beschäftigten in den Pflegeberufen zu verwenden. Laut
       Statistischem Bundesamt fehlen bereits jetzt zwischen 30.000 und 40.000
       Fachkräfte in Krankenhäusern, Altenpflegeeinrichtungen und ambulanten
       Pflegediensten. Bis 2025 soll diese Fachkräftelücke auf bis zu annähernd
       200.000 anwachsen.
       
       Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Pflegeleistungen geht von
       einem noch weit höheren Personalmangel aus. Dabei trifft der demografisch
       bedingte Alterungsprozess nicht nur die Kranken und Pflegebedürftigen,
       deren Anzahl und Anforderungen an medizinische Versorgung und Pflege
       zunehmen, sondern auch die in diesen Berufen beschäftigten Menschen. Davon
       sind über 80 Prozent Frauen.
       
       Unabhängig davon, welche Zahlen für den Personalnotstand in den
       Pflegeberufen für die Zukunft zugrunde gelegt werden, sind die gefährlichen
       Auswirkungen des Mangels bereits jetzt deutlich spürbar. Für die
       Beschäftigten in der Pflege bedeutet dies eine ständige
       Leistungsverdichtung ihrer körperlich wie geistig besonders belastenden
       Arbeit. Die Folge ist eine außergewöhnlich kurze Zeitdauer ihrer Tätigkeit.
       Sie beträgt zwischen 8 und 15 Jahren.
       
       Dazu kommen hohe Ausfälle wegen Krankheit sowie schwerwiegende
       gesundheitliche Einschränkungen und Erwerbsminderungen. Dringend
       erforderlich ist auch die spürbare Anhebung des Lohnniveaus in den
       Pflegeberufen, das für Fachkräfte im Schnitt zwischen 2.100 und 2.400 Euro
       brutto liegt. Dies steht weder in einem Verhältnis zu den Belastungen noch
       zu den Anforderungen und der Verantwortung für Gesundheit und Leben der
       ihnen anvertrauten Menschen.
       
       ## Arbeitszeiten aufstocken
       
       Auch die im europäischen Vergleich außergewöhnlich niedrige
       Wochenarbeitszeit, deren Konsequenz eine entsprechend geringe Entlohnung
       bis hin zu 400-Euro-Jobs ist, muss angehoben werden. Armut trotz Arbeit und
       Arbeit im Alter sind andernfalls vorprogrammiert. Die seit August 2010
       geltenden Mindestlöhne für einen Teil der Pflegetätigkeiten liegen mit 8,50
       Euro West und 7,50 Euro Ost am untersten Rand. Sie müssen nicht nur
       steigen, auch deren Unterwanderung muss unterbunden werden.
       
       Da die Zuwanderung aus Mittel- und Osteuropa ausbleibt, werden schon wieder
       Stimmen mit der Forderung laut, Pflegekräfte aus Ländern außerhalb der
       Europäischen Union anzuwerben. Alle Beteiligten, also
       Krankenversicherungen, Arbeitgeber, Versicherte und Pflegepersonal, sollten
       zunächst die Ausstattung mit qualifiziertem Personal, dessen Entlohnung und
       die Arbeitsbedingungen in Deutschland verbessern. Damit wären mehr Menschen
       in der Bundesrepublik für diese Tätigkeiten zu gewinnen.
       
       Die Überschüsse in der Krankenversicherung sind ein gutes Startkapital.
       Durch die Wiederherstellung und Stärkung der Solidarität in der
       Krankenversicherung sollte diese Politik in Zukunft weiter fortgeführt
       werden. Das Konzept der Bürgerversicherung bietet hierfür einen geeigneten
       organisatorischen Rahmen – und die notwendige Finanzierung.
       
       1 Nov 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ursula Engelen-Kefer
       
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